HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1151
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 ARs 2/21, Beschluss v. 18.08.2022, HRRS 2022 Nr. 1151
Die Sache wird an das Kammergericht Berlin zurückgegeben.
Mit Europäischer Ermittlungsanordnung vom 25. April 2019 hat das Büro für die Beseitigung und Bekämpfung von Korruption der Republik Lettland um Rechtshilfe in dem wegen Verdachts des Betrugs und weiterer Delikte geführten Ermittlungsverfahren Nr. ersucht; die lettischen Strafverfolgungsbehörden begehrten unter anderem die Durchsuchung der Räume der „Firma F. GmbH“ (jetzt firmierend als M. GmbH) mit Sitz in Berlin und die Sicherstellung beweiserheblicher Unterlagen. Nach dem Inhalt der Europäischen Ermittlungsanordnung sind Beschuldigte des zugrunde liegenden Ermittlungsverfahrens Amtsträger des R. ; M. bzw. die von ihm geführte M. GmbH ist darin nicht als verdächtige oder beschuldigte Person, sondern als von den begehrten Ermittlungsmaßnahmen betroffener Dritter angeführt.
Mit Verfügung vom 7. Mai 2019 hat die Staatsanwaltschaft Berlin die Rechtshilfe bewilligt und beim Amtsgericht in dem „gegen Unbekannt“ geführten ausländischen Ermittlungsverfahren unter anderem die Durchsuchung der Geschäfts- und Nebenräume der M. GmbH beantragt, die durch Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 7. Mai 2019 angeordnet und am 13. Mai 2019 vollzogen wurde. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen M. GmbH vom 16. Mai 2019 wurde verworfen.
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2019 beantragte Rechtsanwältin G. namens und in Vollmacht der M. GmbH, vertreten durch den Geschäftsführer Dr. M., die Bewilligung der Rechtshilfe im Hinblick auf die Europäische Ermittlungsanordnung in dem lettischen Strafverfahren aufzuheben, die Sache zur Entscheidung an die Staatsanwaltschaft zurückzugeben sowie festzustellen, dass die Herausgabe der am 13. Mai 2019 in den Räumen der M. GmbH sichergestellten Gegenstände sowie der am selben Tag in den Räumen des Steuerberaters W. sichergestellten Gegenstände an den Anordnungsstaat unzulässig ist.
Nach Einholung einer ergänzenden Erklärung des ersuchenden Staats beabsichtigt das Kammergericht, den auf § 61 Abs. 1 Satz 2 IRG gestützten Antrag der M. GmbH als zulässig zu behandeln und in eine Sachprüfung einzutreten. Das Kammergericht ist der Überzeugung, dass sich das Ermittlungsverfahren der lettischen Justizbehörden, in dem die Europäische Ermittlungsanordnung ergangen ist, (auch) gegen den Geschäftsführer der M. GmbH, Dr. M., persönlich richtet und die Antragstellerin daher nicht „Dritte“, sondern Betroffene des ausländischen Ermittlungsverfahrens ist. Entgegen einer in der Rechtsprechung vertretenen Rechtsauffassung will das Kammergericht § 61 Abs. 1 Satz 2 IRG dahin auslegen, dass auch der Betroffene des ausländischen Ermittlungsverfahrens antragsberechtigt ist. Hieran sieht es sich insbesondere durch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Hamm, Stuttgart, Nürnberg, Frankfurt und Köln gehindert.
Das Kammergericht Berlin hat die Sache dem Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 21. September 2020 zur Entscheidung der folgenden Rechtsfrage vorgelegt:
„Ist bei einem auf die Herausgabe von Gegenständen gerichteten Rechtshilfeersuchen der Beschuldigte des ausländischen Verfahrens, für das die Herausgabe begehrt wird, gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 (2. Alt.) IRG antragsbefugt?“ Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Sache an das Kammergericht zurückzugeben.
Die Sache ist an das Kammergericht zurückzugeben, da die Voraussetzungen der §§ 91a Abs. 4 Nr. 1, 61 Abs. 1 Satz 4, 42 Abs. 1 IRG nicht gegeben sind.
Eine Vorlegung nach § 42 Abs. 1 IRG ist nur zulässig, wenn die Rechtsfrage für das anhängige Rechtshilfeverfahren entscheidungserheblich ist (BGH, Beschluss vom 13. Januar 1987 - 4 ARs 22/86, BGHSt 34, 256, 259; Schierholt in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 42 IRG Rn. 6). Dies ist in der Regel zu verneinen, wenn es auf die Beantwortung der Rechtsfrage nicht ankommt, weil sie sich in dem anhängigen Rechtshilfeverfahren nicht stellt. So liegt der Fall hier.
Die Rechtsfrage, ob antragsberechtigter Dritter im Sinne des § 61 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. IRG (auch) der Beschuldigte des ausländischen Strafverfahrens ist, ist nicht entscheidungserheblich. Beschuldigter des ausländischen Strafverfahrens in diesem Sinne ist nach einhelliger Auffassung, die auch das vorlegende Gericht nicht in Frage stellt, allein derjenige, gegen den sich das ausländische Ermittlungsverfahren richtet (vgl. nur OLG Köln, Beschluss vom 13. Juli 2017 ? 6 AuslS 45/17 ? 35, 6 Ausl S 45/17 ? 35, Rn. 21). Das lettische Strafverfahren richtet sich ? entgegen der Auffassung des Kammergerichts ? weder gegen Dr. M. persönlich noch gegen die M. GmbH.
1. Das von den lettischen Justizbehörden geführte Ermittlungsverfahren Nr., in dem die Europäische Ermittlungsanordnung (künftig: EEA) erlassen worden ist, richtet sich ausschließlich gegen Amtsträger des R. (R.). Diese stehen in Verdacht, sich wegen „Betrugs in großem Umfang, rechtswidriger Verschwendung einer fremden Sache in großem Umfang und Fälschung von Dokumenten sowie Verwendung von gefälschten Dokumenten“ nach Artikel 177 Abs. 3, Artikel 179 Abs. 3 und Artikel 275 Abs. 2 des lettischen Strafgesetzbuchs strafbar gemacht zu haben.
a) Nach dem eindeutigen und maßgeblichen Inhalt der EEA vom 25. April 2019 wird das Strafverfahren im Anordnungsstaat gegen namentlich im einzelnen bezeichnete Amtsträger des R. geführt (vgl. Abschnitt G 1. der EEA). Demgegenüber werden M. bzw. die von ihm vertretene F. GmbH (nunmehr: M. GmbH) vom Anordnungsstaat ausdrücklich als „Dritte“ (vgl. Abschnitt E 1. ii) der EEA) bezeichnet.
b) Dies gilt auch unter Berücksichtigung der unter Abschnitt G der EEA enthaltenen weiteren Darstellung der bisher gewonnenen Erkenntnisse. Darin wird ausgeführt, dass „zwischen R. und den von M. vertretenen Unternehmen mehrere Verträge abgeschlossen und die Leistungen gemäß Verträgen bezahlt worden“ seien; der Inhalt der Verträge sei „sehr allgemein“ gehalten worden. Diese Zusammenfassung der aktuellen Erkenntnisse der lettischen Ermittlungsbehörden dient ersichtlich der Beschreibung der Verdachtslage als Grundlage der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermittlungsmaßnahmen. Hieraus kann nicht geschlossen werden, dass die lettischen Behörden gegen den deutschen Staatsangehörigen und im Inland wohnhaften M. förmliche Ermittlungen aufgenommen haben und ihn als Beschuldigten führen.
c) Anderes ergibt sich auch nicht aus der ergänzenden Stellungnahme der lettischen Justizbehörden vom 11. Februar 2020. Soweit das Kammergericht auf der Grundlage dieser ergänzenden Stellungnahme des Anordnungsstaats zu der Überzeugung gelangt ist, dass M. „Betroffener“ des ausländischen Ermittlungsverfahrens sei, weil ihm nach Auskunft der lettischen Justizbehörden zur Last liege, „möglicherweise“ im Zusammenwirken mit den Mitarbeitern des R. widerrechtlich Finanzmittel des Büros „erschwindelt und vergeudet“ zu haben, und das Verfahren daher förmlich auch gegen ihn als Beschuldigter geführt werde, vermag der Senat diesen Schluss nicht nachzuvollziehen.
aa) Das Kammergericht hat auf der Grundlage der Sachverhaltsschilderung des Rechtshilfeersuchens unter Abschnitt G der EEA, das nach dortigem Verständnis darauf hindeute, dass das lettische Ermittlungsverfahren auch gegen Dr. M. als Organ der von ihm geführten Gesellschaft geführt werde, sowie dem hiermit nicht ohne Weiteres zu vereinbarenden Inhalt der nationalen Beschlüsse des zuständigen Ermittlungsrichters, wonach als Tatverdächtige ausschließlich Amtsträger des R. bezeichnet würden, eine ergänzende Auskunft des ersuchenden Staates erbeten. Das lettische Amt für Korruptionsprävention und -bekämpfung hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11. Februar 2020 auf die Frage, „gegen welche Personen genau das Ermittlungsverfahren der lettischen Behörden gerichtet sei“, bestätigt, dass das Strafverfahren Nr. gegen „die Amtspersonen“ der von der Stadtverwaltung R. finanzierten Stiftung „R.“ (R.) gerichtet ist. Weiter ist in der ergänzenden Mitteilung ausgeführt:
„Aus den empfangenen Unterlagen geht hervor, dass im Zeitraum von Anfang 2017 bis Ende 2018 in R. […] die Amtspersonen der Stiftung R. : die Vorstandsvorsitzende […], das Vorstandsmitglied T. und die Angestellte P. […], sowie der Gründer/Geschäftsführer der Marketingfirma F. M. […], möglicherweise widerrechtlich Finanzmittel der Stiftung in großem Umfang erschwindelt und vergeudet haben, indem sie unter anderem fiktive Kooperationsverträge abgeschlossen, private Reisen bezahlten, gefälschte Dokumente verwendeten und fiktive Mitarbeiter einstellten. Die im Rahmen des Strafverfahrens ermittelten Informationen sind eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass M. und die ihm gehörenden/durch ihn vertretenen Unternehmen […] mit den zu untersuchenden Straftaten in Verbindung stehen“.
bb) Soweit das Kammergericht auf der Grundlage dieser Mitteilung zu der Auffassung gelangt ist, dass das lettische Ermittlungsverfahren nachträglich auf M. als Beschuldigten erstreckt worden sei, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Denn die Mitteilung der lettischen Justizbehörden, dass nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass M. „mit den zu untersuchenden Straftaten in Verbindung stehe“, lässt nicht darauf schließen, dass die lettischen Justizbehörden ihre Ermittlungen förmlich auf ihn ausgedehnt hätten. Denn weder dem Inhalt der auf dem Durchsuchungsbeschluss der Ermittlungsrichterin Mi. vom 24. April 2019 beruhenden EEA noch der klarstellenden ergänzenden Erklärung der lettischen Behörden lassen sich zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme entnehmen, M. werde von den lettischen Justizbehörden nunmehr als Beschuldigter geführt. Die ergänzende Mitteilung der lettischen Behörden beschreibt vor dem Hintergrund des Inhalts der EEA eine konkrete Verdachtslage und dient ersichtlich dem Ziel, dem ersuchten Staat die Prüfung zu ermöglichen, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung der Herausgaberechtshilfe vorliegen. Auf den vom Kammergericht hervorgehobenen Umstand, dass die lettische Strafprozessordnung die Möglichkeit einer Ausweitung der Ermittlungen auf weitere Verdächtige vorsehe, kommt es daher nicht an.
cc) Bei dieser Sachlage ist der Senat an die abweichende Beurteilung durch das Kammergericht nicht gebunden (vgl. [zu § 121 Abs. 2 GVG] Franke in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 121 GVG Rn. 75 ff. mwN).
dd) Es kommt daher nicht mehr entscheidend darauf an, dass der Antrag gemäß § 61 IRG nicht von M. persönlich, sondern in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der M. GmbH für diese gestellt worden ist. Es ist unzweifelhaft, dass die lettischen Verfolgungsbehörden in Ermangelung eines Unternehmensstrafrechts nicht gegen die M. GmbH ermitteln und diese selbst daher Dritte im Sinne des § 66 Abs. 2 Nr. 3 IRG und deshalb ? ungeachtet des Meinungsstreits ? nach § 61 Abs. 1 Satz 2 IRG als von der Herausgaberechtshilfe in ihren Rechten betroffene Dritte antragsberechtigt ist.
Das vorlegende Gericht könnte im Übrigen die Rechtsfrage, ob eine juristische Person, gegen deren Organ (Geschäftsführer) im ersuchenden Staat ein Strafverfahren geführt wird, gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. IRG antragsbefugt ist, ? wie beabsichtigt ? bejahen, ohne dabei von entgegenstehender Rechtsprechung abzuweichen. Einer solchen Rechtsauffassung stünde ? soweit ersichtlich ? insbesondere weder der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 30. März 1995 ? (2) 4 Ausl 352/93, NStZ 1995, 455 noch Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 20. Oktober 2010 ? 6 AuslS 101/09 Rn. 21; Beschluss vom 27. Juli 2004 ? Ausl 92/04 [bloßer Hinweisbeschluss]; Beschluss vom 13. Juli 2017 ? 6 AuslS 45/17?35) tragend entgegen.
2. Die Sache ist daher antragsgemäß an das Kammergericht Berlin zurückzugeben.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1151
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede