HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 974
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 122/23, Beschluss v. 25.05.2023, HRRS 2023 Nr. 974
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 30. November 2022 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrensbeanstandung und sachlich-rechtliche Einwendungen gestützten Revision.
Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen massierte der Angeklagte in zwei Fällen seinen zu den Tatzeitpunkten zwischen elf und zwölf Jahre alten Enkel L., der ihn in seiner Wohnung besuchte, auf Wunsch des Kindes an Rücken und Schultern. Dabei führte der Angeklagte in beiden Fällen seine Hand unter die Hose des Kindes und streichelte, um sich sexuell zu erregen, für eine kürzere Zeit mit der flachen Hand über der Unterhose den Penis des Kindes. In beiden Fällen beendete der Angeklagte den sexuellen Übergriff, nachdem der Geschädigte ihm signalisiert hatte, dass er damit aufhören solle. In einem Fall fand die Tat in Anwesenheit eines Cousins des Geschädigten statt.
2. Während der Schuldspruch keinen rechtlichen Bedenken begegnet, hält der Strafausspruch einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Bei der Bemessung der Einzelstrafen innerhalb des Strafrahmens des § 176 Abs. 1 StGB aF hat das Landgericht zum Nachteil des Angeklagten „die Schwere des Übergriffs, das Streicheln des Penis des Kindes über der Unterhose“ berücksichtigt. Diese tatgerichtliche Wertung ist nicht nachvollziehbar. Zwar ist das Landgericht ? rechtlich unbedenklich ? davon ausgegangen, dass die Tathandlungen die Erheblichkeitsschwelle des § 184h StGB überschreiten (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2022 ? 4 StR 72/22 Rn. 13 mwN). Es erschließt sich jedoch auch unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Urteilsgründe nicht, worauf das Landgericht seine Wertung stützt, dass es sich um schwere Übergriffe handelte. Nach den Feststellungen zu den konkreten Tathandlungen des Angeklagten und zum Handlungsrahmen liegt dies nicht nahe und hätte daher näherer Erörterung bedurft, an der es hier fehlt. Dies gilt auch für die verfahrensgegenständliche zweite Tat, die in Anwesenheit des Cousins stattfand; denn dieser hatte die genaue Berührung nach Überzeugung des Landgerichts möglicherweise nicht beobachtet, weil er mit seinem Handy beschäftigt war. Der nicht näher erläuterte Hinweis auf die „Schwere“ des Übergriffs erscheint bei dieser Sachlage als bloße Leerformel und lässt besorgen, dass das Tatgericht dem Angeklagten strafschärfend zur Last gelegt hat, die Taten überhaupt begangen zu haben.
Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die rechtlich bedenkliche strafschärfende Erwägung die Bemessung der Einzelstrafen, die sich mit einem Jahr und einem Jahr und zwei Monaten am unteren Ende des Strafrahmens orientieren, zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst hat. Der Strafausspruch bedarf daher insgesamt neuer tatrichterlicher Prüfung und Entscheidung. Die Aufhebung der Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich und führt zum Wegfall der Aussetzungsentscheidung, deren Begründung auch für sich genommen rechtlichen Bedenken begegnet.
Das Landgericht ist rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass dem Angeklagten eine günstige Sozialprognose gestellt werden kann (vgl. § 56 Abs. 1 StGB); dabei hat es berücksichtigt, dass der Angeklagte in gefestigten sozialen Verhältnissen lebe, nicht vorbestraft ist und es künftig „zu keinen Übergriffen gegenüber Kindern mehr kommen“ werde. Besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB hat es mit der Begründung verneint, dass sowohl „das hohe Alter als auch fehlende oder nur geringe Vorstrafen […] im Bereich der Alterspädophilie, welche sich gerade dadurch auszeichnet, dass Personen, welche in jungen Jahren nicht wegen Sexualdelikten aufgefallen sind, im hohen Alter eine entsprechende Neigung entwickeln, deliktstypisch“ seien. Unabhängig davon, ob bei dem Angeklagten tatsächlich eine pädophile Neigung bestehe, komme den Umständen seines hohen Alters und seiner bisherigen Straflosigkeit „im Kontext des abzuurteilenden Delikts“ kein solches Gewicht zu, dass sie die Aussetzung der auf ein Jahr und sieben Monaten bemessenen Gesamtfreiheitsstrafe rechtfertigen könnten. Diese Ausführungen sind unklar und lassen besorgen, dass das Landgericht dem strafmildernden Gesichtspunkt eines straffreien Vorlebens im Anwendungsbereich der §§ 176 ff. StGB generell ein geringeres strafmilderndes Gewicht beigemessen hat. Eine solche Differenzierung der Bedeutung eines Strafmilderungsgrundes je nach Deliktstyp ist dem strafrechtlichen Sanktionensystem fremd (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 ? GSSt 2/17, BGHSt 62, 184 Rn. 31).
3. Der Senat hebt auch die Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht eine insgesamt stimmige Entscheidung der Straffrage zu ermöglichen.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 974
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede