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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 885

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 197/17, Beschluss v. 07.06.2017, HRRS 2017 Nr. 885


BGH 4 StR 197/17 - Beschluss vom 7. Juni 2017 (LG Magdeburg)

Notwehr (Gegenwärtigkeit eines Angriffs; Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung).

§ 32 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Gegenwärtig kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen, nicht mehr hinnehmbaren Risiken aussetzen würde. Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist. Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind daher nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutsverletzung.

2. Welche Reaktion auf einen Angriff durch Notwehr gerechtfertigt ist, lässt sich nur bei einer umfassenden und widerspruchsfreien Bewertung der gesamten Auseinandersetzung in objektiver und subjektiver Hinsicht beurteilen. In diese Bewertung der sog. Kampflage sind diejenigen tatsächlichen Umstände einzubeziehen, unter denen sich Angriff und Abwehr abspielen, sowie die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers einerseits und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen andererseits.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 10. Januar 2017 mit Ausnahme der Adhäsionsentscheidung mit den Feststellungen aufgehoben; insoweit wird die Urteilsformel dahin ergänzt, dass hinsichtlich der weiter gehenden Schmerzensgeldforderung von einer Entscheidung abgesehen wird.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Es hat die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und den Angeklagten als Adhäsionsbeklagten dem Grunde nach verurteilt, Schmerzensgeld an den Adhäsionskläger zu zahlen.

Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen überwiegenden Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts sah sich der Angeklagte am Abend des 9. August 2015 aus Anlass einer Festveranstaltung mit etwa 200 Gästen in einer Halle in M. seitens des Nebenklägers mit dem - tatsächlich unzutreffenden - Vorwurf konfrontiert, diesem auf der Veranstaltung das Mobiltelefon entwendet zu haben. Auf die wütende Aufforderung des Nebenklägers, stehen zu bleiben, bekam es der Angeklagte mit der Angst zu tun und wich zurück. Der Nebenkläger und einige seiner Bekannten bedrängten den Angeklagten weiter und forderten ihn zur Rückgabe des Telefons auf, woraufhin der Angeklagte erwiderte, er habe es nicht. Als einer der Begleiter des Nebenklägers dem Angeklagten ins Gesicht fasste, wich dieser weiter zurück und trat schließlich die Flucht aus der Festhalle an. Er wurde vom Nebenkläger verfolgt, dem es vor der Halle gelang, den Angeklagten einzuholen. Auf die erneut und nachdrücklich erhobene Aufforderung zur Rückgabe des Mobiltelefons bestritt der Angeklagte, dieses entwendet zu haben, woraufhin der Nebenkläger antwortete, dass er ihm nicht glaube und ihn nunmehr durchsuchen wolle. Das wollte der Angeklagte seinerseits nicht zulassen und beschloss wegzulaufen. Der Nebenkläger beharrte auf einer Klärung der Angelegenheit und fasste den Angeklagten an der Schulter. Nunmehr entschied sich der Angeklagte, die beabsichtigte Flucht auch gewaltsam durchzusetzen und den Nebenkläger daran zu hindern, weiter auf ihn einzuwirken. Er zog ein unbekanntes Schneidwerkzeug mit kurzer Klinge aus seiner Tasche und fügte dem Nebenkläger damit zwei Schnitte im rechten Brustbereich zu, wodurch zwei klaffende und binnen kurzem stark blutende Wunden entstanden. Kurz darauf überbrachte ein Begleiter des Nebenklägers diesem sein Telefon mit dem Bemerken, er habe es gerade auf dem Boden gefunden. Diese Situation nutzte der Angeklagte zur Flucht.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Nach den bisherigen Feststellungen ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Messerstiche einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt war und sich daher in einer Notwehrsituation im Sinne des § 32 StGB befand.

a) Gegenwärtig kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen, nicht mehr hinnehmbaren Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 - 1 StR 486/16, juris Rn. 28 mwN). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (BGH, Urteil vom 21. März 2017 aaO). Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind daher nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutsverletzung (BGH aaO mwN).

b) Danach hätte das Landgericht das Vorliegen einer Notwehrlage hier nicht unerörtert lassen dürfen. Denn dem Angeklagten drohte zu dem Zeitpunkt, als er sich zum Einsatz des unbekannt gebliebenen Schneidwerkzeugs entschloss, eine Verletzung seiner rechtlich geschützten Interessen. Er musste weder hinnehmen, dass der - sich in Begleitung weiterer Personen befindliche - Nebenkläger ihn, wie angekündigt, durchsuchen, noch dass dieser ihn deshalb durch Festhalten am Verlassen des Festgeländes hindern wollte.

2. Es kommt hinzu, dass die Urteilsgründe zu den genauen Umständen der Auseinandersetzung, der sog. Kampflage, an durchgreifenden Widersprüchen leiden. Es bleibt deshalb unklar, ob der Einsatz des Schneidwerkzeugs das Maß des Erforderlichen überschritten hat und eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr jedenfalls aus diesem Grund nicht in Betracht kommt.

a) Welche Reaktion auf einen Angriff durch Notwehr gerechtfertigt ist, lässt sich nur bei einer umfassenden und widerspruchsfreien Bewertung der gesamten Auseinandersetzung in objektiver und subjektiver Hinsicht beurteilen. In diese Bewertung der sog. Kampflage sind diejenigen tatsächlichen Umstände einzubeziehen, unter denen sich Angriff und Abwehr abspielen, sowie die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers einerseits und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen andererseits (vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 StR 582/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 2; Beschluss vom 29. Januar 2003 - 2 StR 529/02, NStZ 2003, 420, 421). Ob sich der Angeklagte im vorliegenden Fall auf Notwehr (§ 32 StGB) oder etwa auch auf entschuldigende Notwehrüberschreitung (§ 33 StGB) berufen kann, hängt danach entscheidend davon ab, wie sich diese Kampflage im Zeitpunkt des Einsatzes des Schneidwerkzeugs objektiv und insbesondere auch in der Vorstellung des Angeklagten darstellte (BGH, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 StR 582/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 2).

b) Eine solche widerspruchsfreie Feststellung und Bewertung der Kampflage ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Das Landgericht stellt insoweit zunächst fest, der Angeklagte habe seine Durchsuchung durch den Nebenkläger nicht zulassen wollen und sich deshalb entschlossen, die Feier zu verlassen und wegzulaufen. Bereits zuvor habe er es angesichts des ihn verfolgenden Nebenklägers und der ihn bedrängenden weiteren Personen „mit der Angst zu tun“ bekommen. Damit sind die beweiswürdigenden Erwägungen, auf die die Strafkammer ihre Schlussfolgerung stützt, der Nebenkläger habe dem Angeklagten seinerseits keinen Anlass gegeben, die Verletzungshandlungen aus Angst vor Gewalthandlungen durch ihn, den Nebenkläger, auszuüben, nicht vereinbar. Insoweit stellt das Urteil darauf ab, der Angeklagte selbst habe nicht geäußert, sich vom Nebenkläger bedroht gefühlt zu haben. Er habe keine Tätlichkeiten des Nebenklägers geschildert; nach seiner eigenen Darstellung habe er zwar eine gereizte Atmosphäre wahrgenommen, jedoch keine Angst vor Übergriffen gehabt.

Der neue Tatrichter wird daher genauere Feststellungen zur sog. Kampflage treffen und vor diesem Hintergrund die Frage der Rechtfertigung des Angeklagten nach § 32 StGB umfassend neu prüfen müssen.

3. Sollte der neue Tatrichter die Voraussetzungen einer Rechtfertigung nach § 32 StGB wiederum verneinen, wird er, anders als im angefochtenen Urteil geschehen, die Prüfung der Voraussetzungen eines minder schweren Falles im Sinne von § 224 Abs. 1 2. Halbsatz StGB auch unter Berücksichtigung einer möglichen Provokation des Angeklagten durch den Nebenkläger vorzunehmen haben (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Juni 2012 - 3 StR 206/12, BGHR StGB § 224 Abs. 1 Minder schwerer Fall 1).

III.

1. Die Aufhebung des strafrechtlichen Teils des angefochtenen Urteils führt nicht zur Aufhebung der zu Gunsten des Nebenklägers ergangenen Adhäsionsentscheidung (§ 406a Abs. 3 Satz 1 StPO); dessen Aufhebung bleibt gegebenenfalls dem neuen Tatrichter vorbehalten (vgl. nur BGH, Urteil vom 23. Juli 2015 - 3 StR 470/14, juris Rn. 56 mwN; SSW-StPO/Schöch, 2. Aufl., § 406a Rn. 7).

2. Jedoch bedurfte es in Bezug auf die Adhäsionsentscheidung der aus der Beschlussformel ersichtlichen Ergänzung des Tenors. Da der Nebenkläger ein Leistungsurteil begehrt hatte, aber nur ein Grundurteil ergangen ist, hat das Landgericht der Sache nach im Übrigen von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag gemäß § 406 Abs. 1 Satz 3 und 4 StPO abgesehen; diesen Ausspruch holt der Senat nach (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 2015 aaO).

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 885

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 270; StV 2018, 731

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner