HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 633
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 180/13, Beschluss v. 04.06.2013, HRRS 2013 Nr. 633
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 19. November 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgerichtskammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes (Mordmerkmal: Heimtücke) zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte neben der Beweiswürdigung des Landgerichts vor allem die Annahme einer heimtückischen Tötung. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach den Feststellungen verschaffte sich der Angeklagte bereits seit geraumer Zeit nicht geringe Einnahmen dadurch, dass er Frauen aus Osteuropa nach Deutschland einschleuste und hier der Prostitution zuführte. Dabei hatten die Frauen Teile ihrer Einnahmen an den Angeklagten abzuführen. Das spätere Tatopfer P. lernte der Angeklagte im Herbst 2007 in der Ukraine kennen. Sie kam im Dezember 2007 nach Deutschland, um hier für eine gewisse Zeit durch die Ausübung der Prostitution Geld zu verdienen und anzusparen. Nach ihrer Rückkehr wollte sie von den hier erworbenen Mitteln eine Eigentumswohnung kaufen. Kurze Zeit nachdem P. nach Deutschland gekommen war, begann zwischen ihr und dem Angeklagten eine sexuelle Beziehung, in deren Verlauf sie sich in den Angeklagten verliebte. Dabei war ihr bekannt, dass der Angeklagte verheiratet war und Kinder hatte. Gleichwohl wünschte sie sich eine feste Partnerschaft mit ihm.
In der Zeit vom 7. Februar 2008 bis zum 14. Dezember 2009 verbüßte der Angeklagte in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne, Außenstelle Herzebrock, eine Freiheitsstrafe aus einer Verurteilung wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern, Menschenhandel und anderem. Er war Freigänger und arbeitete bei einer Dachdeckerfirma, zu der er mit seinem Pkw fuhr. Im Februar 2009 war er nur wenige Tage an seiner Arbeitsstelle. Daneben suchte er Bordelle auf, in denen Frauen für ihn tätig waren, und führte seine Beziehung mit P. weiter.
Am Morgen des 19. Februar 2009 verließ der Angeklagte um 6.30 Uhr die Justizvollzugsanstalt. Nachdem er an einer Tankstelle gefrühstückt und sich Wodka gekauft hatte, suchte er die Räumlichkeiten eines Nachtclubs in S. auf, in dem sich zu dieser Zeit - wie der Angeklagte wusste - keine weiteren Personen aufhielten. Kurz nach 9.30 Uhr kam auch P. in den Club. Der Angeklagte hatte inzwischen 600 ml Wodka getrunken und eine Zigarette mit Cannabis geraucht. Beide hielten sich zunächst in der Küche des Clubs auf, tranken Kaffee und unterhielten sich. Schließlich gingen sie auf ein Zimmer, wobei P. annahm, dass es dort zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr kommen würde.
Spätestens jetzt entschloss sich der Angeklagte, P. zu töten. Das Motiv vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Es hält es für möglich, dass P., die als Prostituierte gute Einnahmen erzielte, dem Angeklagten einen größeren Geldbetrag zur Aufbewahrung gegeben hatte und nun dessen Herausgabe forderte, um das Geld bei ihrer für März 2009 geplanten Heimreise mitzunehmen; der Angeklagte aber zur Rückgabe des Geldes entweder nicht imstande oder nicht willens war. Auch ist es für das Landgericht "denkbar", dass der Angeklagte, der nur eine sexuelle Beziehung zu P. wollte, sich von ihr unter Druck gesetzt fühlte, weil sie möglicherweise von ihm erwartete, dass er sich von seiner Frau trennt. Vielleicht drohte P. dem Angeklagten auch, seine Frau von dem Verhältnis in Kenntnis zu setzen, was er um jeden Preis verhindern wollte. Gegebenenfalls spielten auch andere Gründe eine Rolle.
Der Angeklagte nutzte die Gelegenheit, seinen Tatentschluss umzusetzen. P. rechnete an diesem Morgen weder mit einem lebensbedrohlichen, noch mit einem gegen ihre körperliche Integrität gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff seitens des Angeklagten. Dieser fügte ihr am linksseitigen Scheitel-/Hinterhauptbereich eine Verletzung zu, die auf einer stumpfen Gewalteinwirkung beruhte. Wie der Angeklagte seinem Opfer diese Verletzung beibrachte, vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Als Ursache kommen beispielhaft ein Schlag mit einem harten Gegenstand oder der Faust, aber auch ein Stoß mit dem Kopf gegen eine Wand oder Ähnliches in Betracht. P. war hierdurch in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zumindest eingeschränkt. Im Anschluss daran legte ihr der Angeklagte zwei 75 cm lange und 1 cm breite Kabelbinder über den Pulloverkragen um den Hals, sodass sich die Zugenden hinten befanden, und zog diese kräftig zu, bis der Tod durch Erdrosseln eintrat. Zu irgendwelchen Abwehrreaktionen war P. infolge der Einwirkung auf den Hinterkopf und der Atemnot nicht in der Lage.
Nach der Tat wickelte der Angeklagte die Leiche von P. in einen Plastiksack und packte sie in einen Rollkoffer. Anschließend beseitigte er alle Spuren. Den Rollkoffer verstaute er am Folgetag in einer Gefriertruhe, die in der Garage des Clubs aufgestellt war und sich in Betrieb befand. Im Juli oder August 2009 verbrachte er die Gefriertruhe mit der Leiche von P. in eine von ihm angemietete Garage. Die Gefriertruhe nahm er wieder in Betrieb. Die tiefgefrorene Leiche wurde am 27. Februar 2012 bei einer Durchsuchung im Rahmen eines anderen Ermittlungsverfahrens aufgefunden.
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg, weil die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Überzeugung vom Vorliegen einer heimtückischen Tötung begründet hat, auch unter Berücksichtigung des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 2012 - 4 StR 499/11, Rn. 5 mwN) rechtlicher Nachprüfung nicht standhalten (§ 261 StPO).
1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet (BGH, Urteil vom 6. September 2012 - 3 StR 171/12, NStZ-RR 2012, 371, Urteil vom 30. August 2012 - 4 StR 84/12, Rn. 12; Urteil vom 20. Januar 2005 - 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691, 692; jeweils mwN). Hiervon ist auch das Landgericht im Ansatz zutreffend ausgegangen. Seine Ausführungen zur Arglosigkeit des Tatopfers sind jedoch lückenhaft, weil bedeutsame Gesichtspunkte, die gegen diese Annahme sprechen könnten, nicht in Erwägung gezogen worden sind.
a) Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, P. habe am Tattag nicht damit gerechnet, von dem Angeklagten angegriffen zu werden. Vielmehr sei sie davon ausgegangen, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben. Anhaltspunkte für einen vorangegangenen Streit mit dem Angeklagten lägen nicht vor, ebenso wenig dafür, dass der Angeklagte ihr gegenüber jemals gewalttätig geworden ist (UA 31). Die Aussagen der vernommenen Zeugen hätten keinen Hinweis auf Streitigkeiten oder körperliche Auseinandersetzungen im Verhältnis zwischen dem Angeklagten und P. in der Zeit vor der Tat ergeben. Auch der Angeklagte selbst habe in dieser Hinsicht nichts angedeutet. Vielmehr habe er angegeben, dass P. akzeptiert hätte, dass er seine Familie für sie nicht verlassen würde. Konkrete Anhaltspunkte für weiteres Konfliktpotential seien nicht vorhanden (UA 26). Das Fehlen jeglicher Abwehrverletzungen mache deutlich, dass P. keine entsprechenden Maßnahmen gegen ein gewaltsames Vorgehen des Angeklagten traf (UA 31). Da sie keine Gewalteinwirkung von vorne und keine Abwehrverletzung aufgewiesen habe, sei die Annahme lebensfremd, dass ihr der Angeklagte am Tattag offen in bedrohlicher und übergriffiger Weise gegenüber getreten sei (UA 26 f.).
b) Zwar liegt es nach den Umständen nahe, dass P. noch nicht mit einem Angriff rechnete, als sie mit dem Angeklagten auf das Zimmer ging, um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zu haben, doch hätte sich das Landgericht an dieser Stelle mit den Sachverhaltsvarianten auseinandersetzen müssen, die es selbst bei der Erörterung möglicher Tatmotive und der Ursache für die Hinterhauptverletzung in Betracht gezogenen hat.
Sowohl die für möglich gehaltene Rückforderung von Geld, das der Angeklagte nicht mehr hatte oder nicht zurückgeben wollte, als auch die Drohung mit einer Offenlegung der außerehelichen sexuellen Beziehung, die der Angeklagte "um jeden Preis" vermeiden wollte, können zu einem Streit geführt haben, der bei dem Tatopfer einen Verlust der Arglosigkeit zur Folge hatte. Soweit das Landgericht im Rahmen der Beweiswürdigung aus der Einlassung des Angeklagten, P. hätte seine Entscheidung akzeptiert, für sie nicht die Familie zu verlassen, abgeleitet hat, dass insoweit kein Konfliktpotential gegeben war (UA 26), steht dies in einem inneren Widerspruch zu der in die Feststellungen aufgenommenen Annahme, der Angeklagte könnte sich zur Tötung entschieden haben, weil er sich von der eine Trennung von seiner Frau erwartenden P. unter Druck gesetzt fühlte oder sogar von ihr mit einer Offenbarung des außerehelichen Verhältnisses bedroht worden sei (UA 9). Auch hätte bei der Bewertung dieser Angaben des Angeklagten in Betracht gezogen werden müssen, dass er sich mit der Behauptung verteidigt hat, P. sei bei einem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, bei dem sie sich selbst Kabelbinder als Drosselungswerkzeuge um den Hals gelegt habe, unerwartet zu Tode gekommen. Eine Offenlegung von - möglicherweise gravierenden - Streitigkeiten wäre mit dieser Verteidigungslinie nicht vereinbar.
Sollte sich P. die vor der Drosselung erlittene Hinterhauptverletzung tatsächlich durch einen Sturz gegen eine Wand nach einem Stoß des Angeklagten zugezogen haben, wie es das Landgericht neben anderen Geschehensvarianten ausdrücklich für möglich hält (UA 9), könnte dies für eine vorangegangene körperliche Auseinandersetzung sprechen. In diesem Fall käme auch dem Umstand, dass diese Verletzung nicht (unmittelbar) auf einer Gewalteinwirkung von vorne beruht, keine durchgreifende Bedeutung mehr zu. Das vom Landgericht herangezogene Fehlen von Abwehrverletzungen belegt nur, dass P. jedenfalls im Zeitpunkt der Drosselung zu einer Gegenwehr nicht mehr in der Lage war, doch lässt dies noch nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass diese Wehrlosigkeit auf einer vorgängigen Arglosigkeit beruhte.
2. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Obgleich sich das Landgericht rechtsfehlerfrei davon überzeugt hat, dass der Angeklagte P. zunächst die Hinterhauptverletzung beibrachte und sie dann mit den beiden um ihren Hals gelegten Kabelbindern erdrosselte, hat der Senat davon abgesehen, die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechtzuerhalten (§ 353 Abs. 2 StPO), weil ein enger tatsächlicher Zusammenhang mit den rechtsfehlerhaften Feststellungen zur Arglosigkeit des Tatopfers besteht und zumindest teilweise dieselben Beweisanzeichen (Fehlen auf Selbstrettungsversuche hindeutender Spuren im Halsbereich, vollständig erhaltene künstliche Fingernägel etc.) gewürdigt worden sind (BGH, Urteil vom 27. November 1959 - 4 StR 394/59, BGHSt 14, 30, 35).
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass der Tatrichter nicht gehalten ist, zu Gunsten des Angeklagten Geschehensabläufe zu unterstellen, für deren Vorliegen es keine realen Anknüpfungspunkte gibt (BGH, Urteil vom 20. Mai 2009 - 2 StR 576/08, NStZ 2009, 630, 631). Für die Annahme einer heimtückischen Tötung ist es wesentlich, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das Opfer kann daher auch dann arglos im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, also etwa von vorne angreift, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, um dem Angriff noch irgendwie zu begegnen (BGH, Urteil vom 16. Februar 2012 - 3 StR 346/11, NStZ-RR 2012, 245; Urteil vom 20. Juli 2004 - 1 StR 145/04; Urteil vom 5. Februar 1997 - 2 StR 509/96, NStZ-RR 1997, 168).
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Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel