HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 199
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 460/22, Beschluss v. 08.11.2023, HRRS 2024 Nr. 199
1. Die Revision des Angeklagten S. gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 9. Juni 2022 wird verworfen.
2. Auf die Revision des Angeklagten T. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es ihn betrifft, im Schuldspruch dahingehend geändert, dass der Angeklagte T. wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen sowie wegen unerlaubten Besitzes einer verbotenen Waffe in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen schuldig ist.
3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten T. wird verworfen.
4. Es wird davon abgesehen, den Beschwerdeführern die Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen (§§ 74, 109 Abs. 2 JGG); jedoch haben sie die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Gegen den Angeklagten T. hat es wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung, mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen und mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs sowie wegen vorsätzlichen unerlaubten Besitzes einer verbotenen Waffe in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen eine Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt. Zudem hat es beiden Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, die Führerscheine eingezogen und jeweils eine Sperre für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von zwei Jahren verhängt. Schließlich hat es hinsichtlich des Angeklagten T. eine Einziehungsentscheidung getroffen. Das Rechtsmittel des Angeklagten T., mit dem er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es - ebenso wie die mit der Verfahrensrüge und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten S. - unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Das Landgericht hat ? soweit hier von Bedeutung ? folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Die miteinander befreundeten Angeklagten kamen am 3. August 2020 gegen 12:40 Uhr überein, auf einem etwa sieben Kilometer langen, kurvenreichen, in beiden Fahrtrichtungen einspurig verlaufenden Straßenabschnitt mit angrenzendem hohen Baumbestand und einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen durchzuführen. Dabei strebten sie an, „das Fahr- und Beschleunigungsverhalten ihrer Fahrzeuge zu testen und unter Erzielung möglichst hoher Geschwindigkeiten in einen Wettbewerb als Kontrahenten hinsichtlich des möglichst schnellen Befahrens“ dieser Strecke einzutreten.
Im Verlauf des verabredeten Rennens nutzten die Angeklagten einen geradlinig verlaufenden, etwa 230 Meter langen, in eine Linkskurve einmündenden Streckenabschnitt zur weiteren Beschleunigung ihrer Fahrzeuge. Hierbei näherte sich der mit stark überhöhter Geschwindigkeit mit seinem PKW vorausfahrende Angeklagte T. - dem der Angeklagte S. in seinem Kraftfahrzeug dicht folgte - dem durch die Zeugin G. mit einer Geschwindigkeit von ca. 70 km/h in gleicher Fahrtrichtung geführten PKW, wobei beide Angeklagte den PKW der Zeugin, „der in Relation zu den von ihnen gefahrenen Geschwindigkeiten deutlich langsamer fuhr und somit ein zu überwindendes Hindernis in der Rennsituation darstellte“, wahrnahmen.
Gleichwohl scherte der Angeklagte T. in dieser Situation zur Durchführung eines riskanten Überholmanövers hinter dem PKW der Zeugin G. auf die Gegenfahrbahn aus, um hierdurch den ihn verfolgenden Angeklagten S. zu distanzieren und so das Rennen für sich zu entscheiden. Als er sich im Rahmen dieses Überholvorgangs mit einer Geschwindigkeit von mindestens 111 km/h etwa auf Höhe des PKWs der Zeugin G. befand, sah er das von dem Nebenkläger Sc. gesteuerte Fahrzeug, in dem außerdem die Nebenklägerin L. sowie deren Tochter La. saßen, das aus dem Kurvenbereich ausfahrend unter Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h frontal auf ihn zufuhr.
„Dem Angeklagten T. gelang es durch ein waghalsiges Fahrmanöver, das die Zeugin G. so wahrnahm, als wäre der Angeklagte wie ein „Go-Kart-Fahrer“ wieder vor ihr eingeschert (…), eine Kollision mit den PKW des Nebenklägers Sc. und der Zeugin G. zu vermeiden. Dass es weder zu einer Kollision mit dem PKW des Nebenklägers Sc., noch mit dem PKW der Zeugin G. kam, war hierbei neben dem Zufall der dem Angeklagten T. zum Wiedereinscheren noch verbleibenden, wenn auch äußerst kurzen Zeitspanne dem Umstand geschuldet, dass weder der Nebenkläger Sc. noch die Zeugin G. während des Überholmanövers des Angeklagten schreckbedingte reaktive Fahrfehler begingen, die eine solche, vorliegend nur beinahe erfolgte Kollision begünstigt hätten.“ Der Angeklagte S., dem es darum ging, den Anschluss an den Mitangeklagten nicht zu verlieren, verringerte seine Geschwindigkeit trotz der auch von ihm erkannten Verkehrssituation gleichfalls nicht und fuhr mit einer Geschwindigkeit von mindestens 111 km/h hinter dem Fahrzeug des Angeklagten T. her. Er näherte sich nach dem Ausscheren des Mitangeklagten zum Überholvorgang dem Fahrzeug der Zeugin G. mit hohem Geschwindigkeitsüberschuss an.
Dabei war der auf der Gegenfahrbahn herannahende, von dem Nebenkläger Sc. geführte PKW für ihn zunächst aufgrund des kurvenförmigen Streckenverlaufs und sodann aufgrund des Fahrzeugs des Mitangeklagten nicht sichtbar. Als dieses Fahrzeug schließlich in den Sichtbereich des Angeklagten S. kam, lenkte er sein Fahrzeug spontan, um einer drohenden Kollision mit dem Fahrzeug der Zeugin G. bzw. mit der rechtsseitigen Leitplanke zu entgehen, auf die Gegenfahrbahn. Dort kam es ? circa zwei Sekunden nach dem Wiedereinscheren des Angeklagten T. vor dem PKW der Zeugin G. ? um 12:45 Uhr zu einer frontalen Kollision des PKW des Angeklagten S. mit dem von dem Nebenkläger Sc. geführten PKW auf dessen Fahrbahn, in deren Folge der Nebenkläger und die Nebenklägerin L. erheblich verletzt wurden und die Tochter der Nebenklägerin L. aufgrund der erlittenen schweren Verletzungen verstarb.
Dass der Angeklagte T. sicher davon ausging, der Mitangeklagte S. werde hinter ihm ebenfalls noch das Fahrzeug der Zeugin G. vor dem Kurvenbereich überholen, vermochte die Kammer nicht festzustellen. Der Angeklagte T. hätte jedoch bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt erkennen können und müssen, dass der Mitangeklagte ebenfalls ausscheren würde, und dies durch ein Abstandnehmen von dem von ihm als pflichtwidrig erkannten Kraftfahrzeugrennen im Allgemeinen und dem darin eingebetteten eigenen Überholmanöver im Besonderen vermeiden können.
Die Strafkammer hat den festgestellten Sachverhalt bezüglich des Angeklagten T. u.a. als verbotenes Kraftfahrzeugrennen gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, Abs. 4 StGB sowie als vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB gewürdigt. Die für eine Verurteilung gemäß § 315c Abs. 1 StGB erforderliche Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert hat sie hinsichtlich des Angeklagten T. in dem „Beinahe-Unfall“ mit dem Fahrzeug des Nebenklägers Sc. sowie mit dem PKW der Zeugin G. gesehen.
1. Die Revision des Angeklagten S. bleibt ohne Erfolg. Die Verfahrensbeanstandung versagt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts. Auch die aufgrund der erhobenen Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten S. ergeben.
2. Die Revision des Angeklagten T. führt zum Wegfall des Schuldspruchs wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB. Die Urteilsgründe ergeben nicht, dass durch den von dem Angeklagten eingeleiteten falschen Überholvorgang eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden ist. Im Übrigen hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.
a) Die Feststellungen tragen die Annahme des objektiven Tatbestandes der Gefährdung des Straßenverkehrs nicht. § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“. Für die Annahme einer konkreten Gefahr genügt es dabei für sich genommen nicht, dass sich Menschen oder Sachen in enger räumlicher Nähe zum Täterfahrzeug befunden haben (st. Rspr.; vgl. zum Ganzen nur BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 - 4 StR 155/21, juris Rn. 5 mwN).
