HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1132
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 87/22, Urteil v. 15.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1132
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 20. Dezember 2021 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete und mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision hat keinen Erfolg.
Das sachverständig beratene Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte leidet spätestens seit Anfang des Jahres 2021 an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis gemäß ICD-10 F 20.0. Am 3. März 2021 begab er sich zur Mittagessenszeit in die Kantine seiner Unterbringungseinrichtung, um den Geschädigten zu verletzen. Dieser hatte mit dem Angeklagten zwei Tage ein Zimmer geteilt und ihm von seinem Essen abgegeben. Anschließend litt der Angeklagte auf Grund seiner Psychose unter der Wahnvorstellung, der Geschädigte habe das Essen vergiftet und es sei infolgedessen ungenießbar gewesen. Der Angeklagte litt subjektiv unter Bauchschmerzen und nahm sich vor, sich bei dem Geschädigten hierfür zu rächen. Der Angeklagte führte eine handelsübliche Schere mit sich und näherte sich dem gemeinsam mit anderen Bewohnern der Einrichtung am Esstisch sitzenden Geschädigten. Sodann stach er von seitlich-hinten mehrfach gezielt mit der Schere in Richtung des Oberkörpers und des Kopfes des Geschädigten, der sich zu diesem Zeitpunkt keines Angriffs versah, um ihn zu verletzen. Der Geschädigte erlitt multiple Stich- und Schnittverletzungen. Nach dem Vorfall verhielt sich der Angeklagte apathisch und kooperativ und ließ sich widerstandslos festnehmen.
2. Das Landgericht hat die Tat als gefährliche Körperverletzung gewertet. Diese habe der Angeklagte im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) begangen, da seine Steuerungsfähigkeit auf Grund der Psychose aufgehoben gewesen sei. Die Voraussetzungen des § 63 StGB lägen vor, weil mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwarten sei, dass der Angeklagte infolge seines fortdauernden Zustands weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde, die mit der Anlasstat zumindest vergleichbar seien.
Das den Angeklagten nur in Bezug auf die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beschwerende Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung noch stand.
1. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe die - zutreffend als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2, Nr. 5 StGB bewertete - Anlasstat im Zustand der Schuldunfähigkeit (aufgehobener Steuerungsfähigkeit) begangen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn die Urteilsgründe ergeben jedenfalls in ihrem Gesamtzusammenhang, dass der Angeklagte unter dem Einfluss eines akuten Schubs der Erkrankung stand (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 2 StR 173/21, juris Rn. 24), als er auf den Geschädigten einstach. Mit der Feststellung, dass er nach der Tat apathisch war und sich bei seiner Festnahme „quasi in einem katatonischen Zustand“ befand, sowie auf Grund des Umstands, dass es für den in der Anlasstat liegenden exzessiven Gewaltausbruch auch mit Blick auf das wahnhafte Beeinträchtigungserleben offenkundig keinen normalpsychologisch erklärbaren Zusammenhang gab (vgl. BGH, Beschluss vom 23. September 2020 - 6 StR 280/20, juris Rn. 4), ist die ohne nähere Begründung erfolgte Übernahme der Einschätzung des Sachverständigen, der Angeklagte habe im Zustand aufgehobener Steuerungsfähigkeit gehandelt, noch hinreichend belegt.
2. Auch die Ausführungen, mit denen das Landgericht die nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose bejaht hat, halten rechtlicher Nachprüfung stand.
a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die insoweit erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (BGH, Urteil vom 17. Februar 2022 - 4 StR 380/21, NStZ-RR 2022, 173, 174 mwN).
b) Die Strafkammer hat zutreffend berücksichtigt, dass bei dem erst am Anfang einer Rehabilitation stehenden Angeklagten ein Beeinflussungserleben und paranoide Wahnwahrnehmungen fortbestehen, er nicht absprachefähig und sein Verhalten insgesamt nicht vorhersehbar ist. Weiter hat es die Strafkammer in rechtlich nicht zu beanstandender Weise als prognostisch ungünstig angesehen, dass der Angeklagte zwar die orale Medikation einnimmt und an den Therapieangeboten in der (vorläufigen) Unterbringung teilnimmt, er aber keine ausreichende Krankheitseinsicht aufweist und die Einnahme einer Depotmedikation bislang verweigert. Schließlich hat das Landgericht auch zutreffend das Vorliegen stabilisierender Umstände verneint.
c) Auf Grund der schwerwiegenden Anlasstat und der gravierenden, dauerhaften Erkrankung des Angeklagten steht der Annahme einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades im vorliegenden Fall auch nicht entgegen, dass die Kammer keine näheren Feststellungen zur Dauer des Aufenthalts des Angeklagten in Deutschland und zu seinem Vorleben treffen konnte. Zwar kann der Umstand, dass der Täter trotz bestehender Grunderkrankung in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit der künftigen Begehung erheblicher Straftaten im Sinne des § 63 StGB begründen und ist im Urteil daher regelmäßig zu erörtern (BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20, juris Rn. 8). Dies setzt aber voraus, dass insoweit belastbare Feststellungen getroffen werden können. Beurteilungsrelevante Angaben zu seinem Lebensweg bzw. seiner Erkrankung hat der Angeklagte, der noch bis zur Hauptverhandlung unter Aliaspersonalien handelte (falscher Name, falsches Geburtsdatum) und der überdies nicht krankheitseinsichtig ist, weder im Rahmen der Exploration durch den Sachverständigen noch gegenüber dem Landgericht gemacht bzw. machen können.
3. Schließlich begegnen auch die Erwägungen des Landgerichts zu § 67b StGB angesichts des festgestellten Zustands des Angeklagten keinen rechtlichen Bedenken.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1132
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede