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HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1105

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 4 ARs 20-2/14, Beschluss v. 09.09.2014, HRRS 2014 Nr. 1105


BGH 4 ARs 20-2/14 (2 StR 105/14) - Beschluss vom 9. September 2014 (BGH)

Recht auf den gesetzlichen Richter (Abgabe des Revisionsverfahrens an einen nachträglich zuständigen Spezialspruchkörper).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Regelung im Geschäftsverteilungsplan, die dazu führt, dass ein Senat nach der Anberaumung eines Termins auch dann mit einer Sache befasst bleibt, wenn sich nach diesem Zeitpunkt die Zuständigkeit eines nach demselben Geschäftsverteilungsplan gebildeten Spezialspruchkörpers herausstellt, richtet sich nach allgemeinen Merkmalen und entzieht dem Angeklagten nicht seinen gesetzlichen Richter (vgl. BGH NStZ 1984, 181)

Entscheidungstenor

Die Übernahme der Strafsache 2 StR 105/14 wird abgelehnt.

Gründe

Mit Beschluss vom 23. Juli 2014 hat der 2. Strafsenat die bei ihm unter dem Aktenzeichen 2 StR 105/14 anhängig gewordene Strafsache zuständigkeitshalber an den 4. Strafsenat abgegeben. Eine Übernahme der Strafsache kommt nicht in Betracht, weil die Abgabe nach den Regelungen des Geschäftsverteilungsplanes des Bundesgerichtshofs für das Jahr 2014 verspätet erfolgt ist.

I.

Gegenstand des Verfahrens sind Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 27. Juni 2013. Die Sache wurde am 27. Mai 2014 beim 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs anhängig. Mit Verfügung vom 17. Juni 2014 bestimmte dessen Vorsitzender Termin zur Hauptverhandlung über sämtliche Rechtsmittel auf den 23. Juli 2014. In der Hauptverhandlung beschloss der 2. Strafsenat, dass das Verfahren zuständigkeitshalber an den 4. Strafsenat abgegeben wird, weil es sich um eine Verkehrsstrafsache handele und deshalb der 4. Strafsenat zuständig sei. Die Akten gingen beim 4. Strafsenat am 3. September 2014 ein.

II.

Die Übernahme ist abzulehnen, weil die Abgabe durch den 2. Strafsenat erst in der Revisionshauptverhandlung erfolgt ist. In diesem Verfahrensstadium ist die Abgabe einer Strafsache an einen anderen Strafsenat nach Buchstabe A. Nr. VI. 1. a) Satz 1 des Geschäftsverteilungsplans des Bundesgerichtshofs nicht mehr möglich.

1. Die Regelung unter Buchstabe A. Nr. VI. 1. a) des Geschäftsverteilungsplanes bezieht sich auf alle bei dem Bundesgerichtshof nach § 130 Abs. 1 Satz 1 GVG gebildeten Senate und erfasst damit auch die Abgabe von Strafsachen.

a) Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ("ein Senat"), die eine Differenzierung zwischen Straf- und Zivilsenaten nicht vorsieht. Damit unterscheidet sich Nr. 1. a) von anderen unter Nr. VI. getroffenen Bestimmungen, die entweder durch die ausdrückliche Benennung der betroffenen Senate (vgl. Nr. 4. a) und c): "derjenige Zivilsenat") oder eine entsprechende Beschreibung des Regelungsgegenstandes (vgl. Nr. 1. b): "in Strafsachen"; Nr. 4. b): "Für Rechtsstreitigkeiten über Vergleiche"; Nr. 4. d): "Für Rechtsstreitigkeiten über ungerechtfertigte Bereicherung"; Nr. 9: "Rechtsstreitigkeiten in Zivilsachen") eindeutige Beschränkungen des Anwendungsbereiches enthalten. Hätte das Präsidium die Verfahrensabgabe zwischen den Senaten in Nr. 1. a) für Zivilsachen und in Nr. 1. b) für Strafsachen getrennt regeln wollen, wäre danach zu erwarten gewesen, dass es dies in Nr. 1. a) durch eine eindeutige - der Wortwahl in Nr. 1. b) entsprechende - Formulierung ("In Zivilsachen"; "Erachtet ein Zivilsenat" o.ä.) zum Ausdruck bringt. Dies ist jedoch nicht geschehen.

Auch der Umstand, dass in Nr. 1. a) Satz 1 Halbsatz 1 von einer "mündlichen Verhandlung" die Rede ist, weist nicht darauf hin, dass die Vorschrift nur für Zivilsachen gelten soll. Der Begriff der "mündlichen Verhandlung" wird auch in der Strafprozessordnung, und hier nicht nur im Rahmen von besonderen Verfahrensarten (vgl. §§ 118, 122 Abs. 2 Satz 2, § 138d, 309, 441 Abs. 3 StPO), sondern auch im strafprozessualen Regelverfahren (§ 338 Nr. 6 StPO) verwendet.

b) Stattdessen ist davon auszugehen, dass die unter Nr. VI. 1. getroffene Regelung für die Verfahrensabgabe zwischen den Senaten des Bundesgerichtshofs dem Regel-Ausnahme-Prinzip folgt. Dabei wird unter Nr. VI. 1. a) Satz 1 Halbsatz 1 zunächst für alle Senate bestimmt, unter welchen Bedingungen (vor der Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung, einstimmig erachtete Zuständigkeit eines anderen Senats aufgrund der Art des anzuwendenden Rechts) eine Abgabe zu erfolgen hat, während Halbsatz 2 (aus besonderen Gründen unzweckmäßig) und Nr. 1. b) (in Strafsachen keine Abgabe bei nachträglichem Entfallen einer Spezialzuständigkeit durch eine Prozesshandlung) Ausnahmen von dieser Regel enthalten.

2. Diese Auslegung entspricht auch Sinn und Zweck der unter Nr. VI. 1. a) getroffenen Regelung. Es wäre gerade in Strafsachen mit dem Beschleunigungsgebot nur schwer vereinbar, wenn eine Abgabe aufgrund von Zuständigkeitsfragen noch in einem Verfahrensstadium möglich wäre, in dem die mündliche Verhandlung bereits begonnen hat und das Verfahren kurz vor dem Abschluss steht. Eine Beschränkung der Abgabemöglichkeit auf den Verfahrensabschnitt bis zur Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung trägt dagegen dem Anspruch des Angeklagten auf einen zügigen Verfahrensabschluss Rechnung und korrespondiert mit vergleichbaren Abgabevorschriften der Strafprozessordnung (§§ 6a, 16 StPO).

3. Die Abgabe von Sachen zwischen den Senaten wird durch Buchstabe A. Nr. VI. 1. des Geschäftsverteilungsplanes abschließend geregelt. Nach der Anberaumung eines Termins ist eine Abgabe daher nicht mehr möglich. Dass das Präsidium die Frage, unter welchen Bedingungen eine Abgabe von Sachen zwischen den Senaten möglich sein soll, nur bis zur Anberaumung der mündlichen Verhandlung regeln und im Übrigen ungeregelt lassen wollte, liegt fern.

4. Die Regelung in Buchstabe A. Nr. VI. 1. gerät bei einer solchen Auslegung auch nicht in Konflikt mit dem Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Eine Regelung im Geschäftsverteilungsplan, die dazu führt, dass ein Senat nach der Anberaumung eines Termins auch dann mit einer Sache befasst bleibt, wenn sich nach diesem Zeitpunkt die Zuständigkeit eines nach demselben Geschäftsverteilungsplan gebildeten Spezialspruchkörpers herausstellt, richtet sich nach allgemeinen Merkmalen und entzieht dem Angeklagten nicht seinen gesetzlichen Richter (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 1983 - 2 StR 495/83, NStZ 1984, 181; SSW-StPO/Spiess, § 21e GVG Rn. 6 (Stichwort: Abstraktionsprinzip); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 21e GVG Rn. 3, jeweils zum Fall der Zuständigkeitsbegründung mit Eröffnung des Hauptverfahrens).

5. Der Abgabeschluss ist für den 4. Strafsenat nicht nach Nr. VI. 1. a) Satz 2, 1. Alt. des Geschäftsverteilungsplans bindend geworden. Dabei kann es dahinstehen, ob diese Regelung überhaupt anwendbar ist, wenn die Voraussetzungen für eine wirksame Abgabe nach Nr. VI. 1. a) Satz 1 nicht vorliegen.

Eine förmliche Anhörung des 4. Strafsenats zu einer Verfahrensübernahme unter Übersendung der Akten ist nicht erfolgt. Die Akten wurden dem Senat vielmehr erstmals mit dem Abgabebeschluss des 2. Strafsenats am 3. September 2014 vorgelegt. Das am 23. Juli 2014 in einer Sitzungspause des 2. Strafsenats zwischen den Vorsitzenden der Senate geführte Telefongespräch über den Verfahrensgegenstand und die Erwägung einer Abgabe diente nicht der Anhörung des Senats und konnte eine solche deshalb nicht ersetzen.

HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1105

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel