HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1149
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 183/19, Urteil v. 12.09.2019, HRRS 2019 Nr. 1149
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 2. Oktober 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Des Weiteren hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis von neun Monaten festgesetzt. Hiergegen richtet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, mit welcher die Beschwerdeführerin in erster Linie eine Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes erstrebt.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach den Feststellungen ließ sich der spätere Geschädigte, der nach einem Gaststättenaufenthalt sichtlich erheblich alkoholisiert war, in den frühen Morgenstunden des 15. September 2017 vom Angeklagten in dessen Taxi, einem Toyota Prius, in München in die K. straße fahren, wo er in Höhe des Anwesens Nr. aus dem Taxi ausstieg und sich entgegen der Fahrtrichtung entfernte, ohne den Fahrpreis von 6,50 € zu bezahlen. Der Angeklagte verließ daraufhin ebenfalls das Taxi, folgte dem Geschädigten und verlangte die Bezahlung des Fahrpreises. Da der Geschädigte den Angeklagten ignorierte und sich weiter entfernte, ging der Angeklagte zu seinem Taxi zurück, wendete das Fahrzeug und fuhr dem Geschädigten hinterher, den er auf Höhe des Anwesens K. straße in der dortigen Einfahrt wieder erreichte. Durch das offene Fenster des Fahrzeugs kam es sodann zu einer verbalen Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Geschädigte möglicherweise mit einer Hand auf die Motorhaube des Taxis klopfte.
Obwohl der Angeklagte über das Verhalten des Geschädigten verärgert war, beschloss er, die Auseinandersetzung zu beenden und wegzufahren, ohne den Fahrpreis erhalten zu haben. Um von der Einfahrt wieder auf die Straße einzufahren, setzte er das Fahrzeug zunächst etwas zurück und lenkte dann stark nach links. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Fahrbahn frei war, rollte er mit einer Geschwindigkeit von ca. 1 bis 2 km/h langsam an. Dabei nahm er wahr, dass der alkoholisierte Geschädigte seitlich neben dem Fahrzeug auf Höhe des vorderen linken Radkastens stand. Der Angeklagte erkannte, dass er den Geschädigten mit dem Taxi touchieren könnte und dass ein Anfahren mit dem Taxi auch bei sehr langsamer Geschwindigkeit geeignet ist, bei dem Geschädigten erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Dies war ihm zumindest gleichgültig.
Der Geschädigte wurde von dem vorderen linken Radlauf des Taxis dergestalt erfasst, dass sein rechter Unterschenkel zwischen Radlaufkante und Innenflanke des nach links eingeschlagenen Vorderrades geriet. Infolge des vom Angeklagten nicht wahrgenommenen Anstoßes geriet der Geschädigte ins Stolpern, stürzte und kam letztlich in Bauchlage seitlich links vor dem Wagen zu liegen. Der Angeklagte, der mit seinem Fahrzeug weiter über die Bordsteinkante von der Einfahrt auf die Straße fuhr, überfuhr den Geschädigten mit der vollen Fahrzeuglänge und schleifte ihn anschließend noch etwa fünf Meter mit. Das gesamte Geschehen dauerte nur zwei bis drei Sekunden. Der Angeklagte hatte nicht wahrgenommen, dass der Geschädigte so zu Fall und auf der Straße zu liegen gekommen war, dass er ihn beim Weiterfahren mit seinem Fahrzeug überfahren könnte. Ein Überfahren des Geschädigten nahm er jedenfalls nicht auch nur billigend in Kauf. Erst nachdem der Angeklagte auf die Fahrbahn gefahren und wieder nach rechts gelenkt hatte, bemerkte er den Geschädigten, der „hinten mittig unter dem Fahrzeug wieder hervorgekommen war“ und regungslos auf der Fahrbahn lag. Obwohl er erkannte, für die Situation möglicherweise mitursächlich gewesen zu sein, fuhr er zugleich weiter und verließ den Unfallort.
Der Geschädigte wurde wenig später von einer Polizeistreife reglos auf der Straße liegend aufgefunden. Durch das Anfahren erlitt er eine Risswunde am rechten Knie und Verletzungen am rechten Unterschenkel. Infolge des Überfahrens mit dem Taxi trug er ein Schädel-Hirn-Trauma Grad I, multiple Schürfungen, eine Scapulablattfraktur rechts, eine Deckplattenimpressionsfraktur sowie diverse Prellungen am ganzen Körper und erhebliche Schmerzen davon. Zudem wurde das linke Ohr des Geschädigten halb abgerissen. Lebensbedrohlich waren die Verletzungen nicht.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.
Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil die Strafkammer den von Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss erfassten Lebenssachverhalt, wie er sich als Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, in sachlich-rechtlicher Hinsicht nicht erschöpfend gewürdigt hat und damit der ihr gemäß § 264 StPO obliegenden umfassenden Kognitionspflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2017 - 4 StR 127/17, NStZ-RR 2017, 352, 353 mwN). Denn das Landgericht hat eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen eines durch Unterlassen verwirklichten versuchten Tötungsdelikts erkennbar nicht bedacht.
Ausweislich der Urteilsausführungen zur Beweiswürdigung hat die Strafkammer die Überzeugung gewonnen, dass der Angeklagte, der beim Anfahren den links seitlich neben dem Fahrzeug auf Höhe des vorderen Radkastens stehenden Geschädigten wahrgenommen, mit einer Kollision gerechnet und diese unter Inkaufnahme erheblicher Verletzungen hingenommen hatte, unmittelbar nach dem Überfahren des Geschädigten bemerkte, dass der nunmehr reglos auf der Fahrbahn liegende Geschädigte unter das Fahrzeug geraten war. Bei dieser Sachlage hätte für den Tatrichter Veranlassung bestanden, sich näher mit dem Vorstellungsbild des Angeklagten bei Fortsetzung der Fahrt zu befassen und zu prüfen, ob der Angeklagte subjektiv davon ausging, eine möglicherweise für den Geschädigten bestehende Lebensgefahr entgegen einer aus seinem vorangegangenen pflichtwidrigen Gefährdungsverhalten resultierenden Handlungspflicht nicht abzuwenden. In diesem Falle lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Tötungsversuchs durch Unterlassen vor. Zu alledem verhalten sich die Urteilsgründe nicht.
Um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatrichter eine umfassende, in sich stimmige Beurteilung der subjektiven Tatseite zu ermöglichen, hebt der Senat das gesamte Urteil mit den Feststellungen
aufHRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1149
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner