HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1400
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 201/20, Beschluss v. 05.11.2020, HRRS 2020 Nr. 1400
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 7. Januar 2020 im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen II. 1. und II. 3. b. aa. sowie im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexuellen Übergriffs in zwei Fällen und sexueller Belästigung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch und zum Strafausspruch in den Fällen II. 2. und II. 3. b. bb. und cc. keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Dagegen hat der Strafausspruch hinsichtlich der Einzelstrafen der Fälle II. 1. und II. 3. b. aa. keinen Bestand.
a) Das Landgericht hat zu diesen Taten folgende Feststellungen getroffen:
Im Jahr 2013 lernte der damals etwa 50 Jahre alte Angeklagte in einem Krankenhaus den damals 18-jährigen Zeugen R., der dort wegen eines vorangegangenen Suizidversuchs psychiatrisch behandelt wurde, kennen. In der Folge entwickelte sich eine Freundschaft mit dem Angeklagten und dessen gleichgeschlechtlichem Lebenspartner. Der Zeuge wies diese jedoch darauf hin, dass er selbst heterosexuell sei und kein Interesse an sexuellen Kontakten mit ihnen habe. In der Zeit vom 4. bis 6. August 2013 verbrachten sie zu dritt einen Kurzurlaub in einer Ferienwohnung. Während einer der beiden Nächte betrat der Angeklagte das Schlafzimmer des Zeugen und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Sein Unterleib war unbekleidet. Er führte eine Hand unter die Bettdecke des schlafenden, mit Boxershorts bekleideten Zeugen und berührte ihn am Oberschenkel sowie oberhalb der Boxershorts im Genitalbereich. Der Zeuge erwachte durch die Berührungen (Fall II. 1.).
Am 28. März 2019 lernte der Angeklagte während eines Klinikaufenthalts den damals 19-jährigen Zeugen H., der dort als Aushilfe im Personenbegleitdienst beschäftig war, kennen. Der Zeuge erklärte ihm gegenüber, er habe kein Problem mit der Homosexualität des Angeklagten, sei selbst jedoch heterosexuell. Kurze Zeit später bot der Angeklagte dem Zeugen eine gemeinsame Motorradfahrt an. Dieser suchte hierzu die Wohnung des Angeklagten auf und probierte Motorradbekleidung an. Als er diese wieder ablegte und nur noch Unterwäsche trug, forderte der Angeklagte ihn auf, sich mit ihm auf das Bett zu setzen, was der Zeuge tat. Die Aufforderung des Angeklagten, sich auf das Bett zu legen, wies er jedoch ebenso zurück wie das Streicheln seiner Haare. Der Angeklagte drückte nun den Zeugen auf das Bett. Er legte sich sodann bäuchlings auf ihn und vollführte mit der Hüfte einige kreisende Bewegungen, wobei der Zeuge annahm, das erigierte Genital des Angeklagten zu spüren. Er drückte den Angeklagten nunmehr von sich weg und stand auf. Beide fuhren anschließend zurück in die Klinik (Fall II. 3. b. aa.).
Die Strafkammer hat diese Taten jeweils als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB rechtlich gewürdigt, wobei sie hinsichtlich des Falles II. 1. § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB nF als milder im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB im Vergleich zu § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF gewertet hat.
b) Während die rechtliche Würdigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, bestehen in beiden Fällen gegen die vom Landgericht vorgenommene Bestimmung des Strafrahmens durchgreifende rechtliche Bedenken. Die Strafkammer hat der Strafzumessung jeweils den Strafrahmen des Grundtatbestands des § 177 Abs. 1 StGB nF zugrunde gelegt. Die Ablehnung minder schwerer Fälle nach § 177 Abs. 9 StGB hält jedoch rechtlicher Überprüfung nicht stand.
aa) Entscheidend für das Vorliegen eines minder schweren Falles ist, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung dieses Strafrahmens geboten erscheint. Für die Prüfung der Frage ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 14. Mai 2019 - 3 StR 503/18, NStZ-RR 2019, 344). Auch wenn dies nicht bedeutet, dass jeder derartige Umstand der ausdrücklichen Erörterung in den Urteilsgründen bedarf und die Nichterörterung stets einen Rechtsfehler begründet, so ist das Gericht doch verpflichtet, in den Urteilsgründen die für die Strafrahmenwahl bestimmenden Umstände darzulegen.
bb) Daran gemessen erweist sich die Begründung, mit der die Strafkammer jeweils einen minder schweren Fall des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 9 StGB abgelehnt hat, als lückenhaft. Der Senat kann nicht nachvollziehen, ob die Strafkammer die gebotene Gesamtbetrachtung vorgenommen hat. Sie hat unter der Überschrift „V. 1. Strafrahmenbestimmung“ lediglich abstrakt ausgeführt, dass die Voraussetzungen für einen minder schweren Fall nicht vorlägen (Fall II. 1.) bzw. ein solcher zu verneinen gewesen sei (Fall II. 3. b. aa.). Erst unter der gesonderten Überschrift „V. 2. Konkrete Strafzumessung“ werden Umstände, die für und gegen den Angeklagten sprechen, im Einzelnen gewürdigt. Dass diese Erwägungen auch Grundlage der jeweiligen Strafrahmenwahl waren, hat die Strafkammer weder direkt noch im Wege einer Bezugnahme deutlich gemacht.
Vor dem Hintergrund, dass die sexuellen Handlungen des Angeklagten in beiden Fällen niederschwellig waren, versteht sich die Ablehnung minder schwerer Fälle nicht von selbst, so dass eine Gesamtbetrachtung auch nicht ausnahmsweise entbehrlich ist.
2. Die Aufhebung der Einzelstrafen in den genannten Fällen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich.
3. Da der Strafausspruch wegen eines Begründungsmangels keinen Bestand hat, können die zugrundeliegenden Feststellungen bestehen bleiben. Das neue Tatgericht ist nicht gehindert, weitergehende Feststellungen zu treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1400
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 11
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner