HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1071
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 486/19, Urteil v. 30.07.2020, HRRS 2020 Nr. 1071
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 27. Februar 2019 wird als unbegründet verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hieraus entstandenen notwendigen Auslagen.
Das Landgericht hat das Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung durch Urteil eingestellt, da es an der Verfahrensvoraussetzung eines rechtzeitigen Antrags durch die Staatsanwaltschaft fehle. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.
1. Der Verurteilte war vom Landgericht Hagen mit Urteil vom 26. Januar 2009 wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von 8 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden. Zudem hatte das Landgericht seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die zugrundeliegende Tat hatte der Verurteilte am 20. Juni 2008 im Alter von 17 Jahren begangen. Nach den Urteilsfeststellungen hatte er eine 75-jährige Frau, die er nur vom Sehen kannte, bei einer zufälligen Begegnung ohne sicher feststellbares Motiv mit vierzig Messerstichen getötet. Er hatte den Unterleib der Geschädigten - als sie noch lebte - teilweise entkleidet und ihr eine blutende Risswunde am Scheideneingang zugefügt. Der Verurteilte litt sowohl an einer ausgeprägten Cannabis- und Alkoholabhängigkeit als auch an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung und einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus. Seine Steuerungsfähigkeit war aufgrund dieser Umstände und einer Alkoholintoxikation zum Tatzeitpunkt nicht ausschließbar erheblich vermindert. Das Landgericht gab der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor derjenigen in einem psychiatrischen Krankenhaus den Vorzug, da die Abhängigkeitserkrankung als eine Ursache der Persönlichkeitsstörungen anzusehen sei und daher vorrangig behandelt werden müsse.
Nach Rechtskraft des Urteils wurde die Maßregel seit dem 26. Oktober 2009 vollzogen und mehrfach ihre Fortdauer angeordnet. Im Januar 2014 überwies das Amtsgericht den Verurteilten gemäß § 67a Abs. 1 StGB in den Vollzug der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, weil während des Vollzugs die auch als deliktsrelevant angesehene psychiatrische Diagnose des sexuellen Sadismus gestellt worden war. Als der Verurteilte sein 24. Lebensjahr vollendet hatte, ordnete das nunmehr zuständige Amtsgericht im November 2014 an, die Jugendstrafe nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene zu vollziehen und gab die Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft Hagen ab. Nach Übernahme der Sache vermerkte die Staatsanwaltschaft in den Akten, das Vorliegen der formellen Voraussetzungen zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung sei zu prüfen. Im Juli 2015 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Überweisung in den Vollzug der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für beendet sowie die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen Aussichtslosigkeit für erledigt. In der Folgezeit verbüßte der Verurteilte vollständig den Rest der Jugendstrafe; die Strafvollstreckung aus der Anlasstat war am 18. April 2018 erledigt.
Die revisionsführende Staatsanwaltschaft hatte bereits nach Erledigung der Maßregel geprüft, ob eine nachträgliche Sicherungsverwahrung des Verurteilten in Betracht kommt, jedoch zu diesem Zeitpunkt von einer Antragstellung abgesehen. Sie beantragte am 13. Juli 2018 bei der Jugendkammer des Landgerichts - nach dem Ende der Strafvollstreckung aus der Anlasstat -, nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die Staatsanwaltschaft wies den Verurteilten erst am 2. Juli 2018 auf den beabsichtigten Antrag hin.
2. Das Landgericht hat das Verfahren über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung durch das angefochtene Urteil gemäß § 206a StPO eingestellt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Fortsetzung des Verfahrens stehe entgegen, dass die Staatsanwaltschaft den Anordnungsantrag erst nach vollständiger Verbüßung der Strafe aus der Anlassverurteilung gestellt habe.
Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht ein Verfahrenshindernis angenommen, weil die Staatsanwaltschaft den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erst nach vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe gestellt hat.
1. Das Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt nach der hier anzuwendenden Gesetzeslage einen rechtzeitig vor vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft voraus (§ 275a Abs. 1 Satz 3 StPO in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung).
a) Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Jugendstrafrecht richtet sich für Taten vor dem 1. Januar 2011 sowohl materiellrechtlich als auch verfahrensrechtlich nach den Vorschriften in den bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassungen. Materiellrechtlich gilt für den zum Tatzeitpunkt jugendlichen Verurteilten § 7 Abs. 2 JGG in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008 (BGBl. I, S. 1212; im Folgenden: § 7 JGG aF). Verfahrensrechtlich ist aufgrund der Verweisung in § 7 Abs. 4 JGG aF die Vorschrift des § 275a StPO in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I, S. 2274; im Folgenden: § 275a StPO aF) anzuwenden. Die Weitergeltung der vorgenannten Normen für Taten, die vor dem 1. Januar 2011 begangen wurden, ergibt sich aus den Übergangsvorschriften in Artikel 316f EGStGB, eingeführt durch Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012, und in Artikel 316e EGStGB (Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010).
Für Anlasstaten, die - wie hier - vor dem 1. Juni 2013 begangen wurden, ordnet Artikel 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB grundsätzlich die Anwendung der bis zum 31. Mai 2013 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung an. Zu diesen zählt nach dem Willen des Gesetzgebers auch die Übergangsvorschrift des Artikel 316e EGStGB (Gesetzentwurf der Bundesregierung für das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung, BTDrucks. 17/9874, S. 41/42; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks. 17/11388, S. 24/25).
Die Regelung in Artikel 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB wiederum sieht vor, dass für Anlasstaten, die vor dem 1. Januar 2011 begangen wurden, grundsätzlich das bisherige Recht vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010 anzuwenden ist. Ungeachtet der systematischen Stellung dieser Übergangsvorschriften im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch beziehen sie sich nicht nur auf das materielle Recht, sondern auch auf die daran anknüpfenden verfahrensrechtlichen Regelungen im allgemeinen Strafprozessrecht und im Jugendstrafrecht (Meyer-Goßner/ Schmitt, 63. Aufl., § 275a StPO; Gerhold in Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl., § 275a Rn. 1; Stuckenberg in LR-StPO, 26. Aufl., § 275a/Entstehungsgeschichte, zu Art. 316e EGStGB; BeckOK-StPO/Peglau, 37. Ed., § 275a Rn. 3). Diese umfassende Reichweite der Übergangsvorschriften ist mit dem Wortlaut vereinbar und entspricht dem Willen des Gesetzgebers, für den es in „Altfällen“ auch verfahrensrechtlich bei den früher geltenden Vorschriften bleiben sollte (vgl. BTDrucks. 17/3403, S. 49). Sie ist sachlich dadurch begründet, dass die Weitergeltung früherer materiellrechtlicher Regelungen über die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur vorstellbar ist, wenn auch die zugehörigen Verfahrensnormen weitergelten (Stuckenberg aaO; Frister in SK-StPO, 5. Aufl., § 275a Rn. 16). Insoweit besteht ein untrennbarer Zusammenhang von materiellem Recht und verfahrensrechtlichen Regelungen. Denn nach früherer Rechtslage war die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung materiellrechtlich in deutlich weiterem Umfang zulässig, als dies nach heute geltendem Recht der Fall ist. Damit korrespondierend sollte dem Freiheitsrecht des Verurteilten durch verfahrensrechtliche Garantien hinreichend Geltung verschafft und dies insbesondere auch durch die strikten Fristbindungen gesichert werden.
Betrifft also ein Verfahren eine Tat, die - wie hier - vor dem 1. Januar 2011 begangen wurde, ist weiterhin die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Fassung aller materiellrechtlichen und prozessualen Vorschriften über die Sicherungsverwahrung anzuwenden, vorbehaltlich der Modifikationen in Artikel 316f Abs. 2 und 3 EGStGB (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2013 - 1 StR 48/13, BGHSt 58, 292; Beschluss vom 7. August 2013 - 1 StR 246/13; Urteil vom 24. Oktober 2013 - 4 StR 124/13, BGHSt 59, 56; Urteil vom 8. Juni 2016 - 2 StR 88/16; Gerhold aaO).
b) Nach der danach hier maßgeblichen prozessualen Regelung des § 275a Abs. 1 Satz 3 StPO aF soll die Staatsanwaltschaft den Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt stellen, in dem der Vollzug der Strafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel endet. Tatsächlich hat die Staatsanwaltschaft den Antrag erst am 13. Juli 2018 und damit rund drei Monate nach Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug gestellt.
2. Die Stellung des Antrags auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erst nach vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe aus der Anlassverurteilung hat ein Verfahrenshindernis zur Folge.
Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 66b StGB aF, § 275a StPO aF, dass es einer Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht und damit ein Verfahrenshindernis vorliegt, wenn die Staatsanwaltschaft den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erst dann stellt, wenn der Verurteilte die Strafe aus der Anlassverurteilung bereits vollständig verbüßt hat (BGHSt 50, 180; 284, 290; BGH, Beschluss vom 26. Mai 2010 - 2 StR 263/10, BGHR StPO § 275a Antrag 2).
Denn § 275a StPO aF sollte nach der Intention des Gesetzgebers Verfahren über den Antrag auf Anordnung der Sicherungsverwahrung beschleunigen und dem Vertrauensschutz für den Verurteilten hinreichend Rechnung tragen (BGHSt 50, 180, 183). Die Auslegung dieser Vorschrift hat nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung somit einerseits das mit dem Rechtsinstitut der nachträglichen Sicherungsverwahrung verfolgte Anliegen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, die Allgemeinheit vor gefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern effektiv zu schützen. Andererseits muss sie den verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz für den Verurteilten wahren. Dem von Verfassungs wegen mit einem hohen Rang ausgestatteten Freiheitsgrundrecht des Betroffenen ist durch verfahrensrechtliche Garantien hinreichend Geltung zu verschaffen (BGHSt 50, 284, 290). Kommt § 275a StPO aF zur Anwendung ist es daher erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten noch während des Strafvollzugs die Einleitung ihres Prüfungsverfahrens mitteilt und sie den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt, bevor die Strafvollstreckung aus dem Ausgangsverfahren beendet ist. Diese Anforderungen an § 275a StPO aF ermöglichen es auf der einen Seite, bei der Entscheidung über die nachträgliche Maßregelanordnung auch noch solche Tatsachen für die Gefährlichkeitsprognose zu berücksichtigen, die erst kurz vor Vollzugsende sichtbar werden. Auf der anderen Seite bewirken sie, dass der Verurteilte nicht zeitlich unbegrenzt mit einer nachträglichen Maßregelanordnung rechnen muss und so früh wie möglich noch während des Strafvollzugs von der Einleitung eines Prüfungsverfahrens erfährt (BGHSt 50, 180, 185; BGH, Beschluss vom 26. Mai 2010 - 2 StR 263/10).
Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, der sich die Literatur weitgehend angeschlossen hat (vgl. Ullenbruch/Drenkhahn in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl., § 66b Rn. 108; Rissing-van Saan in LK-StGB, 12. Aufl., § 66b Rn. 185; Fischer, StGB, 55. Aufl., § 66b Rn. 25; für eine analoge Anwendung der Frist des § 56g StGB dagegen Folkers, NStZ 2006, 426, 431), gibt es keinen Anlass. Insbesondere ist sie auf Fälle übertragbar, in denen - wie hier - die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung als Maßregel im Jugendstrafrecht in Rede steht. Denn die jeweils auszugleichenden Interessen der Allgemeinheit und des Verurteilten liegen gleich wie im Erwachsenenstrafrecht.
In der vorliegenden Konstellation bleibt bei Versäumung der Frist aus § 275a Abs. 1 Satz 3 StPO aF für eine Abwägung des Vertrauensschutzes des Verurteilten mit dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit kein Raum. Denn es sind allein die Anforderungen an die Antragstellung, die dem schutzwürdigen Vertrauen des Verurteilten in formalisierter Weise Rechnung tragen, indem allein auf den Zeitpunkt des Antrags und die Erfüllung der Informationspflicht gegenüber dem Verurteilten (§ 275a Abs. 1 Satz 2 StPO aF) abgestellt wird. Genügt der Verfahrensgang diesen Anforderungen nicht, liegt ein Verfahrenshindernis vor. Der vorliegende Fall weist aus den Gründen des Terminsantrags des Generalbundesanwalts keine Besonderheiten auf, die ausnahmsweise eine abweichende Entscheidung rechtfertigen würden.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1071
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 325; StV 2022, 1
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner