hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 325

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 437/19, Beschluss v. 19.11.2019, HRRS 2020 Nr. 325


BGH 4 StR 437/19 - Beschluss vom 19. November 2019 (LG Essen)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Feststellung des Zustandes der Schuldunfähigkeit).

§ 63 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 14. Mai 2019 mit den Feststellungen aufgehoben, ausgenommen die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf der rechtswidrigen Taten; diese bleiben bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls mit Waffen sowie wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Es hat ferner die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am 17. November 2018 betrat der Angeklagte den Media Markt in D., um dort etwas zu stehlen. Er nahm zwei CDs an sich und entfernte mit einem kleinen Messer mit sechs bis sieben Zentimeter Klingenlänge die Sicherungsetiketten. Ein weiteres Messer mit längerer Klinge führte er in seiner Hosentasche mit sich. Der Angeklagte wurde von dem Ladendetektiv über ein Videoüberwachungssystem beobachtet. Der Ladendetektiv ging in das Ladenlokal und sprach den Angeklagten an. Als der Angeklagte weiter in Richtung Ausgang ging, ergriff ihn der Ladendetektiv mit der rechten Hand am rechten Arm und mit der linken Hand an der linken Schulter, um ihn aufzuhalten. Der Angeklagte, der immer noch das kleine Messer in der rechten Hand hielt, riss seinen rechten Arm hoch und versuchte, sich zu befreien. Er übernahm das Messer mit der linken Hand und setzte zu einem Stich gegen den Ladendetektiv an, damit dieser ihn loslasse und er das Geschäft verlassen könne, wobei er die Verletzung des Mannes zumindest billigend in Kauf nahm. Ein Mitarbeiter des Media Marktes rief dem Ladendetektiv eine Warnung zu und ergriff den linken Arm des Angeklagten. Der Ladendetektiv brachte den Angeklagten daraufhin zu Boden, und der Mitarbeiter nahm ihm das Messer ab.

Nach Überzeugung der sachverständig beratenen Strafkammer war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei dem Tatgeschehen erheblich vermindert. Er leide - abweichend von früheren Gutachten, die die Diagnose einer drogeninduzierten Psychose gestellt hätten - an einer schizophrenen Psychose vom paranoiden Prägnanztyp. Der begleitende Substanzmissbrauch sei lediglich ein „penetranter Risikofaktor“. Die diagnostischen Kriterien einer paranoiden Schizophrenie seien erfüllt, er leide an akustischen Halluzinationen. Auch am Tattag - allerdings nicht in der unmittelbaren Tatsituation - habe er wie schon in der Vergangenheit Stimmen gehört. In Folge der Erkrankung könne der Angeklagte aufkommende aggressive Impulse nicht kontrollieren. Der Einsatz des Messers gegen den Ladendetektiv sei Ausdruck dieser eingeschränkten Impulskontrolle. Die versuchte gefährliche Körperverletzung und der Diebstahl mit Waffen seien erhebliche rechtswidrige Taten. Die Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Tat ergebe, dass von ihm infolge seines Zustandes auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei (§ 63 StGB).

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Eine Anordnung gemäß § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten positiv festgestellt werden kann und wenn der Täter in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begangen hat, die auf den die Annahme der §§ 20, 21 StGB rechtfertigenden dauerhaften Defekt zurückzuführen ist. Die Voraussetzungen des § 20 oder zumindest die des § 21 StGB zum Zeitpunkt der Anlasstat müssen danach zweifelsfrei festgestellt sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 14. Dezember 1994 - 3 StR 475/94, BGHR StGB § 63 Tat 4; Urteil vom 25. Februar 2010 - 4 StR 596/09; Beschluss vom 23. September 2015 - 4 StR 371/15). Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

b) Bereits das Bestehen eines „Zustands“ im Sinne des § 20 StGB ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Die nach dem Referat des Sachverständigengutachtens im Urteil von diesem für seine Diagnose einer paranoiden Schizophrenie herangezogenen Symptome des Stimmenhörens beruhen auf eigenen Berichten des Angeklagten. Konkrete äußere Verhaltensauffälligkeiten, die auf das Bestehen einer paranoiden Schizophrenie bei ihm schließen lassen könnten, teilt das Urteil nicht mit. Der Angeklagte ist zuvor noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Sachverständige hat ihm ein „relativ gut erhaltenes psychosoziales Funktionsniveau“ attestiert. In dem Entlassbericht der LWL-Klinik H. - nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe erfolgte die Entlassung des Angeklagten kurz vor der Tat - und im Gutachten der Sachverständigen Dr. T. vom 28. Mai 2018 wurde die Diagnose einer drogeninduzierten Psychose gestellt. Weshalb der von der Strafkammer gehörte Sachverständige diesen Diagnosen nicht folgt, wird im Urteil nicht wiedergegeben. Der Angeklagte hat nach der Entlassung aus der LWL-Klinik H. die ihm dort verschriebenen Medikamente selbständig abgesetzt. Ob dadurch am Tattag bereits wieder ein akuter Schub der Erkrankung vorlag, ist nicht festgestellt. Soweit es in den Urteilsgründen heißt, dass der Angeklagte in diesem Zeitraum mehrfach polizeilich auffällig geworden sei, wird dies nicht näher dargelegt. Auch ein nach der Auffassung des gehörten Sachverständigen psychopathologisch auffälliges Verhalten des Angeklagten während der Tat erschließt sich nicht ohne Weiteres. Die Anlasstaten als solche sind auch normalpsychologisch unschwer zu erklären, wobei auch eine auffällige Erregung während der Tatsituation durch die Situation der Ingewahrsamsnahme durch den Ladendetektiv erklärbar sein kann. Danach ist auch der symptomatische Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Tat nicht belegt.

3. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass in einer neuen Hauptverhandlung erneut eine psychotische Erkrankung des Angeklagten festgestellt wird, die möglicherweise sogar zu einer Aufhebung seiner Schuldfähigkeit geführt hat. Er hat deshalb das Urteil insgesamt - mit Ausnahme der Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhen - aufgehoben.

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Soweit die Strafkammer bei der Abwägung des Vorliegens eines minder schweren Falles des Diebstahls mit Waffen erwogen hat, dass der Angeklagte die Benutzung des Messers nicht gestanden habe, ist dies als Fehlen eines weiteren Milderungsgrundes noch nicht durchgreifend rechtlich bedenklich; eine strafschärfende Berücksichtigung dieses Umstands wäre allerdings rechtsfehlerhaft.

b) Soweit die Strafkammer die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung mit der Begründung versagt hat, der Angeklagte lebe in „ungeordneten Verhältnissen“, wird dies durch die Urteilsfeststellungen nicht hinreichend belegt.

Zwar ist der Angeklagte obdachlos, er hat aber zur Tatzeit Leistungen nach Hartz IV bezogen, um deren Bewilligung er sich selbständig gekümmert hat. Auch wurde für den Angeklagten eine gerichtliche Betreuung eingerichtet. Hiermit setzt sich das Urteil nicht näher auseinander.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 325

Externe Fundstellen: StV 2021, 234

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner