HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 714
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 147/10, Urteil v. 12.08.2010, HRRS 2010 Nr. 714
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 26. Oktober 2009 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es den Angeklagten G. betrifft.
2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die Revision des Angeklagten Gr. gegen das vorgenannte Urteil wird verworfen.
4. Der Angeklagte Gr. hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten Gr. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Es hat den Angeklagten G. von dem Vorwurf, den Angeklagten Gr. zu der Tat angestiftet zu haben, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen den Freispruch wenden sich 1 die Staatsanwaltschaft, deren Rechtsmittel vom Generalbundesanwalt vertreten wird, und der Nebenkläger mit ihren jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen.
Diese Rechtsmittel haben Erfolg. Die Revision des Angeklagten Gr., die ebenfalls die Verletzung materiellen Rechts rügt, ist hingegen unbegründet.
1. Nach den landgerichtlichen Feststellungen betrieb der Angeklagte G. eine der größten Vieh- und Fleischhandelsfirmen in Deutschland, die Johannes G. KG in E. Die Firma geriet spätestens im Sommer 2006 in massive wirtschaftliche Schwierigkeiten. Ein Verkauf an den Nebenkläger, den Viehhändler Albert V, scheiterte. Die Firma V. warb der G. KG in der Folgezeit Mitarbeiter ab, was zu weiteren Umsatzeinbrüchen führte. Der Angeklagte G. glaubte, der Nebenkläger wolle ihn aus dem Geschäft drängen und hegte große Wut auf ihn. Er musste die G. KG im September 2007 faktisch an die R. Viehvermarktungs- und Verwaltungs GmbH verkaufen, die im Innenverhältnis alleinige Gesellschafterin der neu gegründeten G. GmbH wurde. Der Angeklagte G. war in der Folgezeit als angestellter Geschäftsführer der G. GmbH tätig.
Der Angeklagte Gr. hatte 2006/2007 für den Angeklagten G. Inkassotätigkeiten durchgeführt; außerdem hatte er in dessen Auftrag Wohnhaus und Firma des Nebenklägers observiert. Ab April 2008 kam es zu erneuten Kontakten zwischen den Angeklagten. Ende September 2008 begann der Angeklagte Gr. wieder, Wohnhaus und Firma des Nebenklägers zu beobachten. Dass er dies im Auftrag des Angeklagten G. oder gar in Vorbereitung eines Tötungsauftrags getan hat, vermochte das Landgericht nicht festzustellen.
Am Dienstag, dem 11. November 2008, fuhr der Nebenkläger morgens um 7.10 Uhr zu seiner Firma. Auf einem schmalen Wirtschaftsweg brachte ihn der Angeklagte Gr. zum Halten. Er trat an das Fahrzeug und fragte zum Schein nach dem Weg nach W. . Als der Nebenkläger anfing, ihm den Weg zu erklären, zog der Angeklagte Gr. eine durchgeladene Pistole vom Kaliber 22 aus der Manteltasche und schoss in schneller Abfolge zweimal gezielt durch das geöffnete Fenster auf den Kopf des Nebenklägers, um diesen zu töten. Der Nebenkläger wurde von beiden Schüssen getroffen, war jedoch nicht tödlich verletzt. Eine weitere Schussabgabe war dem Angeklagten nicht möglich, wahrscheinlich hatte sich eine Patrone verklemmt. Er versuchte, die Waffe wieder schussfertig zu machen, sah sein Vorhaben jedoch als gescheitert an und flüchtete, als der Nebenkläger die Fensterscheibe hochfuhr.
2. Das Landgericht ist davon überzeugt, dass der Angeklagte Gr. heimtückisch und aus Habgier auf den Nebenkläger geschossen hat; einen Rücktritt hat es verneint, weil der Angeklagte Gr. nicht freiwillig von der weiteren Tatausführung Abstand genommen habe. Es hat sich aber nicht davon überzeugen können, dass der die Tat bestreitende Angeklagte G. den Auftrag gegeben hat, den Nebenkläger zu töten. Möglicherweise habe der Angeklagte Gr. die Tat aus eigenem Antrieb begangen, um den Nebenkläger auszurauben.
a) Hierbei hat es u. a. folgende Umstände als gewichtige Indizien für eine Beteiligung des Angeklagten G. angesehen: Gegen eine aus eigenem Antrieb begangene Raubtat des Angeklagten Gr. sprach, dass er dies im Ermittlungsverfahren selbst nicht behauptet hatte, eine lohnende Beute nicht sicher zu erwarten war und er den Nebenkläger von vornherein mit Tötungsabsicht ansprach. Der Angeklagte Gr. hatte kein persönliches Motiv, den Nebenkläger zu töten. Vor und nach der Tat gab es zahlreiche Kontakte zwischen den Angeklagten. So rief der Angeklagte Gr. den Angeklagten G. am Tattag um 8.24 Uhr an und kehrte am Folgetag aus Polen zurück, um den Angeklagten G. in Dortmund zu treffen.
b) Die Strafkammer hat jedoch die gegen den Angeklagten G. sprechenden Indizien nach eingehender Abwägung weder für sich genommen noch in ihrer Gesamtheit für geeignet angesehen, letzte vernünftige Zweifel an der Beteiligung des Angeklagten zu beseitigen. Hierbei hat sie insbesondere nicht ausschließen können, dass die Telefonkontakte und ein Treffen der Angeklagten im Vorfeld der Tat der Vermittlung von Fleischverkäufen nach Polen oder Russland durch den Angeklagten Gr. gedient haben.
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers haben Erfolg.
Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16 m.w.N.). Insbesondere sind die Beweise auch erschöpfend zu würdigen (BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGH, Urteil vom 14. August 1996 - 3 StR 183/96, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11). Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung auch dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind (BGH, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR § 261 Beweiswürdigung 16 m.w.N.; BGH, Urteil vom 26. Juni 2003 - 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, 36). Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2003 - 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, 36; BGH, Urteil vom 17. März 2005 - 4 StR 581/04, NStZ-RR 2005, 209; BGH, Urteil vom 21. Oktober 2008 - 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90, jew. m.w.N.).
2. Dem wird die Beweiswürdigung nicht gerecht. Die Erwägungen des Landgerichts zu den Umständen, die nach seiner Auffassung Zweifel an einer Auftragserteilung des Angeklagten G. an den Angeklagten Gr. begründen, lassen im Hinblick auf die den Angeklagten belastenden Beweisergebnisse besorgen, dass es überspannte Anforderungen an die zu einer Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Das Landgericht hat sich mehrfach nicht in der Lage gesehen, Feststellungen zu treffen, die es nach den Gesamtumständen als sehr wahrscheinlich angesehen hat, weil es andere Möglichkeiten und Erklärungen der Angeklagten, die es selbst als "eher fern liegend", "nicht völlig fern liegend", "nicht sehr plausibel", "wenig nachvollziehbar" u. ä. angesehen hat, letztlich nicht auszuschließen vermochte.
Dies gilt insbesondere für die Erwägungen, die das Landgericht zu den Kontakten zwischen den Angeklagten vor und nach der Tat angestellt hat.
Für die Annahme, die zahlreichen Kontakte zwischen beiden Angeklagten vor der Tat könnten der Vermittlung von Fleischgeschäften nach Polen oder Russland gedient haben, fehlen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte. Dies lässt besorgen, dass das Landgericht den Einlassungen der Angeklagten gefolgt ist, obwohl die festgestellten Umstände eher gegen eine Vermittlungstätigkeit des Angeklagten Gr. sprechen: der Angeklagte Gr. verstand vom Vieh- und Fleischhandel gar nichts (UA S. 45). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass er Kontakte zu Unternehmen der Fleischbranche in Polen oder Russland hatte, zumal er in den letzten Jahren in Deutschland gelebt und mit dem Betrieb einer Diskothek und eines Bordells Geld zu verdienen versucht hatte. Soweit sich in den Urteilsgründen die Feststellung findet, mindestens ein vom Angeklagten Gr. vermittelter Fleischverkauf an die in Krakau ansässige Firma N. sei schließlich Anfang 2009 auch zustande gekommen (UA S. 17), ist eine vermittelnde Tätigkeit Gr. s in der Beweiswürdigung (UA S. 45) nicht belegt.
Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang auch nicht erkennbar gewürdigt, dass die insgesamt 30 Telefongespräche zwischen den Angeklagten vor der Tat nur jeweils maximal 171 Sekunden gedauert haben, was gegen eine Erörterung von Fleischgeschäften sprechen könnte.
Das Landgericht hat zwar durchaus gesehen, dass der Anruf des Angeklagten Gr. beim Angeklagten G. etwa eine Stunde nach der Tat, das Treffen am Nachmittag des Folgetages, zu dem der Angeklagte Gr. aus Polen zurückgekehrt war, und die weiteren telefonischen Kontakte am Tattag und in den Folgetagen in erheblichem Maße für eine Tatbeteiligung des Ange14 klagten G. sprechen. Es hat aber auch insoweit die Einlassungen der Angeklagten als "nicht derart unplausibel und fern liegend" angesehen, dass es sie für "gänzlich unwahrscheinlich" gehalten hätte. Tragfähige tatsächliche Umstände, weshalb das Landgericht zu dieser Einschätzung gelangt ist, teilen die Urteilsgründe jedoch nicht mit, lediglich allgemeine Mutmaßungen.
Der Angeklagte Gr. hatte sich dahin eingelassen, er habe bei den Telefonaten am Morgen und Abend des Tattages sowie am Vormittag des Folgetages auf ein Treffen gedrängt, weil er das für die beabsichtigte Flucht aus Deutschland benötigte Geld von dem Angeklagten G., der nicht sein Auftraggeber gewesen sei, habe haben wollen, ohne G. dabei vom Zweck des Treffens zu unterrichten. Obwohl das Landgericht diese Einlassung aus verschiedenen Gründen für "weniger plausibel" hält und ausführt, dass ein anderer Grund als eine Übergabe des (Rest)Honorars für die Notwendigkeit des Treffens nicht ersichtlich sei (UA S. 46), hat es den von den Angeklagten geschilderten Ablauf mit verschiedenen Erwägungen zur Fraglichkeit einer Honorarzahlung für eine "misslungene Tat" und dem Risiko der Beteiligten dennoch nicht ausgeschlossen. Diese Erwägungen sind jedoch schon deshalb lückenhaft, weil das Landgericht nicht erörtert hat, dass es dem Angeklagten Gr. auch ohne "Fluchtgeld" bereits gelungen war, sich nach Polen abzusetzen, und er am Folgetag nur für das - für beide Seiten mit einem erheblichen Risiko verbundene - Treffen mit dem Angeklagten G. zurückkehrte. Im Übrigen wäre die Einlassung auch dann anders zu bewerten, wenn sich die zahlreichen Kontakte zwischen den Angeklagten vor der Tat nicht auf die Vermittlung von Fleischgeschäften bezogen, was das Landgericht mit nicht tragfähiger Begründung für möglich gehalten hat.
Es ist nicht auszuschließen, dass der Freispruch auf den aufgezeigten Rechtsfehlern beruht. Die Sache muss daher neu verhandelt und entschieden werden.
Die Revision des Angeklagten Gr., die sich insbesondere gegen die Verneinung eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch des Mordes wendet, ist unbegründet. Die von der Revision insoweit beanstandeten Formulierungen UA S. 38 unten/S. 39 oben begegnen keinen durchgreifenden Bedenken. Aus dem Gesamtzusammenhang der zitierten Ausführungen mit den vorangegangenen Erwägungen S. 37 und 38 folgt mit hinreichender Deutlichkeit, dass das Landgericht keine realen Anknüpfungspunkte für eine Beseitigung des mit rechtsfehlerfreier Begründung bejahten Defekts der Waffe gefunden hat. Unter diesen Umständen gebot es der Zweifelssatz nicht, der Einlassung des Angeklagten zu folgen. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat auch im Übrigen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 714
Bearbeiter: Karsten Gaede