HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 247
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 405/20, Beschluss v. 21.01.2021, HRRS 2021 Nr. 247
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 2. April 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen „bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwölf Fällen, vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 154 Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und ausgesprochen, dass von der Gesamtfreiheitstrafe zwei Jahre und drei Monate vorweg zu vollziehen sind. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Die Nachprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch sowie zur Einziehungsentscheidung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Jedoch hält der Maßregelausspruch rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat das Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 64 StGB nicht tragfähig begründet.
a) Für die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. August 2019 - 4 StR 330/19, Rn. 8; vom 18. Juli 2019 - 4 StR 80/19, insoweit nicht abgedruckt in NStZ-RR 2019, 275 und vom 17. Mai 2018 - 3 StR 166/18, Rn. 12; jeweils mwN). Die Annahme einer sozialen Gefährdung oder sozialen Gefährlichkeit kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Betroffene Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden, sondern auch bei Beschaffungskriminalität (BGH, Beschluss vom 27. September 2018 - 4 StR 276/18, StV 2019, 261, 262).
b) Gemessen hieran halten die Ausführungen zum Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 64 Satz 1 StGB rechtlicher Überprüfung nicht stand, denn sie sind lückenhaft.
Das Landgericht hat sich die Ausführungen des Sachverständigen zum Vorliegen eines Hanges vollumfänglich zu eigen gemacht. Dessen wertende Ausführungen hat es in den Urteilsgründen dahin wiedergegeben, dass auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten „vom Vorliegen eines zumindest schädlichen Gebrauchs multipler Substanzen“ auszugehen sei und daher ein Hang im Sinne des § 64 StGB vorliege; einschränkend hat der Sachverständige jedoch darauf hingewiesen, dass die Angaben des Angeklagten zu seinem Konsum nicht objektivierbar seien und deshalb „nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen“ sei, dass der Angeklagte „als Ausdruck seiner Lebensführung“ nur „einen sporadischen, respektive 'Lifestyle-Konsum' unterhalb des Schweregrads eines Hangs“ betrieben habe. Diesen Ausführungen hat sich das Landgericht ohne eigene Würdigung angeschlossen. An anderer Stelle des Urteils - im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung - hat es jedoch nicht nur das Vorliegen einer „multiplen Substanzabhängigkeit“ ausgeschlossen, sondern in diesem Zusammenhang ausdrücklich festgehalten, dass es die Angaben des Angeklagten zu seinem langjährigen multiplen Substanzkonsum nicht für glaubhaft halte. Der Senat vermag den hierin liegenden Widerspruch nicht aufzulösen und dem Urteil auch in seinem Gesamtzusammenhang nicht zu entnehmen, aufgrund welcher beweiswürdigenden Erwägungen das Landgericht gleichwohl zu der Annahme eines jedenfalls schädlichen Gebrauchs multipler Substanzen als Grundlage für den angenommenen Hang gelangt ist, und die vom Sachverständigen für den Fall der Widerlegung seiner Angaben in den Raum gestellte Möglichkeit ausgeschlossen hat, dass der mit Kokain in größerem Stil handelnde Angeklagte nur gelegentlich selbst Rauschgift konsumierte.
Da bereits ein Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB nicht tragfähig belegt ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob die knappen Darlegungen zu den Erfolgsaussichten einer Maßregelbehandlung im Sinne des § 64 Satz 2 StGB, die sich mit der einem Behandlungserfolg möglicherweise entgegenstehenden Persönlichkeitsproblematik des Angeklagten nicht auseinandersetzen, rechtlicher Überprüfung standhalten (zu der insoweit erforderlichen Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen prognoserelevanten Umstände vgl. BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2020 - 3 StR 325/20, Rn. 4 mwN).
c) Da es nicht ausgeschlossen erscheint, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt festgestellt und tragfähig belegt werden können, bedarf die Sache zum Maßregelausspruch neuer Verhandlung und Entscheidung.
2. Die Aufhebung der Anordnung nach § 64 StGB führt zur Aufhebung der Entscheidung über den Vorwegvollzug eines Teils der Strafe. Sie lässt den Strafausspruch unberührt. Der Senat kann ausschließen, dass das Landgericht ohne die Maßregelanordnung auf niedrigere Einzelfreiheitsstrafen und eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.
3. Die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe gibt Anlass zu folgendem Hinweis:
Es ist regelmäßig verfehlt und kann den Bestand eines Urteils gefährden, wenn die Ausführungen des zu den Akten genommenen vorbereitenden schriftlichen Gutachtens eines Sachverständigen in großem Umfang und als wörtliches Zitat in die Urteilsurkunde aufgenommen werden.
Zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO wird nicht das vorbereitende schriftliche Gutachten des Sachverständigen, sondern seine mündlichen Ausführungen in der Hauptverhandlung (vgl. BGH, Urteil vom 19. Februar 2014 - 5 StR 626/13, NStZ 2014, 476, 477; Beschluss vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98, 99); sie erfolgen regelmäßig unter Einbeziehung des gesamten mündlichen Verfahrensstoffes der Hauptverhandlung und daher auf einer in der Regel umfassenderen Erkenntnisgrundlage als das vorbereitende vorläufige schriftliche Gutachten. Die gewählte Darstellungsweise kann daher Zweifel daran wecken, ob das Landgericht die Grenzen des § 261 StPO beachtet hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 247
Externe Fundstellen: StV 2021, 351
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner