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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1170

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 133/15, Urteil v. 22.10.2015, HRRS 2015 Nr. 1170


BGH 4 StR 133/15 - Urteil vom 22. Oktober 2015 (LG Essen)

Rücktritt vom Versuch (Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch: erforderliche Feststellungen zum Rücktrittshorizont).

§ 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 24 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers G. M. wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 24. November 2014 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers G. M. verurteilt ist und im Rechtsfolgenausspruch.

Auf die Revision des Nebenklägers I. M. wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers I. M. verurteilt ist und im Rechtsfolgenausspruch.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Sachrüge, dass die Angeklagte nicht wegen versuchten Totschlags zum Nachteil des Nebenklägers G. M. verurteilt wurde, und den Strafausspruch. Die Nebenkläger erstreben mit der Rüge der „Verletzung formellen und materiellen Rechts“ die Verurteilung wegen versuchten Mordes zum Nachteil des Nebenklägers I. M. und wegen versuchten Totschlags zum Nachteil des Nebenklägers G. M. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft und die Rechtsmittel der Nebenkläger haben Erfolg.

1. Nach den von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen stach die Angeklagte am 31. März 2014 im Rahmen einer heftigen verbalen Auseinandersetzung zwischen Angehörigen der Familien Ga. und M., zu deren Zuspitzung sie maßgeblich beigetragen hatte, dem ihr den Rücken zukehrenden I. M. ein Küchenmesser mit einer ca. 12,5 cm langen spitz zulaufenden Klinge blitzschnell und völlig überraschend mit Wucht unterhalb der Schulterhöhe in den Nacken, wobei sie dessen Tod billigend in Kauf nahm. Sie zog das Messer sofort wieder aus dem Körper und ging auf G. M. zu, der seinem Sohn zu Hilfe eilen wollte, und stach ihm das Messer von vorn mit Wucht in den linken Mittelbauch, wobei sie auch dessen Tod billigend in Kauf nahm. Die Angeklagte zog das Messer wieder aus dem Bauch des Geschädigten, wenige Sekunden später wurde es ihr von K. aus der Hand genommen. Möglicherweise wurde die Angeklagte zuvor auch von B. zur Seite geschubst. Die Nebenkläger wurden von K. ins Krankenhaus gebracht. Ihre Verletzungen waren konkret lebensbedrohlich.

Die Jugendkammer hat in beiden Fällen einen Rücktritt vom (unbeendeten) Versuch des Mordes bzw. des Totschlags angenommen. Die Angeklagte habe mitbekommen, dass I. M. noch „handlungsfähig“ gewesen sei. Sie habe nach ihrer Vorstellung noch nicht alles getan, um den Erfolg der Tat, nämlich seinen Tod herbeizuführen, sondern habe von ihm abgelassen, um sich G. M. zuzuwenden. Auch hinsichtlich G. M. sei in dubio pro reo davon auszugehen, dass sie vom Versuch des Totschlags strafbefreiend zurückgetreten sei. Der Versuch, G. M. zu töten, sei nicht fehlgeschlagen, weil sie nicht ausschließbar noch ein zweites Mal auf diesen hätte einstechen können, bevor ihr das Messer abgenommen worden sei. Deshalb sei zu ihren Gunsten von einem unbeendeten Versuch auszugehen.

2. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger führen auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils; die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist hingegen nicht ausgeführt und damit unzulässig. Die Feststellungen und die Beweiswürdigung tragen nicht die Annahme der Jugendkammer, die Angeklagte sei vom versuchten Mord bzw. versuchten Totschlag jeweils strafbefreiend zurückgetreten.

a) Nach ständiger Rechtsprechung kommt es für die Abgrenzung eines unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein strafbefreiender Rücktritt gegeben ist, darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 f. mwN) oder sich - namentlich nach besonders gefährlichen Gewalthandlungen, die zu schweren Verletzungen geführt haben - keine Vorstellungen über die Folgen seines Handelns macht (vgl. Fischer, StGB, 62. Aufl., § 24 Rn. 15, 15a mwN).

b) Das Landgericht geht zwar im rechtlichen Ansatz zutreffend davon aus, dass es für die Beurteilung dieser Abgrenzungsfrage auf die Vorstellung der Angeklagten ankommt, trifft hierzu aber keine ausreichenden Feststellungen. Insoweit teilt das Urteil im Sachverhalt lediglich mit, die Angeklagte habe noch mitbekommen, dass die Verletzten handlungsfähig geblieben seien. Die Frage, ob und gegebenenfalls welche Schlüsse die Angeklagte hieraus hinsichtlich des möglichen Todes ihres Opfers gezogen und ob sie den Tötungsvorsatz jeweils endgültig aufgegeben hat, bleibt indes offen. So stellt die Jugendkammer auch im Rahmen der rechtlichen Würdigung für die Frage, ob der Tötungsversuch zum Nachteil des G. M. unbeendet war, fehlerhaft allein darauf ab, dass der Versuch nicht fehlgeschlagen war (UA 40).

c) Der aufgezeigte Erörterungsmangel nötigt zur Aufhebung des - an sich rechtsfehlerfreien - Schuldspruchs wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (vgl. KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., § 353 Rn. 12).

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Die Angeklagte war bei Begehung der Taten 19 Jahre und drei Monate alt (vgl. UA 40). Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre (§ 105 Abs. 3 Satz 1 JGG).

b) Die Erwägung der Jugendkammer, es bedürfe einer Strafe, die noch zwei Jahre beträgt und damit das Höchstmaß erreicht, das noch eine Strafaussetzung zur Bewährung zulässt, lässt eine unzulässige Vermischung des Vorgangs der Festsetzung der Jugendstrafe und der grundsätzlich nachrangigen Frage, ob deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden kann, besorgen (vgl. hierzu BGH, Urteile vom 20. November 2012 - 1 StR 428/12, NStZ 2013, 288, und vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, NStZ 2012, 634, Rn. 40 ff.; Beschluss vom 12. März 2008 - 2 StR 85/08, NStZ 2008, 693, jeweils mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1170

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede