HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1395
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 145/20, Beschluss v. 07.10.2020, HRRS 2020 Nr. 1395
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 22. Oktober 2019 im Strafausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung, wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen und wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Strafaussprüche zu den Taten II. 4. und II. 5. der Urteilsgründe haben keinen Bestand.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Angeklagte an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD 10 F60.31) mit narzisstischen und histrionischen Zügen, welche zur Folge hat, dass in Konfliktsituationen seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung erheblich eingeschränkt ist. Er gerät dann schnell in große, für ihn kaum mehr beherrschbare Wut, die sich in verbalen und auch körperlichen Übergriffen Bahn bricht.
Zur Tat II.4. hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte bei seinem Einkauf in einem Supermarkt wegen eines Glases Pesto in Streit mit dem Kassenpersonal geriet und nach dem „Sicherheitsmenschen“ verlangte. Als der daraufhin herbeigerufene Ladendetektiv ihn bat, das Geschäft zu verlassen, schlug der Angeklagte ihm das Pesto-Glas auf den Kopf, wodurch der Ladendetektiv eine schmerzhafte Schädelprellung erlitt. Im Fall II.5. folgte der Angeklagte dem zur Reinigung des Treppenhauses des Mietshauses, in dem der Angeklagte wohnte, eingesetzten Geschädigten wutentbrannt, weil er die Reinigungsleistung für unzureichend hielt. Nachdem der Geschädigte erklärt hatte, dass seine Arbeit beendet sei, versetzte der Angeklagte ihm mit einem Holzknüppel einen Schlag an den seitlichen Oberkörper, wodurch der Geschädigte eine schmerzhafte Prellung erlitt.
In beiden Fällen war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner Persönlichkeitsstörung erheblich eingeschränkt, aber nicht aufgehoben.
b) Vor dem Hintergrund der zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit führenden Auswirkungen der festgestellten Persönlichkeitsstörung des Angeklagten halten in beiden Fällen die sowohl bei der Prüfung eines minder schweren Falles des § 224 StGB als auch bei der Bemessung der Strafe im engeren Sinn zulasten des Angeklagten gewerteten Erwägungen, es habe sich um einen „kaum mehr nachvollziehbaren Anlass für den erneuten Aggressionsdurchbruch“ (Fall II.4.) bzw. der „Anlass, aus dem sich der Angeklagte zur Anwendung körperlicher Gewalt gedrängt sah“, sei nichtig gewesen (Fall II.5.), rechtlicher Prüfung nicht stand.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen einem Angeklagten Anlass und Modalitäten der Tat nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar sind, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenden geistig-seelischen Beeinträchtigung zu finden ist (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 2014 - 5 StR 69/14, NStZ-RR 2014, 140; Urteil vom 17. Juli 2003 - 4 StR 105/03, NStZ-RR 2003, 294; jeweils mwN). Dies hat das Landgericht nicht erkennbar bedacht. Vielmehr hat es dem Angeklagten den jeweils fehlenden bzw. nichtigen Anlass für seine Aggressionshandlungen ohne jede Einschränkung zur Last gelegt, obwohl seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung störungsbedingt erheblich eingeschränkt war. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Strafkammer diesen Strafzumessungserwägungen ein zu großes Gewicht beigemessen hat.
2. Die in den Fällen II. 3. und II. 6. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen bleiben zwar von dem aufgezeigten Rechtsfehler unberührt. Der Senat hebt jedoch auch die Einzelstrafaussprüche zu diesen Taten mit auf, um dem neuen Tatgericht eine ausgewogene Strafzumessung zu ermöglichen.
3. Die Aufhebung der Einzelstrafen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich. Dessen Begründung ist zudem rechtlich bedenklich. Soweit das Landgericht dem Angeklagten bei der Bildung der Gesamtstrafe angelastet hat, dass er keinerlei Anstrengungen unternommen habe, an seiner „ihm durchaus bewussten Aggressionsproblematik zu arbeiten“, liegt nach den Feststellungen nahe, dass die unterlassenen Anstrengungen des Angeklagten auf dessen Störung beruhten und ihm deshalb nicht oder ebenfalls nur eingeschränkt vorgeworfen werden können.
Die der Strafzumessung zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen werden von dem Wertungsfehler hingegen nicht berührt und können daher bestehen bleiben. Dasselbe gilt für die verhängte Maßregel.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1395
Externe Fundstellen: StV 2021, 31
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner