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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 944

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 179/13, Urteil v. 15.08.2013, HRRS 2013 Nr. 944


BGH 4 StR 179/13 - Urteil vom 15. August 2013 (LG Bochum)

Anordnung der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik (Gefährlichkeitsprognose: zukünftige Begehung erhebliche Straftaten).

§ 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit und mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) rechtfertigen nur schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (vgl. BGHSt 27, 246, 248).

2. Die Anlasstat selbst muss dabei nicht erheblich im Sinne des § 63 StGB sein. Maßgeblich ist vielmehr, welche Taten künftig von dem Täter infolge seines Zustandes zu erwarten sind und ob diese erheblich im Sinne des § 63 StGB sind (vgl. BGH NStZ 2008, 563). Allerdings bedarf die Gefährlichkeitsprognose einer besonders sorgfältigen Darlegung, wenn die Anlasstaten nach ihrem Gewicht dem unteren Bereich strafbaren Verhaltens zuzuordnen sind.

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 14. Dezember 2012 wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte der Beleidigung in acht Fällen und des Missbrauchs von Notrufen schuldig ist.

2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beleidigung in neun Fällen und wegen Missbrauchs von Notrufen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt lediglich zu einer Änderung des Schuldspruchs; im Übrigen ist es unbegründet.

I.

Der Senat hat das Verfahren in der Hauptverhandlung auf Antrag des Generalbundesanwalts durch Beschluss gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall 1 der Anklage 36 Js 190/12 wegen Beleidigung verurteilt worden ist. Dies führt zur entsprechenden Änderung des Schuldspruchs und zum Wegfall der wegen dieser Tat verhängten Einzelfreiheitsstrafe von vier Monaten.

In dem nach der Verfahrensbeschränkung verbliebenen Umfang hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Die Gesamtfreiheitsstrafe kann trotz des Wegfalls der im Fall 1 der Anklage 36 Js 190/12 verhängten Einzelstrafe bestehen bleiben. Angesichts der verbleibenden Einzelfreiheitsstrafen von zweimal vier Monaten und siebenmal drei Monaten schließt der Senat aus, dass das Landgericht ohne die in dem eingestellten Fall verhängte Einzelstrafe zu einer niedrigeren Gesamtstrafe gelangt wäre.

II.

1. Der jetzt 59 Jahre alte Angeklagte ist mehrfach u.a. wegen sexuell motivierter Taten vorbestraft und war auch bereits in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht:

Am 9. März 1999 wurde der Angeklagte vom Amtsgericht W. wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte nachts an einer Bushaltestelle eine Frau mit den Worten "na, hast du heute schon gebumst?" angesprochen und in den Schritt gefasst. Zwei Tage später war er auf dem Fahrrad an zwei Frauen vorbeigefahren und hatte unvermittelt einer mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen.

Am 30. November 2001 wurden gegen den Angeklagten vom Landgericht Bochum zwei Gesamtfreiheitsstrafen von einem Jahr und drei Monaten und von zwei Jahren verhängt sowie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Der Verurteilung lagen u.a. folgende Fälle der Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und der Beleidigung zu Grunde: Am 12. Mai 2001 gegen 23.10 Uhr war der Angeklagte am Omnibusbahnhof in W. an ein fünfzehnjähriges Mädchen herangetreten und hatte sie gefragt "soll ich dir meinen Samen in deine Unterhose tun?". Am 9. Juni 2001 gegen 1.30 Uhr nachts hatte er sich einer Frau auf einem Fahrrad auf der Bahnhofstrafe in W. genähert und sie angesprochen: "Ich habe die Vorhaut zurückgezogen, hast Du Lust?". Als ihn die Frau aufforderte, zu verschwinden, hatte ihr der Angeklagte in die Pedale getreten, sie mit den Worten "Du alte Hure" beschimpft und ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Am selben Tag um 14.45 Uhr war er mit dem Fahrrad auf einen Schulhof gefahren und hatte sich zwei spielenden achtjährigen Mädchen genähert. Er hatte sie gefragt, ob sie beschnitten seien und ob er mal gucken solle. Als die beiden Mädchen zu einem Klettergerüst gingen, hatte er sich entfernt. Bei allen Taten war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten wegen einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, einer Störung der Sexualpräferenz und Pädophilie erheblich vermindert.

Die Maßregel wurde ab März 2002 in der Sozialtherapeutischen Anstalt L. vollzogen. Das Oberlandesgericht H. erklärte die Unterbringung zum 30. November 2011 aus Verhältnismäßigkeitsgründen für erledigt, der Strafrest wurde zur Bewährung ausgesetzt und es trat Führungsaufsicht ein. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht aus, dass sich aus den Stellungnahmen der Klinik und den vorliegenden Sachverständigengutachten die Gefahr erheblicher Straftaten nicht ableiten lasse.

Nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug verbrachte der Angeklagte einen großen Teil seiner Zeit damit, durch die Stadt zu laufen und nach Mädchen und Frauen Ausschau zu halten, die ihn sexuell ansprachen. Er onanierte zwei- bis dreimal pro Woche, wobei er sich u.a. vorstellte, selbst eine Beschneidung an einem zwölf bis dreizehn Jahre alten Mädchen vorzunehmen oder ein solches Mädchen überall anzufassen und dann den Geschlechtsverkehr mit ihr auszuüben. Bei Telefonaten oder persönlichen Kontakten konfrontierte er Frauen und Mädchen mit obszönen Aussagen, um sich durch deren Demütigung und Angst zu erregen und dann zu onanieren. Der Angeklagte empfand seine annähernd täglich auftretenden Fantasien als sehr drängend, wobei er zuletzt auch den Drang verspürte, die Angesprochenen berühren zu müssen.

2. Der Verurteilung des Angeklagten wegen Beleidigung in acht Fällen im vorliegenden Verfahren liegen im Wesentlichen folgende Feststellungen zu Grunde:

Der Angeklagte rief im Zeitraum vom 20. Dezember 2011 bis zum 21. Mai 2012 in sieben Fällen bei Frauen an mit Aussagen wie: "Hattest du heute unten schon einen drin?", "Ich möchte meinen Samen bei dir los werden" oder "ich will dich ficken". Einer Frau sagte er, dass er sie beschneiden wolle. Am 29. Mai 2012 sprach er eine Frau an einer Bushaltestelle an und fragte mehrfach "Magst Du gerne vögeln?". Als die Frau drohte, die Polizei zu rufen, erklärte der Angeklagte, dass sie das ruhig machen solle und berührte sie anschließend gezielt an der rechten Hüfte. Bei allen Taten war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich vermindert. Das Landgericht hat weitere ähnliche angeklagte Vorwürfe festgestellt. So hatte der Angeklagte u.a. bei zwei Gelegenheiten ein zehn und ein elf Jahre altes Mädchen sexuell motiviert angesprochen. Diese Fälle wurden nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

3. Nach dem Gutachten der Sachverständigen liegt beim Angeklagten eine kombinierte Persönlichkeitsstörung beruhend auf einer schizoiden Persönlichkeit und schweren dissozialen Auffälligkeiten sowie eine insbesondere von nicht kontrollierbaren sadistischen Neigungen geprägte sexuelle Devianz vor, welche das Ausmaß einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erreichen. Die Sachverständige stützte sich bei ihrer Diagnose maßgeblich auf die Angaben des Angeklagten im Rahmen der Exploration. Nach seinen eigenen Schilderungen habe der Angeklagte ab dem Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren sexuelle Erregung verspürt, wenn er fremden Frauen auf das Gesäß geschlagen habe. Bei der Masturbation spiele in seinen sexuellen Fantasien die Demütigung und Angst von Frauen und Mädchen eine erhebliche Rolle. Er sei selbst erleichtert darüber, dass noch nichts Schlimmeres passiert sei. Er stelle sich seit ca. fünfzehn Jahren insbesondere vor, dass er selbst junge Mädchen beschneide, was ihn in besonderem Maße errege, sexuelle Fantasien im Zusammenhang mit Kindern habe er etwa seit dem 30. Lebensjahr. Seine sexuellen Wünsche empfinde er als sehr drängend und für ihn nicht beherrschbar.

Das Landgericht hat die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus bejaht. Bei der kombinierten Persönlichkeitsstörung und der sexuellen Devianz handele es sich um einen länger dauernden Zustand im Sinne des § 63 StGB. Die Persönlichkeitsstörung und die sexuelle Devianz seien sehr verfestigt. Das Krankheitsbild sei trotz der fast zehn Jahre währenden Unterbringung im Maßregelvollzug als nahezu untherapiert anzusehen. Das Krankheitsbild mache es konkret wahrscheinlich, dass der Angeklagte zukünftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde.

Der Angeklagte habe gegenüber der Sachverständigen geschildert, dass es ihm oftmals nicht gelinge, seine Fantasien zu unterdrücken. Dann habe es ihm zunächst genügt, Telefonanrufe mit obszönem Inhalt zu tätigen. Zuletzt habe er aber das Gefühl gehabt, er müsse jemanden berühren, eine Handlungskontrolle werde für ihn zunehmend schwerer. Er sei selbst erleichtert, dass es noch nicht zu weiter gehenden Taten als den angeklagten gekommen sei. Angesichts dessen bestehe die konkrete Gefahr, dass der Angeklagte seine Fantasien in weiter gehender Weise umsetzen werde. Es seien erhebliche Taten - gefährliche Körperverletzungen, Vergewaltigungen, sexueller Missbrauch von Kindern - konkret wahrscheinlich. Da der Angeklagte insbesondere auf Kinder zugehe, bestehe die jederzeitige Gefahr, dass er bei einem aus seiner Sicht geeigneten Opfer seine Körperverletzungs- und Missbrauchsvorstellungen umsetze.

III.

Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten nach § 63 StGB hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die für den Angeklagten ungünstige Gefährlichkeitsprognose beruht auf einer umfassenden Gesamtwürdigung der rechtsfehlerfrei festgestellten Tatsachen und weist keinen Wertungsfehler auf.

Wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit und mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) rechtfertigen nur schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (vgl. BGH, Urteile vom 17. August 1977 - 2 StR 300/77, BGHSt 27, 246, 248 und vom 15. August 2007 - 2 StR 309/07, NStZ 2008, 210, 212). Die Anlasstat selbst muss dabei nicht erheblich im Sinne des § 63 StGB sein. Maßgeblich ist vielmehr, welche Taten künftig von dem Täter infolge seines Zustandes zu erwarten sind und ob diese erheblich im Sinne des § 63 StGB sind (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563 und vom 11. September 2008 - 4 StR 284/08; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 63 Rn. 3). Allerdings bedarf die Gefährlichkeitsprognose einer besonders sorgfältigen Darlegung, wenn die Anlasstaten nach ihrem Gewicht dem unteren Bereich strafbaren Verhaltens zuzuordnen sind (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 - 4 StR 485/99). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Delikte durch den Angeklagten bejaht.

Das sachverständig beratene Landgericht hat bei seiner Prüfung die wesentlichen prognoserelevanten Umstände bedacht. Dabei hat es zu Recht auch die Sachverhalte, die den eingestellten Taten zugrunde liegen, in seine Prüfung einbezogen, da sie rechtsfehlerfrei festgestellt worden sind.

Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass die Strafkammer bei der Gesamtabwägung maßgeblich auf die Schilderungen des Angeklagten abgestellt hat und davon ausgegangen ist, dass der Angeklagte nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug zunehmend von gewaltbesetzten, gegen schwache Opfer gerichteten sexuellen Fantasien bedrängt wird, seine Fähigkeit, entsprechende Handlungsantriebe zu beherrschen, stetig abnimmt und zuletzt der Drang, "jemanden zu berühren", beim Angeklagten vorherrschend wurde. Die Schilderungen des Angeklagten korrespondieren mit der Feststellung, dass er einen Großteil seiner Zeit damit verbrachte, nach Mädchen und Frauen, die ihn sexuell ansprechen, Ausschau zu halten und bei der letzten Tat über die sexuelle Beschimpfung und Herabwürdigung hinaus auch den Körperkontakt zu dem Tatopfer suchte. Das Landgericht hat dabei nicht verkannt, dass es in der Zeit zwischen der Entlassung des Angeklagten aus dem Maßregelvollzug und seiner erneuten vorläufigen Unterbringung - also in etwa elf Monaten - dennoch nicht zu erheblichen Delikten gekommen ist. In Übereinstimmung mit der Sachverständigen ist es aber rechtlich beanstandungsfrei vor dem Hintergrund der drängenden Gewaltfantasien des Angeklagten und der Umstände der letzten Tat nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass bei ihm ein vollständiger Zusammenbruch der Impuls- und Handlungskontrolle jederzeit möglich und deshalb damit zu rechnen ist, dass der Angeklagte erhebliche Gewaltdelikte, insbesondere (gefährliche) Körperverletzungen, Vergewaltigungen und sexuelle Missbrauchstaten, mithin erhebliche Taten im Sinne des § 63 StGB begehen wird.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 944

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel