HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 83
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 BGs 1/11, Beschluss v. 26.01.2011, HRRS 2012 Nr. 83
Die Anträge des Verteidigers Rechtsanwalt R. vom 24. November 2010 und des Verteidigers Rechtsanwalt E. vom 20. Dezember 2010 auf gerichtliche Entscheidung über die durch den Generalbundesanwalt erfolgte Versagung einer vollständigen Akteneinsicht werden zurückgewiesen.
Der Beschuldigte hat die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen zu tragen.
Der Verteidiger Rechtsanwalt E. hat mit Schriftsatz vom 11. Juni 2010, der Verteidiger Rechtsanwalt R. mit Schriftsatz vom 22. Juni 2010 bei 1 dem Generalbundesanwalt die Verteidigung des Beschuldigten angezeigt und Einsicht in die Akten beantragt. Daraufhin übersandte der Generalbundesanwalt den Verteidigern gemäß § 147 Abs. 3 StPO jeweils eine Ablichtung des Gutachtens "D." zur Einsichtnahme. Eine weiter gehende Aktensicht lehnte der Generalbundesanwalt unter Hinweis auf § 147 Abs. 2 StPO ab.
Der Beschuldigte ist am 11. Oktober 2010 aufgrund eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag vom 28. September 2010 in Frankreich festgenommen worden und befindet sich seitdem dort in Auslieferungshaft für den Internationalen Strafgerichtshof.
Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2010 zeigte Rechtsanwalt E. die Bestellung von Rechtsanwalt Prof. Dr. G., P., als weiteren Verteidiger des Beschuldigten an und beantragte im eigenen sowie in dessen Namen beim Generalbundesanwalt (erneut) eine vollständige Akteneinsicht. Das Bundesamt für Justiz fragte daraufhin bei der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs an, ob die Bewilligung der beantragten Akteneinsicht den Untersuchungszweck des dortigen Verfahrens gefährden würde.
Mit Verfügung vom 3. November 2010 lehnte der Generalbundesanwalt das vorstehend genannte Akteneinsichtsersuchen aus den Gründen des § 147 Abs. 2 StPO ab. Durch die Gewährung einer über die bisher erfolgte Akteneinsicht hinausgehende Einsichtnahme werde der Untersuchungszweck im vorliegenden Verfahren sowie im Verfahren vor dem Internationalen Staatsgerichtshof gefährdet. Wegen der mit der Inhaftierung des Beschuldigten zusammenhängenden Fragen verwies der Generalbundesanwalt den Verteidiger darauf, bei der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs um Akteneinsicht nachzusuchen.
Mit Schriftsatz vom 24. November 2010 hat Rechtsanwalt R. gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO eine gerichtliche Entscheidung über die seitens des Generalbundesanwalts erfolgte Ablehnung einer Akteneinsicht nach § 147 Abs. 1 StPO beantragt. Diesem Antrag hat sich Rechtsanwalt E. mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2010 angeschlossen.
Mit Verfügung vom 3. Dezember 2010 hat der Generalbundesanwalt gemäß § 153 f Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO in Verbindung mit § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO im Hinblick auf das von der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs betriebene Ermittlungsverfahren von der Verfolgung der dem Beschuldigten im vorliegenden Verfahren zur Last gelegten Taten abgesehen, soweit er verdächtig ist, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gemäß §§ 7, 8, 9 und 11 des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) in Verbindung mit § 4 VStGB begangen zu haben. Hinsichtlich des Tatvorwurfs der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß §§ 129a, 129b StGB hat der Generalbundesanwalt gemäß § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO von der weiteren Verfolgung abgesehen.
Rechtsanwalt R. fragte daraufhin am 10. Dezember 2010 telefonisch beim Generalbundesanwalt an, ob nunmehr eine weiter gehende Akteneinsicht gewährt werde. Der Generalbundesanwalt lehnte dies mit Verfügung vom selben Tage mit der Begründung ab, das hiesige Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten sei zwar mittlerweile eingestellt worden, die beantragte Akteneinsicht könne aber (neben der vom Generalbundesanwalt gemäß seiner Stellungnahme vom 5. Januar 2011 weiterhin bejahten Gefährdung des Untersuchungszwecks des hiesigen Verfahrens für den Fall einer möglichen Wiederaufnahme der Ermittlungen) den Untersuchungszweck des Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof gefährden. Nach dem Kenntnisstand des Generalbundesanwalts habe der Internationale Strafgerichtshof noch keine Akteneinsicht gewährt, so dass dessen Entscheidung über eine Akteneinsicht nicht vorgegriffen werden solle. Ein Recht des Beschuldigten auf eine weiter gehende als die bisher gewährte Akteneinsicht bestehe auch nicht gemäß § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO, da der Beschuldigte sich nicht im vorliegenden Ermittlungsverfahren, sondern aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs in Haft befinde und daher eine Einsicht in die für den Erlass dieses Haftbefehls und die Haftfortdauer maßgeblichen Akten nach den Verfahrensregeln des Internationalen Strafgerichtshofs zu erfolgen habe.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2010 teilte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs auf die oben genannten Anfrage des Bundesamtes für Justiz mit, die von den Verteidigern beantragte Einsicht in die Akten des vorliegenden Verfahrens könne den Untersuchungszweck des beim Internationalen Strafgerichtshof geführten Verfahrens gefährden. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme vom 5. Januar 2011 mitgeteilt hat, verfügt die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs noch nicht über alle Informationen aus dem vorliegenden Verfahren, so dass hieraus sich ergebende weitere Ermittlungsansätze nach der Einschätzung des Generalbundesanwalts durch eine vorzeitige Akteneinsicht an die Verteidiger des Beschuldigten zunichte gemacht würden.
Mit Schriftsätzen vom 3. Januar 2011 hat Rechtsanwalt R. gegen die oben genannte Verfügung des Generalbundesanwalts vom 3. Dezember 2010 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben (2 BvR 1/11) und zugleich beantragt, den Generalbundesanwalt im Wege der einstweiligen Anordnung anzuweisen, die Ermittlungen gegen den Beschuldigten bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde wieder aufzunehmen.
Zur Begründung des vorliegenden Antrags auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO haben die Verteidiger des Beschuldigten im Wesentlichen ausgeführt:
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts sei ihnen gemäß § 147 Abs. 1 StPO Einsicht in die Akten des vorliegenden Verfahrens zu gewähren. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO lägen vor. Zum einen sei das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten durch die oben erwähnte Verfügung des Generalbundesanwalts vom 3. Dezember 2010 - jedenfalls im Hinblick darauf, dass Verfahrensidentität mit dem vor dem Internationalen Strafgerichtshof geführten Verfahren bestehe, und der Grundsatz "ne bis in idem" zu berücksichtigen sei - abgeschlossen. Zudem befinde sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß; insoweit reiche auch eine Haft in anderer Sache aus. Dies gelte insbesondere im Falle einer Identität der Verfahrensgegenstände. In der Nichtgewährung vollständiger Akteneinsicht liege insoweit auch ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1, 3 Buchst. a und b EMRK.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei auch begründet. Ohne die begehrte Akteneinsicht sei der Beschuldigte gehindert, die ihm gemäß Art. 6 EMRK zustehenden Rechte wahrzunehmen. So bedürfe es der Akteneinsicht, um zum einen überprüfen zu können, ob der Internationale Strafgerichtshof zuständig und das Verfahren vor diesem zulässig sei, und zum anderen, ob mit dem Absehen von einer Verfolgung der Tat gemäß § 153f StPO ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) vorliege.
Die Verfahrensvorschrift des § 153f StPO habe einen Doppelcharakter; sie sei eine Einstellungsvorschrift, regele aber auch - jedenfalls in Verbindung mit Art. 17 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (BGBl. 2000 II S. 1394, in Kraft getreten für die Bundesrepublik Deutschland am 1. Juli 2002, BGBl. II S. 293; im Folgenden: Römisches Statut) die Zuständigkeit des Gerichts. Letzteres sei, da § 153f StPO der Staatsanwaltschaft ein Ermessen einräume, verfassungsrechtlich problematisch, weil auf diese Weise die Frage der Zuständigkeit eines Gerichts in die Hände der Exekutive gelegt werde. Dies verstoße selbst im Falle einer ermessensfehlerfreien Entscheidung der Staatsanwaltschaft gegen die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 16 Satz 2 GVG), zumal der Beschuldigte dadurch beschwert sei, dass die nach dem Römischen Statut vorgesehenen abstrakten Strafandrohungen höher seien als die des VStGB und des StGB. Eine Verfahrenseinstellung nach § 153f StPO sei daher verfassungswidrig. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten "beweglichen Zuständigkeit" in Bezug auf die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafgerichte (BVerfGE 9, 223; 22, 254) ändere hieran nichts. Das vorliegende Verfahren sei fortzuführen und demzufolge das Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof unzulässig.
Gegen die Zulässigkeit des seitens des Generalbundesanwalts erfolgten Absehens von der Verfolgung gemäß § 153f StPO spreche zudem der Inhalt der mit Schriftsatz vom 30. Dezember 2010 vorgelegten schriftlichen Erklärung des Beschuldigten vom 28. Dezember 2010, sich einem Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig stellen und einer Auslieferung hierher nicht widersprechen zu wollen.
Die beantragte Akteneinsicht sei auch für die Prüfung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs und der Zulässigkeit des Verfahrens vor diesem erforderlich. Da die gegen den Beschuldigten in den Verfahren des Generalbundesanwalts und vor dem Internationalen Strafgerichtshof erhobenen Tatvorwürfe jedenfalls teilweise identisch seien, fehle es an der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs und stelle die Fortführung des Verfahrens vor diesem einen Verstoß gegen den Komplementaritätsgrundsatz aus Art. 10 der Präambel und Art. 1 in Verbindung mit Art. 17 bis 20 des Römischen Statuts dar. Der Beschuldigte wende sich, was ihm gemäß Art. 19 Abs. 2 Buchst. a des Römischen Statuts als Person, gegen die ein Haftbefehl gemäß Art. 58 des Römischen Statuts ergangen sei, zustehe, gegen die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs und gegen die Zulässigkeit der Sache. Hierzu bedürfe er der Akteneinsicht im vorliegenden Verfahren.
Der Generalbundesanwalt hält die Anträge auf gerichtliche Entscheidung bereits für unzulässig und im Übrigen auch für unbegründet. Insoweit wird auf den Inhalt der (den Verteidigern jeweils zur Kenntnis gebrachten) Stellungnahmen des Generalbundesanwalts vom 2. Dezember 2010 und vom 5. Januar 2011 verwiesen.
Die Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO sind unstatthaft und daher unzulässig. Sie sind im Übrigen auch unbegründet.
1. Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet gemäß § 147 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 StPO im vorbereitenden Verfahren die Staatsanwaltschaft, hier mithin der Generalbundesanwalt. Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, so kann gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 StPO zuständige Gericht beantragt werden, wenn die Staatsanwaltschaft den Abschluss der Ermittlungen in der Akte vermerkt hat, die Einsicht in privilegierte Unterlagen nach § 147 Abs. 3 StPO versagt wird oder der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet. Im Übrigen ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Akteneinsicht verweigert, regelmäßig nicht anfechtbar (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2009 - 3 StB 22/08, NStZ-RR 2009, 145 unter II 1).
Zuständig für die vorliegend beantragte gerichtliche Entscheidung ist der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes (§ 162 Abs. 1 Satz 1, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO).
2. Die Anträge auf gerichtliche Entscheidung sind nicht statthaft, da es an den hierfür erforderlichen Voraussetzungen gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO fehlt.
a) Der Abschluss der Ermittlungen (§ 169a StPO) ist in der Akte nicht vermerkt (§ 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 StPO). Ein solcher Vermerk ist gemäß § 169a StPO erforderlich, wenn die Staatsanwaltschaft erwägt, öffentliche Klage zu erheben. Hier sind die Ermittlungen indes nicht abgeschlossen.
Vielmehr hat der Generalbundesanwalt vor deren Abschluss - im Hinblick auf das von der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshof betriebene Ermittlungsverfahren - von der Verfolgung des Beschuldigten gemäß § 153 f Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO in Verbindung mit § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO abgesehen, soweit er verdächtig ist, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gemäß §§ 7, 8, 9 und 11 des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) in Verbindung mit § 4 VStGB begangen zu haben, und hat im Übrigen (siehe oben) gemäß § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO von der weiteren Verfolgung abgesehen. Die Anwendung des § 153f StPO in Verbindung mit § 153c StPO setzt nicht voraus, dass Ermittlungen zum Abschluss gebracht sind (vgl. KK-Schoreit, StPO, 6. Aufl., § 153c Rn. 3 mwN; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. § 169a Rn. 1). Die Entscheidung, gemäß § 153f StPO von der Verfolgung abzusehen, erwächst auch nicht in Rechtskraft (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 153c Rn. 1); eine Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens ist vielmehr - ohne Verstoß gegen den von der Verteidigung insoweit angeführten Grundsatz "ne bis in idem" - jedenfalls bis zu einem vollständigen Abschluss - durch Sachentscheidung - des Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof möglich, so dass auch insoweit nicht von einem Abschluss der Ermittlungen auszugehen ist. Im Falle einer Wiederaufnahme wäre nach der zutreffenden Einschätzung des Generalbundesanwalts der Untersuchungszweck des vorliegenden Verfahrens durch die Gewährung von Akteneinsicht gefährdet.
b) Die Versagung der Akteneinsicht durch den Generalbundesanwalt betrifft hier auch nicht die in § 147 Abs. 3 StPO genannten Niederschriften und Gutachten (§ 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 StPO). Das eingeholte Sachverständigengutachten ist den Verteidigern übersandt worden. Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten als Beschuldigter des vorliegenden Verfahrens liegen ebenso wenig vor wie richterliche Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger des Beschuldigten die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen.
c) Auch die Voraussetzung der dritten Alternative des § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO, dass sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befindet, ist hier nicht gegeben. Zwar befindet sich der Beschuldigte in Haft. Die Inhaftierung ist jedoch nicht für das vorliegende Verfahren, sondern aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs für das dortige Ermittlungsverfahren erfolgt. Dies erfüllt entgegen der Auffassung der Verteidigung den Tatbestand des § 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO nicht.
In der Rechtsprechung der Instanzgerichte und im Schrifttum wird allerdings teilweise die Ansicht vertreten, dass ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO auch dann zulässig ist, wenn sich der Beschuldigte in anderer Sache in Haft befindet (LG München I, StV 2006, 11; LG Regensburg StV 2004, 369; Lüderssen/Jahn in LöweRosenberg, StPO, 26. Aufl., § 147 Rn. 160b; wohl auch Meyer-Goßner, aaO, § 147 Rn. 39). Dieser Auffassung ist jedoch, wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, nicht zu folgen (ebenso LG Mannheim StV 2001, 613; KK-Laufhütte, aaO, § 147 Rn. 26, wonach es bei einer Inhaftierung in anderer Sache des - hier nicht gegebenen - Vorliegens eines (noch) nicht vollzogenen Haftbefehls in der Sache bedarf, auf die sich das Akteneinsichtsgesuch bezieht).
Zwar enthält der Wortlaut der genannten Vorschrift keine Ausführungen zum Grund, weshalb sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befindet. Sowohl aus der Gesetzesbegründung als auch aus der Gesetzessystematik des § 147 StPO und dem Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt sich jedoch, dass mit dem Tatbestandsmerkmal "befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß" (§ 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO) eine Freiheitsentziehung aufgrund des Verfahrens gemeint ist, in dessen Akten die Einsichtnahme begehrt wird.
aa) Die in § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO vorgesehene Möglichkeit, gegen die Versagung der Akteneinsicht unter bestimmten Voraussetzungen eine gerichtliche Entscheidung beantragen zu können, ist durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts (Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 - StVÄG 1999, BGBl. 2000 I S. 1253) eingefügt worden. Dabei war im Gesetzentwurf der Bundesregierung die oben erwähnte 3. Alternative des § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO noch nicht enthalten (BTDrucks. 14/1484, S. 6 und 21 f.). Sie wurde auf Anregung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 14/2595, S. 6) in den Gesetzentwurf aufgenommen und ist in dieser Fassung auch verabschiedet worden. Zur Begründung hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ausgeführt, die auf der Grundlage eines Haftbefehls oder eines Unterbringungsbefehls behördlich verwahrten Personen - Satz 2 sei insofern § 83 Abs. 3 BRAGO nachgebildet - hätten ein rechtlich anzuerkennendes besonderes Interesse daran, dass dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt werde. Dem sei dadurch Rechnung zu tragen, dass die Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft auch in diesem Fall einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden könne. Eine nennenswerte Verfahrensverzögerung sei nicht zu befürchten, da in den betroffenen Fällen seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich Duplo-Akten im Hinblick auf die Rechtsbehelfe der Haftprüfung bzw. der Beschwerde (§ 117 Abs. 1 und 2, § 126a Abs. 2 StPO) geführt würden (BT-Drucks. 14/2595, S. 28).
Diese Begründung zeigt, dass es dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO darum ging, die Rechtsposition des Beschuldigten zu stärken, der eine Einsichtnahme in die Akten des Verfahrens begehrt, für das er inhaftiert oder untergebracht ist. Dafür sprechen insbesondere die auf die Führung von Duplo-Akten bezogenen Ausführungen in der Gesetzesbegründung. Hätte der Gesetzgebers die Inhaftierung oder Unterbringung in einem anderen Verfahren für ausreichend erachtet, müsste es sich bei der Sache, in deren Akten die Einsichtnahme begehrt wird, gerade nicht um eine Haftsache handeln und würden demzufolge auch nicht "grundsätzlich Duplo-Akten im Hinblick auf die Rechtsbehelfe der Haftprüfung bzw. der Beschwerde" geführt.
Der in der Gesetzesbegründung enthaltene Hinweis auf den (zwischenzeitlich außer Kraft getretenen) § 83 Abs. 3 BRAGO (heute: Vorbemerkung 4 Abs. 4 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG) ändert hieran nichts. Zwar soll der darin geregelte so genannte Haftzuschlag auf die Verteidigergebühr unabhängig von der Art der Haft aufgrund des erheblich größeren Zeitaufwands anfallen, den der Rechtsanwalt in der Regel allein schon durch die erschwerte Kontaktaufnahme mit dem in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Beschuldigten zu erbringen hat (Mayer/Kroiß, RVG, 4. Aufl., Nr. 4100-4103 VV Rn. 15; BeckOK/Kotz, RVG, VV Teil 4, Vorbemerkung 4 Rn. 96 ff.; vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 221). Da jedoch § 83 Abs. 3 BRAGO aF und § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO deutliche Unterschiede sowohl hinsichtlich des Regelungsgegenstandes als auch hinsichtlich der Person des durch die jeweilige Vorschrift Berechtigten aufweisen, ist davon auszugehen, dass es dem Gesetzgeber bei dem Hinweis auf die erstgenannte Vorschrift lediglich darum ging, zum einen die begriffliche Anknüpfung und zum anderen einen auch in anderen Rechtsgebieten aus dem erschwerenden Umstand der Inhaftierung abgeleiteten Regelungsbedarf aufzuzeigen.
Hingegen ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht, dass der Gesetzgeber mit dem Hinweis auf § 83 Abs. 3 BRAGO aF darüber hinaus auch an die - aus dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht zu entnehmenden - inhaltlichen Voraussetzungen des Haftzuschlags im anwaltlichen Gebührenrecht anknüpfen wollte.
bb) Für diese Auslegung sprechen überdies der Sinn und Zweck sowie die Systematik des § 147 StPO. Die Möglichkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach § 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO bezieht sich auf das nunmehr in § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO geregelte - und zuvor nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. BTDrucks. 16/11644, S. 33 f. mwN) sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, NStZ-RR 1998, 108 mwN) und des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, 3. Strafsenat, Beschluss vom 28. September 1995 - 2 BJs 148/93 - 7 StB 54/95, NJW 1996, 734) gegebene - besondere Akteneinsichtsrechts des Beschuldigten, der sich in Untersuchungshaft befindet oder gegen den diese im Falle der vorläufigen Festnahme beantragt ist. Dieses besondere Akteneinsichtsrecht soll durch die Eröffnung einer gerichtlichen Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung zusätzlich abgesichert werden.
cc) Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (NJW 2002, 2013, 2014 f.), deren Umsetzung die Einführung des § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO diente (BT-Drucks. 16/11644, S. 33 f.), bedarf es aufgrund des in Art. 6 EMRK verankerten Rechts auf ein kontradiktorisches Verfahren nur der Vorlage der Schriftsätze und Beweismittel an die Verteidigung, die von der Staatsanwaltschaft dem Gericht zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung vorgelegt wurden und die daher für den Verteidiger zum Zwecke einer wirksamen Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandanten wesentlich sind. Diese Informationen liegen jedoch nur in dem Verfahren vor, in dem Untersuchungshaft angeordnet oder - im Fall der vorläufigen Festnahme - beantragt worden ist, hier also in dem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof.
3. Die Anträge auf gerichtliche Entscheidung sind im Übrigen auch unbegründet.
a) Soweit sich die Verteidiger des Beschuldigten - unter Vorlage einer Erklärung des Beschuldigten, sich einem Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig stellen zu wollen - dagegen wenden, dass der Generalbundesanwalt von der in § 153f StPO vorgesehenen Möglichkeit eines Absehens von der Verfolgung Gebrauch gemacht, geht dieser Einwand schon deshalb fehl, weil im vorliegenden Verfahren alleine über die Rechtmäßigkeit der Versagung der Akteneinsicht, nicht hingegen über die - als solche ohnehin nicht der Anfechtung unterliegende - Verfahrensweise nach § 153f StPO zu befinden ist. Deshalb bedarf es auch keiner näheren Ausführungen zu der von der Verteidigung - zu Unrecht (siehe unten b) - mit Blick auf die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) in Zweifel gezogenen Verfassungsmäßigkeit der genannten Vorschrift.
b) Gegen die Entscheidung des Generalbundesanwalts, dem - nicht für das vorliegende Verfahren in Haft sitzenden - Beschuldigten wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks derzeit keine über § 147 Abs. 3 StPO hinausgehende Akteneinsicht zu gewähren, ist auch insoweit nichts zu erinnern, als der Generalbundesanwalt hierbei neben der Gefährdung des Untersuchungszwecks des vorliegenden Verfahrens (im Falle von dessen Wiederaufnahme, s.o.) auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks des vor dem Internationalen Strafgerichtshof geführten Verfahrens abgestellt hat. Eine solche Gefährdung hat die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs mit Schreiben vom 17. Dezember 2010 ausdrücklich bestätigt.
Eine der Gewährung von Akteneinsicht entgegenstehende Gefährdung des Untersuchungszwecks gemäß § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO kann sich auch daraus ergeben, dass durch die beantragte Akteneinsicht der Untersuchungszweck in einem anderen Strafverfahren gefährdet würde (MeyerGoßner, aaO, § 147 Rn. 25). Dem entsprechend sieht das Gesetz - jeweils ausdrücklich - in § 147 Abs. 7 Satz 1 StPO für den nicht verteidigten Beschuldigten, in § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO für den Verletzten und in § 477 Abs. 2 Satz 1 StPO für Auskünfte und Akteneinsicht für Justizbehörden, andere öffentliche Stellen, Privatpersonen und sonstige Stellen vor, dass auch eine Gefährdung des Untersuchungszwecks in anderen Strafverfahren die Versagung der Akteneinsicht rechtfertigen kann. Dass der Gesetzgeber im Zuge der Ergänzung der vorstehend genannten Regelungen durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2274), in Kraft getreten am 1. Januar 2010, nicht auch § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO mit dem Zusatz versehen hat, dass auch eine Gefährdung des Untersuchungszwecks in einem anderen Strafverfahren ausreiche, steht der oben genannten rechtlichen Beurteilung nicht entgegen.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Untersuchungshaftrechts war ein solcher Zusatz enthalten (BT-Drucks. 16/11644, S. 9 und 34). Auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages ist dieser Zusatz gestrichen worden. Nach den Gesetzesmaterialien sollte hiermit jedoch nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass beim Akteneinsichtsrecht des Verteidiger - anders als bei der Akteneinsicht für den oben genannten Personenkreis - eine Gefährdung des Untersuchungszwecks in einem anderen Strafverfahren nicht ausreichen solle, um vor dem Abschluss der Ermittlungen eine - über § 147 Abs. 3 und gegebenenfalls § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO hinausgehende - Akteneinsicht zu versagen. Denn in der Begründung seiner Beschlussempfehlung hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ausgeführt, die Streichung des genannten Zusatzes in § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO solle deshalb erfolgen, weil die weitere Prüfung ergeben habe, dass dieser Einschub unter Umständen unerwünschte Rückschlüsse oder Wertungswidersprüche in Bezug auf andere, näher bezeichnete Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Folge haben könne, die ebenfalls auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks abstellten. Eine Aussage über die Zulässigkeit der Versagung der Akteneinsicht im Hinblick auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks in einem anderen Strafverfahren sei damit jedoch nicht verbunden (BT-Drucks. 16/13097, S. 19).
c) Ebenso vermögen die Ausführungen der Verteidigung zu Art. 6 EMRK und dem (angeblichen) Verstoß des vor dem Internationalen Strafgerichtshof geführten Verfahrens gegen den Komplementaritätsgrundsatz aus Art. 10 der Präambel und Art. 1 in Verbindung mit Art. 17 bis 20 des Römischen Statuts keine weiter gehende als die seitens des Generalbundesanwalt gewährte Akteneinsicht nach § 147 Abs. 3 StPO zu begründen.
§ 153f StPO flankiert das in § 1 VStGB verankerte Weltrechtsprinzip im Verfahrensrecht (BT-Drucks. 14/8524, S. 37; Meyer-Goßner, aaO, § 153f Rn. 1). Wie der Gesetzgeber anlässlich der Einfügung des § 153f StPO durch das Gesetz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs vom 26. Juni 2002 in der Gesetzesbegründung ausgeführt hat, besteht auch bei Fällen, die - wie hier - dem Weltrechtsprinzip unterliegen, eine gestufte Zuständigkeitspriorität: In erster Linie sind zur Verfolgung der Tatortstaat und der Heimatstaat von Täter oder Opfer sowie - stellvertretend für diese (KK-Schoreit, aaO, § 153f Rn. 1) - ein zuständiger internationaler Gerichtshof berufen; die (an sich gegebene) Zuständigkeit von Drittstaaten - wie hier der Bundesrepublik Deutschland - ist demgegenüber als Auffangzuständigkeit zu verstehen, die Straflosigkeit vermeiden, aber im Übrigen die primär zuständigen Gerichtsbarkeiten nicht unangemessen zur Seite drängen soll. Dem Tatortstaat und dem Heimatstaat von Täter oder Opfer gebührt der Vorrang wegen ihres besonderen Interesses an der Strafverfolgung und wegen der regelmäßig gegebenen größeren Nähe zu den Beweismitteln; und ein internationaler Strafgerichtshof, der bereit ist, den Fall an sich zu ziehen, vermag den Gedanken der internationalen Solidarität am besten zur Geltung zu bringen und verfügt typischerweise über weiterreichende Möglichkeiten, Beweismittel im Wege der (vertikalen) strafrechtlichen Zusammenarbeit zu erlangen (BT-Drucks. 14/8524, S. 37; ebenso Beulke in Löwe-Rosenberg, aaO, § 153f Rn. 6; KK-Schoreit, aaO; Meyer-Goßner, aaO). Einem internationalen Gerichtshof, der bereit ist, den Fall an sich zu ziehen, soll daher gegenüber einer Strafverfolgung durch Drittstaaten der Vorrang zukommen (Meyer-Goßner, aaO mwN).
Die genannten Gesetzesmaterialien enthalten insbesondere auch Ausführungen zur Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs. Soweit mit den oben aufgezeigten Zuständigkeitsprioritäten ein Vorrang der Strafverfolgung auch durch den Internationalen Strafgerichtshof anerkannt werde, stehe dies nicht im Widerspruch zu dem Subsidiaritätsprinzip des Artikels 17 IStGH-Statut (Römisches Statut). Dieses sei nämlich nicht dahin zu verstehen, dass es auch den Staat, der im konkreten Fall zur Strafverfolgung allein nach dem Weltrechtsprinzip berufen sei, dazu ermutige, diese Zuständigkeit gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof durchzusetzen (BT-Drucks. 14/8524, S. 37; ebenso Beulke in Löwe-Rosenberg, aaO; KKSchoreit, aaO Rn. 3).
Vor diesem Hintergrund betrachtet ist auch nicht ersichtlich, dass mit der Entscheidung des Generalbundesanwalts, dem Beschuldigten derzeit keine über § 147 Abs. 3 StPO hinausgehende Akteneinsicht zu gewähren, eine Verkürzung der Rechte des Beschuldigten aus Art. 6 EMRK verbunden sein könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 147 Abs. 5 Satz 3 StPO in Verbindung mit § 473a StPO. Hierbei war auch (ausdrücklich) über die notwendigen Auslagen des Beschuldigten zu befinden (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 464 Rn. 11a und § 473a Rn. 2).
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 83
Externe Fundstellen: NStZ 2012, 223; NStZ-RR 2012, 16; StV 2012, 321; StV 2012, 321
Bearbeiter: Karsten Gaede