b) Hieran gemessen fehlt es an Feststellungen, die einen „Beinahe-Unfall“ des Fahrzeugs des Angeklagten T. mit den Fahrzeugen des Nebenklägers Sc. bzw. dem der Zeugin G. in diesem Sinne belegen. Konkrete Abstände zwischen den Fahrzeugen sind nicht dargelegt. Zudem ist die Durchführung von Bremsvorgängen insoweit weder für den Nebenkläger Sc. noch für die Zeugin G. festgestellt. Eine den obigen Anforderungen entsprechende kritische Verkehrssituation, in der eine konkrete Gefahr für die Zeugin G., für die Insassen des Fahrzeugs des Nebenklägers oder für deren Kraftfahrzeuge als bedeutende Sachwerte durch die Tathandlung des falschen Überholens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB des Angeklagten T. verursacht wurde, kann den Urteilsfeststellungen nicht entnommen werden.
c) Der Senat schließt aus, dass in einem zweiten Rechtsgang noch entsprechende Feststellungen getroffen werden können, und lässt die tateinheitlich erfolgte Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs hinsichtlich des Angeklagten T. daher entfallen.
d) Dagegen verbleibt es bei der insoweit rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, Abs. 4 StGB in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen (§§ 222, 229 StGB).
Die Feststellungen ergeben, dass der Angeklagte T. als ein an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen teilnehmender Kraftfahrzeugführer (§ 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB) Leib oder Leben eines anderen Menschen und fremde Sachen von bedeutendem Wert objektiv gefährdete (§ 315d Abs. 2 StGB). Der Angeklagte T. hat die in dem Unfallgeschehen mit dem Angeklagten S. verwirklichte konkrete Gefährdung von Leib und Leben der Insassen des entgegenkommenden Fahrzeugs des Nebenklägers Sc. durch das nahe Auffahren auf das Fahrzeug der Zeugin G. und durch den sich anschließenden eigenen Überholvorgang im Rahmen seiner Rennteilnahme durch eigenes Fahrverhalten eigenhändig mitverursacht (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2021 - 4 StR 511/20, juris Rn. 27 mwN). Der darüber hinaus erforderliche innere Zusammenhang zwischen der herbeigeführten Gefahr und den mit der Tathandlung nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB typischerweise verbundenen Risiken ist ebenfalls gegeben (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2021 - 4 StR 511/20, juris Rn. 31 mwN). Denn der Angeklagte S., dem es darum ging, den Anschluss an das vorausfahrende Fahrzeug des Angeklagten T. nicht zu verlieren, hat den Überholvorgang des Fahrzeugs der Zeugin G. nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen gerade mit Blick auf den ausgetragenen Wettbewerb eingeleitet. Die konkrete Gefährdung von Leib oder Leben, die sich in der Unfallsituation mit dem Nebenkläger Sc. verwirklichte, resultierte damit aus dem typischen Wettbewerbscharakter des verbotenen Kraftfahrzeugrennens. Die Wertung des Landgerichts, dass der Angeklagte T. bezogen auf den konkreten Gefährdungserfolg fahrlässig handelte (§ 315d Abs. 4 StGB), weist ebenfalls keinen Rechtsfehler auf (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2021 - 4 StR 511/20, juris Rn. 34).
Gleiches gilt für die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB und fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen gemäß § 229 StGB, die an die bloße Rennteilnahme anknüpft (vgl. BGH, aaO Rn. 35 ff.).
e) Trotz der Änderung des Schuldspruchs kann die verhängte Jugendstrafe bestehen bleiben. Angesichts der in die Strafzumessungsbegründung der Strafkammer eingestellten gewichtigen Umstände kann der Senat ausschließen, dass der rechtsfehlerhafte Schuldspruch nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB sich bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.
f) Die gegen den Angeklagten T. angeordnete Maßregel nach § 69 Abs. 1 StGB und die nach § 69a Abs. 1 StGB angeordnete Sperrfrist von zwei Jahren haben ebenfalls Bestand. Das Landgericht hat die Entziehung der Fahrerlaubnis außer auf § 315c StGB auch auf die weitere Katalogtat (§ 69 Abs. 2 StGB) des verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d StGB gestützt. In Anbetracht der weiteren von der Strafkammer angeführten Gesichtspunkte liegt es fern, dass ohne eine Verurteilung auch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs von einer Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB abgesehen oder eine kürzere Sperrfrist angeordnet worden wäre.
g) Die weiter gehende Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten T. ergeben.
3. Unter den festgestellten tat- und täterbezogenen Umständen ist es angezeigt, die heranwachsenden Angeklagten mit den den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu belasten (§ 473 Abs. 1 Satz 2 StPO, §§ 74, 109 Abs. 2 JGG).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 199
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede