hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1232

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 216/20, Beschluss v. 09.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1232


BGH 4 StR 216/20 - Beschluss vom 9. September 2020 (LG Essen)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Beurteilung der Gesamtstrafenlage: Zeitpunkt des Urteils maßgeblich; Feststellung des Tatzeitraums als doppelrelevante Tatsache).

§ 55 StGB; § 353 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Prüfung, ob eine Gesamtstrafenlage im Sinne des § 55 StGB vorliegt, ist bei nicht exakt feststehender Tatzeit im Zweifel zugunsten des Angeklagten von einer Tatbegehung vor der früheren Verurteilung auszugehen, wenn sich die auf diese Weise ermöglichte Bildung einer Gesamtstrafe im konkreten Fall tatsächlich für den Angeklagten günstiger auswirkt. Für die Beurteilung der Gesamtstrafenlage ist auf den Zeitpunkt des Urteils abzustellen.

2. Auch wenn die rechtsfehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes sich nur bei der Bildung der nachträglichen Gesamtstrafe gemäß § 55 StGB zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt, kann dennoch das Urteil insgesamt aufzuheben sein, weil es sich bei der Feststellung des Tatzeitraums um eine doppelrelevante Tatsache handelt, die nicht nur für den Strafausspruch, sondern auch für den Schuldspruch von Bedeutung ist.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 27. Januar 2020 aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen - mit Ausnahme der Feststellungen zum Tatzeitraum, die aufgehoben werden - aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem „Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 21.09.2016“ (gemeint ist: Strafbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 21.09.2016) zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Das Urteil hat keinen Bestand, weil die Feststellungen zum Tatzeitraum auf einer rechtsfehlerhaften Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo beruhen.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts ereigneten sich die beiden ausgeurteilten Missbrauchstaten zum Nachteil der damals sieben- bzw. achtjährigen Geschädigten in der Zeit zwischen Oktober 2015 und „jedenfalls vor dem 20. September 2016“. Von einem konkreten Tatzeitpunkt hat sich das Landgericht nicht zu überzeugen vermocht. Es hat allerdings auch eine Tatbegehung in der Zeit nach dem 20. September 2016 für möglich erachtet, den Tatzeitraum jedoch unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes mit folgender Begründung auf die Zeit vor dem 20. September 2016 begrenzt:

Mit Blick auf die Verurteilung des Angeklagten durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 21. September 2016 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt war, sei es unter den gegebenen Umständen für den Angeklagten am günstigsten, wenn er beide Taten vor Erlass dieses Strafbefehls begangen habe, somit bis zum 20. September 2016, da in diesem Fall die Bildung einer nachträglichen Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 55 StGB aus den Strafen von einem Jahr und einem Jahr und acht Monaten Freiheitsstrafe für die ausgeurteilten Taten und der Strafe aus dem Strafbefehl vom 21. September 2016 ermöglicht werde. Demgegenüber sei die Annahme der Begehung beider Taten nach Erlass des Strafbefehls für ihn nachteiliger, da selbst bei Verhängung einer noch bewährungsfähigen Gesamtfreiheitsstrafe eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht in Betracht käme, indes eine Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl vom 21. September 2016 in diesem Fall nicht möglich wäre. Auch bei der Annahme, dass eine Tat vor und eine Tat nach Erlass des Strafbefehls begangen wurde, sei der Angeklagte schlechtergestellt, da bei einer gebrochenen Gesamtstrafe zwei Strafen festzusetzen gewesen wären, wobei das Landgericht die mit der Strafe aus dem Strafbefehl zu bildende Gesamtfreiheitsstrafe höher als zwei Jahre bemessen hätte, aber selbst bei Verhängung zweier bewährungsfähiger Strafen jedenfalls eine Strafaussetzung zur Bewährung versagt hätte.

b) Diese Erwägungen sind rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht die Anwendung des Zweifelssatzes in der vorliegenden Fallkonstellation verkannt hat und sich die vorgenommene Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe mit der Strafe aus dem Strafbefehl vom 21. September 2016 deshalb zu Lasten des Angeklagten auswirkt.

Zwar ist das Landgericht im Grundsatz zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Prüfung, ob eine Gesamtstrafenlage im Sinne des § 55 StGB vorliegt, bei nicht exakt feststehender Tatzeit im Zweifel zugunsten des Angeklagten von einer Tatbegehung vor der früheren Verurteilung auszugehen ist, wenn sich die auf diese Weise ermöglichte Bildung einer Gesamtstrafe im konkreten Fall tatsächlich für den Angeklagten günstiger auswirkt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Dezember 2006 - 4 StR 484/06, Rn. 4; vom 3. Juli 2000 - 5 StR 230/00; BGH, Beschluss vom 14. August 2012 - 3 StR 274/12, Rn. 8; Sander, NStZ 2016, 584, 587). Das Landgericht hat aber nicht bedacht, dass für die Beurteilung der Gesamtstrafenlage auf den Zeitpunkt des Urteils abzustellen ist. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die Strafe aus dem gemäß § 55 StGB einbezogenen Strafbefehl vom 21. September 2016 noch nicht widerrufen. Die Zugrundelegung einer Tatbegehung vor Erlass des Strafbefehls wirkt sich daher nachteilig für den Angeklagten aus, da die erst hierdurch geschaffene Möglichkeit der Einbeziehung der zur Bewährung ausgesetzten Strafe in die nachträgliche, nicht mehr bewährungsfähige Gesamtfreiheitsstrafe zum Wegfall der Bewährung führt.

Das Landgericht durfte einen späteren Widerruf der im Strafbefehl gewährten Bewährung wegen der neuerlichen Verurteilung im hier gegenständlichen Verfahren (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) auch nicht unterstellen. Für die Entscheidung über den Widerruf war das Landgericht selbst nicht zuständig; dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht durfte es nicht vorgreifen.

c) Die rechtsfehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes hat sich zwar nur bei der Bildung der nachträglichen Gesamtstrafe gemäß § 55 StGB zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt. Da es sich bei der Feststellung des Tatzeitraums aber um eine doppelrelevante Tatsache handelt, die nicht nur für den Strafausspruch, sondern auch für den Schuldspruch von Bedeutung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2004 - 4 StR 99/04, Rn. 7; Urteil vom 17. Dezember 1971 - 2 StR 522/71, BGHSt 24, 274, 275; Franke in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 30), ist das Urteil insgesamt aufzuheben. Die dem Schuld- und Strafausspruch zugrundeliegenden Feststellungen sind - mit Ausnahme der Feststellungen zum Tatzeitraum - im Übrigen rechtsfehlerfrei getroffen und werden von dem Rechtsfehler nicht berührt. Sie können deshalb bestehen bleiben. Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird neue Feststellungen zum Tatzeitpunkt zu treffen haben und kann im Übrigen ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.

2. Für die neue Hauptverhandlung merkt der Senat an:

a) Sollte auch der neue Tatrichter keine sicheren Feststellungen zu konkreten Tatzeiten und dem Ende des Tatzeitraums treffen, vielmehr erneut eine Tatbegehung nach dem 21. September 2016 nicht ausschließen können, wird er zu Gunsten des Angeklagten von einem den Erlass des Strafbefehls vom 21. September 2016 überdauernden Tatzeitraum ausgehen müssen. Unter Zugrundelegung dieses Tatzeitraums wird er unter doppelter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe zu bemessen haben.

Während bei der Festsetzung der Einzelstrafen sich die Annahme einer Tatbegehung vor Erlass des Strafbefehls für den Angeklagten schon deshalb als günstiger erweisen dürfte, weil in diesem Fall ein Bewährungsbruch in Bezug auf den Strafbefehl als Vorverurteilung ausscheidet, wäre - sofern ein Widerruf der Strafe aus dem Strafbefehl vom 21. September 2016 weiterhin nicht erfolgt sein sollte - bei Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe zu Gunsten des Angeklagten von einer Tatzeit nach Erlass des Strafbefehls auszugehen mit der Folge, dass der Strafbefehl vom 21. September 2016 nicht gemäß § 55 StGB in eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung einzubeziehen wäre und dem Angeklagten die für ihn günstige Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Strafbefehl erhalten bliebe.

Auch mit Blick auf ein mögliches Widerrufsverfahren wäre der Angeklagte durch diese Verfahrensweise nicht benachteiligt. Das für den Widerruf der mit dem Strafbefehl bewilligten Strafaussetzung zuständige Gericht wäre an die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes durch das Tatgericht bei Zumessung der Gesamtstrafe nicht gebunden. Vielmehr müssen im Widerrufsverfahren die Voraussetzungen für einen Widerruf positiv festgestellt werden; für Sachverhaltszweifel gilt auch dort der Grundsatz in dubio pro reo (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Juli 1995 - 1 Ws 574/95, StV 1995, 595; OLG Hamm, Beschluss vom 20. Oktober 1986 - 2 Ws 218/86, StV 1987, 69; Groß/Kett-Straub in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 56f Rn. 40; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 56f Rn. 3; Heger in Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 56f Rn. 8; Hubrach in LK-StGB, 12. Aufl., § 56f Rn. 1). Bleibt daher zweifelhaft, ob ein Verurteilter neue Straftaten innerhalb oder außerhalb der Bewährungszeit begangen hat, kommt ein Widerruf der Strafaussetzung nicht in Betracht (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20. Oktober 1986 - 2 Ws 218/86, StV 1987, 69). Das für den Bewährungswiderruf zuständige Gericht wird daher eine eigenständige Entscheidung zu einem Bewährungsbruch zu treffen und dabei im Falle eines vom erkennenden Gericht festgestellten offenen Tatzeitraums seinerseits unter Anwendung des Zweifelssatzes von der für den Angeklagten günstigsten Tatzeit auszugehen haben.

b) In jedem Fall wird das neue Tatgericht zu beachten haben, dass das bei alleiniger Revision des Angeklagten geltende Verbot der reformatio in peius gemäß § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO im Falle einer unzutreffenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung zur Folge hat, dass dem Angeklagten ein durch die fehlerhafte Anwendung des § 55 StGB erlangter Vorteil nicht mehr genommen werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 - 4 StR 420/19 mwN).

c) Das neue Tatgericht wird außerdem im Hinblick auf die Frage, ob der Angeklagte im Tatzeitraum unter laufender Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen-Buer vom 13. Juni 2013 stand, Feststellungen zur Dauer der ursprünglichen Bewährungszeit und deren Verlängerung zu treffen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1232

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 378; StV 2021, 38

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner