HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 467
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 574/15, Urteil v. 31.03.2016, HRRS 2016 Nr. 467
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Waldshut-Tiengen vom 24. Juli 2015, soweit es den Angeklagten M. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die sich vor allem gegen die Ablehnung eines (bedingten) Tötungsvorsatzes wendet, hat mit der Sachrüge Erfolg.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte M., der an einer intellektuellen Minderbegabung, einer dissozial-narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung und einem Zustand nach Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom leidet, der rechtskräftig wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilte Mitangeklagte W. und das Tatopfer K. F. M. lebten in einem ambulant betreuten Wohnobjekt der Caritas. In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 2015 war K. F. M. im Zimmer der Hausbewohnerin Ma. erschienen, entfernte sich auf die entsprechende Aufforderung aber sofort wieder, ohne zudringlich geworden zu sein. Frau Ma. erzählte dies dem Mitangeklagten W., mit dem sie liiert war, und dem Angeklagten, mit dem sie früher eine Beziehung gehabt hatte, als man am Mittag bei einem Kasten Bier in der Küche zusammensaß. Der Angeklagte regte sich über den „bösen F.“ auf und äußerte sinngemäß, er werde ihn „kaputt machen“ und ihm zeigen, wo der „Bartel den Most holt“. Am späten Nachmittag trat er vor Wut die Zimmertür des K. F. M. ein, riss Schranktüren und Bettlaken heraus, kippte Sprudel und Limonade auf die Matratze und nahm Werkzeuge und Lebensmittel mit.
Als der 163 cm große und 52 kg schwere K. F. M. gegen 19.00 Uhr nach Hause kam, packte ihn der 180 cm große und 72 kg schwere Angeklagte im Flur, drückte ihn an die Wand und stellte ihn zur Rede. Er brachte ihn zu Boden, schleifte ihn hin und her und zog ihm die Kleidung bis auf Unterhose und Socken aus. Der Angeklagte schlug mehrmals mit der Hand gegen das Gesicht und die beiden Kopfseiten von K. F. M. und trat ihm mehrfach mit dem möglicherweise unbeschuhten Fuß gegen Oberkörper, Bauch und Beine. Dabei äußerte er, dass K. F. M. den Morgen nicht mehr erleben werde. Der Angeklagte zog K. F. M. an den Haaren in die Küche, wo sich dieser bei Frau Ma. und dem Mitangeklagten W. entschuldigte. Im weiteren Verlauf kroch K. F. M. in sein Zimmer oder wurde vom Angeklagten dorthin verbracht. Sodann schlug der Angeklagte im Zimmer von K. F. M. weiter auf ihn ein. Er zerbrach einen Stuhl und schlug mit einem Stuhlbein oder einer Holzlatte mindestens viermal gegen den Oberkörper und einmal gegen den linken Oberschenkel. Zeitweise hielt der Mitangeklagte W. das Opfer dabei fest, auch er schlug und trat K. F. M. Zwischendurch versuchten der Mitangeklagte W. und andere Hausbewohner, den Angeklagten von weiteren Tätlichkeiten abzuhalten. Der Angeklagte machte mehrere Trinkpausen in der Küche, wobei er auf die Mitbewohner einredete, keine Hilfe zu holen. Auch zog er das Telefonkabel aus der Wand. Als der Angeklagte gegen 22.25 Uhr mitbekam, dass die Mitbewohner über den Notruf Rettungskräfte anforderten, ließ er von K. F. M. ab. K. F. M. erlag während der Reanimationsmaßnahmen um 23.18 Uhr seinen Verletzungen. Er erlitt insbesondere Rippenserienfrakturen auf beiden Seiten mit Durchspießungen des Rippenfells, eine Spiralfraktur des linken Oberarmknochens sowie eine Fraktur des linken Oberschenkelhalses. Das Bruchfragment einer Rippe durchstieß den linken Lungenunterlappen und führte zu einem Hämatopneumothorax. Zudem kam es zu einer Lungenfettembolie, wahrscheinlich verursacht durch ausgetretenes Knochenmark. Mit todesursächlich war auch der durch die multiplen Verletzungen bewirkte erhebliche (innere) Blutverlust.
Das Landgericht konnte keine Überzeugung davon gewinnen, dass der Angeklagte, dessen Schuldfähigkeit nicht erheblich vermindert war, den Tod von K. F. M. als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen hat.
Zu Recht beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass das Landgericht die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes sowohl hinsichtlich des Wissenselementes als auch hinsichtlich des Willenselementes mit unzureichender Begründung abgelehnt hat.
Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei oder sieht er von einer weiter reichenden Verurteilung ab, weil er Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die revisionsrechtliche Prüfung der Beweiswürdigung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht insbesondere der Fall, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 5. November 2014 - 1 StR 327/14, NStZ-RR 2015, 83, 85; vom 11. September 2007 - 5 StR 213/07, wistra 2008, 22, 24 jeweils mwN).
Gemessen an diesen Grundsätzen erweist sich die Beweiswürdigung sowohl zum Wissens- als auch zum Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes als rechtsfehlerhaft.
1. Die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 23. Februar 2012 - 4 StR 608/11, NStZ 2012, 443, 444). Das Landgericht hat das Wissenselement u.a. deshalb verneint, weil es sich bei den Verletzungshandlungen nicht um äußerst gefährliche Gewalthandlungen gehandelt habe. Dabei stellt es allein auf Schläge mit der Hand und „lediglich“ fünf Schläge mit einem Stuhlbein oder einer Holzlatte sowie Tritte mit dem unbeschuhten Fuß ab, ohne zu erörtern, ob diese Tathandlungen überhaupt geeignet waren, Rippenserienbrüche beidseits sowie einen Spiralbruch im Arm und einen Oberschenkelhalsbruch herbeizuführen. Sollte es hingegen zur Herbeiführung der festgestellten Verletzungen anderer, konkret lebensgefährlicher Gewalthandlungen bedurft haben, liegt es nahe, dass der Angeklagte deren Gefährlichkeit auch erkannt hat.
2. Das Landgericht hat die Verneinung des Wissenselementes zudem auf den Umstand gestützt, dass der Angeklagte von K. F. M. abgelassen habe, als dieser noch Lebenszeichen von sich gab. Dies begegnet durchgreifenden Bedenken. Ob sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt für den Angeklagten erkennbar in einem lebensbedrohlichen Zustand befand, ist für die Beurteilung des Wissenselementes des bedingten Vorsatzes ohne Bedeutung. Maßgebend ist vielmehr, ob der Angeklagte bei der Tatausführung die Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs erkannt hat. Dies gilt in ähnlicher Weise für das Argument, die schwerwiegenden Verletzungen, an denen K. F. M. verstorben sei, seien mit Ausnahme der Knochenbrüche äußerlich nicht erkennbar gewesen. Zum einen waren gerade die Knochenbrüche mit todesursächlich. Zum anderen besagt die äußerliche Erkennbarkeit eingetretener Verletzungen nichts über das Wissen des Täters um mögliche Folgen der Verletzungshandlungen bei deren Zufügung. Deshalb kann auch der Zustand des Opfers bei Eintreffen der Rettungskräfte („noch ansprechbar“) nicht als Argument gegen das Vorliegen bedingten Vorsatzes herangezogen werden.
3. Das Schwurgericht hat auch das Willenselement des bedingten Vorsatzes nicht rechtsfehlerfrei verneint. Den Indizwert der Äußerungen des Angeklagten, dass K. F. M. „den Morgen nicht erleben“ werde und von ihm aus „verrecken kann“, hat es dadurch als relativiert angesehen, dass es sich keinen persönlichen Eindruck von den Zeugen Wa. und Fr. habe verschaffen und die näheren Einzelheiten nicht habe erfragen können. Im Widerspruch dazu hat die Strafkammer an anderer Stelle der Beweiswürdigung die Aussage des Zeugen Wa. als besonders belastbar bezeichnet und ihren Feststellungen im Wesentlichen seine Schilderung zugrunde gelegt. Auch führt die Strafkammer an anderer Stelle aus, dass sie keine grundsätzlichen Zweifel an der Aussage des Zeugen Fr. habe, der die Geschehnisse in einer Videovernehmung „detailliert und differenziert“ geschildert habe.
4. Soweit das Schwurgericht das Tatmotiv, K. F. M. lediglich zur Rede zu stellen und eine „Abreibung“ verpassen zu wollen, den Charakter des Angeklagten als „Sprücheklopfer“ und dessen emotionale Erregung als Umstände gewertet hat, die gegen eine Billigung des Todeseintritts sprächen, setzt es sich nicht mit der tatsächlichen Tatausführung über drei Stunden auseinander. Bei der Würdigung von Indizien ist eher auf die konkrete Sachlage abzustellen, als dass ein Fehlen einschlägiger Vortaten entscheidend wäre. Gerade die Tatsache, dass dem Angeklagten nach seiner eigenen Einlassung „komplett die Sicherung durchgebrannt“ war, kann ein Hinweis darauf sein, dass ihm der Tod des K. F. M. in der konkreten Situation zumindest gleichgültig war, zumal er vom Opfer erst abließ, nachdem er bemerkt hatte, dass Mitbewohner den Rettungsdienst anriefen. Soweit die Strafkammer insoweit zugunsten des Angeklagten gewürdigt hat, dass er zugelassen habe, dass die Zeugen Ma. und Wa. den Rettungswagen riefen und lediglich versucht habe, dem Zeugen Wa. beim Notruf zu soufflieren, wird diese Annahme von den Feststellungen nicht getragen. Danach hat der Angeklagte auf die Mitbewohner eingewirkt, keine Hilfe zu holen und hat zu diesem Zweck das Telefonkabel aus der Wand gezogen.
5. Über den Tatvorsatz wird deshalb erneut zu entscheiden sein. Der Senat hebt auch die Feststellungen des Urteils zum objektiven Tatgeschehen auf, um dem neuen Tatrichter eine umfassende neue Prüfung zu ermöglichen.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 467
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede