HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 174
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 424/09, Urteil v. 17.12.2009, HRRS 2010 Nr. 174
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 1. April 2009 werden verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen. Bei dem Angeklagten wird von der Auferlegung der im Revisionsverfahren entstandenen Kosten und Auslagen abgesehen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Bedrohung und wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung dreier Vorverurteilungen zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Es hat ferner angeordnet, dass die in dem einbezogenen Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 3. November 2008 angeordnete Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis aufrechterhalten bleibt.
Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge; mit der Verfahrensrüge beanstandet er ferner die Verletzung der Aufklärungspflicht. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich dagegen, dass das Landgericht bei der Tat zum Nachteil des Steffen P. bedingten Tötungsvorsatz verneint hat.
Beide Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Verneinung des Tötungsvorsatzes bei der Tat zum Nachteil des Geschädigten P. beschränkt. Die Beschwerdeführerin hat zwar einen unbeschränkten Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils gestellt. Dieser steht aber in Widerspruch zu dem Angriffsziel des Rechtsmittels, wie es sich aus der Revisionsrechtfertigungsschrift ergibt. Deren Auslegung lässt angesichts der Formulierung, das Landgericht habe den Angeklagten "hinsichtlich des Anklagevorwurfes Ziffer 3 der Anklageschrift vom 03.12.2008 zu Unrecht nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt", einen auf diesen Teil des Schuldspruchs bezogenen Beschränkungswillen der Beschwerdeführerin erkennen. Die Auslegung wird durch die allgemeine Übung der Staatsanwaltschaft bestätigt, Revisionen regelmäßig so zu begründen, dass klar ersichtlich ist, in welchen Ausführungen des angefochtenen Urteils sie eine Rechtsverletzung erblickt und auf welche Gründe sie ihre Rechtsauffassung stützt (Nr. 156 Abs. 2 RiStBV; vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 3, insoweit in BGHSt 36, 167 nicht abgedr.).
Die Verneinung bedingten Tötungsvorsatzes bei der Tat zum Nachteil des Geschädigten P. hält rechtlicher Nachprüfung stand.
1. Das Landgericht hat insoweit im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
a) Am Tattag, dem 9. Mai 2008, kam es am G. W. in der Nähe von St. Ingbert gegen 21.30 Uhr zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen junger Leute, die sich daran entzündete, dass der zur Gruppe um den Angeklagten gehörende, gesondert verfolgte D., von dem zu der anderen Gruppe gehörenden Zeugen K., der sich u.a. in Begleitung der später geschädigten Zeugen H., P. und M. befand, wegen des lauten Rufens von Nazi-Parolen zur Rede gestellt worden war. Im Verlauf der Auseinandersetzung nahm der Angeklagte zunächst den Geschädigten H. in den Schwitzkasten. Dieser setzte sich dagegen zur Wehr, woraufhin der Angeklagte seine Stirn unvermittelt und mit voller Wucht auf die Nase des Geschädigten stieß, der dadurch eine Nasenbeinfraktur erlitt. Der Angeklagte verfolgte den nun flüchtenden Geschädigten und versuchte, mit einer Bierflasche auf ihn einzuschlagen, wobei er nur knapp dessen Kopf verfehlte.
Der Angeklagte setzte die Verfolgung mit einem beim Grillen benutzten Klappmesser fort. Als der Geschädigte dies bemerkte, geriet er in Panik, stolperte und fiel zu Boden. Mit der Drohung, ihn umzubringen, stürzte sich der Angeklagte auf ihn und drückte ihm das Messer fest an die Kehle, so dass eine oberflächliche Verletzung am Hals entstand. Als der Zeuge M. den Angeklagten zum Aufhören aufforderte, versetzte ihm der Angeklagte unvermittelt einen Schlag auf das rechte Auge, der ein schmerzhaftes Hämatom zur Folge hatte.
b) Nachdem es dem Geschädigten H. durch das Einschreiten des M. gelungen war, wieder aufzustehen und seine Flucht fortzusetzen, nahm der Angeklagte erneut die Verfolgung auf. Nunmehr eilte der Zeuge P. dem H. zu Hilfe und stieß den Angeklagten zur Seite. In diesem Moment stach der Angeklagte dem P. unvermittelt mit dem Klappmesser in die linke Flanke des Oberkörpers, wobei er ihn mit den Worten anschrie: "Soll ich dich abstechen oder was?" Dabei versuchte er weiter auf den P. einzustechen, was dieser aber durch einen Festhaltegriff verhindern konnte. Nachdem nun aber auch der gesondert Verfolgte D. hinzu kam und auf den P. einschlug, ergriff dieser die Flucht. Erst jetzt bemerkte er seine Stichverletzung und die dadurch verursachten Schmerzen.
Nach medizinischer Erstversorgung durch den Notarzt vor Ort wurde der Geschädigte, dessen linke Brusthöhle durch den etwa 2 cm langen, leicht schräg verlaufenden Stich eröffnet worden war, was bei zunehmender Luftnot zu einer potentiell lebensgefährlichen Verletzung führte, fünf Tage stationär behandelt; die Verletzung ist mittlerweile folgenlos abgeheilt.
2. Das Landgericht hat bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten bei der Tat zum Nachteil des Geschädigten P. verneint. Zwar sei der Messerstich objektiv gefährlich gewesen, in der konkreten Situation stelle er sich jedoch lediglich als ungezielt dar und sei - bei lebensnaher Betrachtung - nur von der Absicht des Angeklagten getragen gewesen, sich des Einschreitens des Zeugen P. zu erwehren, ohne diesen mit bedingtem Tötungsvorsatz gezielt schwer zu verletzen.
3. Diese Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite hält revisionsrechtlicher Kontrolle (noch) stand.
a) Die Bejahung bedingten Tötungsvorsatzes erfordert bei schwerwiegenden Gewalthandlungen eine sorgfältige Prüfung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles. Die offensichtliche Lebensgefährlichkeit einer Handlungsweise stellt dabei für den Nachweis bedingten Tötungsvorsatzes einen Umstand von erheblichem Gewicht dar, weil bei äußerst gefährlichen gewalttätigen Handlungen ein bedingter Tötungsvorsatz nahe liegt (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 58, 59). Angesichts der hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten bedarf die Frage der Billigung des Todeserfolges indes einer Gesamtschau alle objektiven und subjektiven Tatumstände, in die die psychische Verfassung des Täters bei der Tatbegehung sowie seine Motivation ebenso einzubeziehen sind wie die konkrete Angriffsweise (BGHSt 36, 1, 10; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 39). Insbesondere bei einem spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlung kann aus dem Wissen um einen möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das - selbständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 62; BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 4).
b) Gemessen daran beanstanden Beschwerdeführerin und Generalbundesanwalt im Ansatz zu Recht, dass die vom Landgericht als Grundlage für die Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes bei dem Messerangriff zum Nachteil des Geschädigten P. angestellte Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände bedenklich knapp ausgefallen ist. Insbesondere muss der - von der Strafkammer für die Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes maßgeblich herangezogene - Umstand, dass der Angeklagte nicht gezielt in die Brust des Geschädigten einstach, für sich genommen nicht dagegen sprechen, dass dem Angeklagten ein etwaiger Tod seines Opfers gleichgültig war, was für die billigende Inkaufnahme des tödlichen Erfolges ausreichen würde. Anders als im Fall eines gezielten Stichs in einen Körperbereich, in dem sich lebenswichtige Organe befinden, musste sich dem Landgericht hier ein Tötungsvorsatz aber auch nicht geradezu aufdrängen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin erforderten die im angefochtenen Urteil zum Verhalten des Angeklagten vor Ausführung des Messerangriffs getroffenen Feststellungen keine andere rechtliche Beurteilung. Zwar hatte sich der Angeklagte auch schon zuvor äußerst gewaltbereit gezeigt. Gleichwohl war es nicht zur Zufügung lebensbedrohlicher Verletzungen gekommen, obwohl er unter anderem dem Geschädigten H. das Messer an die Kehle gesetzt und gedroht hatte ihn umzubringen.
Dass die Strafkammer angesichts dieses zwar gewalttätigen, aber auch von großsprecherischen Zügen geprägten Verhaltens des Angeklagten seiner an den Geschädigten P. gerichteten (rhetorischen) Frage: "Soll ich Dich abstechen, oder was?" ersichtlich keine maßgebende Bedeutung als Indiz für einen vorhandenen Tötungsvorsatz beigemessen hat, stellt jedenfalls keinen durchgreifenden Erörterungsmangel im Rahmen der dem Tatrichter obliegenden Gesamtschau dar.
Die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge, das Landgericht habe durch die Ablehnung des Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gegen die ihm obliegende richterliche Aufklärungspflicht i.S. des § 244 Abs. 2 StPO verstoßen, ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
1. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Sachrüge hat einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler nicht ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
2. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist es im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das Landgericht eine alkoholbedingt erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit verneint hat.
a) Zwar hat die Strafkammer aufgrund der Trinkmengenangaben des Angeklagten nur die höchstmögliche Blutalkoholkonzentration (6,37 Promille) ermittelt. Hingegen hat sie die Kontrollberechnung zur Feststellung der Mindestwerte nicht vorgenommen. Der Generalbundesanwalt weist zwar zutreffend darauf hin, dass sich bei Zugrundelegung eines Resorptionsdefizits von 30 % und einem stündlichen Abbauwert von 0,2 Promille zuzüglich eines einmaligen Sicherheitszuschlags von 0,2 Promille (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 7, 8, 18) ein BAK-Wert von (nur) 4,22 Promille ergeben hätte. Auch vor dem Hintergrund dieses geringeren Wertes durfte das Landgericht die Trinkmengenangaben im Ergebnis zu Recht als unglaubhaft ansehen und insoweit das damit nicht vereinbare Leistungsverhalten des Angeklagten heranziehen. Danach verfügte der Angeklagte trotz der Beeinflussung durch Alkohol- und Drogenkonsum über eine beachtliche körperliche Leistungsfähigkeit, die ihn in die Lage versetzte, einen komplexen Handlungsablauf zu steuern; von körperlichen Ausfallerscheinungen haben die in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen nichts berichtet. Vielmehr bestätigte die Freundin des Angeklagten, dieser sei nicht betrunken gewesen.
b) Für den zu einer Jugendstrafe verurteilten heranwachsenden Angeklagten wäre die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB im Übrigen schon deshalb nicht günstiger gewesen, weil dies nicht zu einer Strafrahmenverschiebung geführt hätte. Auch der der Höhe der Jugendstrafe zu Grunde zu legende Erziehungsbedarf wäre kaum geringer anzusetzen gewesen, weil der Angeklagte auf Grund seiner Vorverurteilungen wusste, dass er unter Alkoholeinfluss zu Aggressivität neigt und gleichwohl erneut Alkohol in erheblichem Umfang konsumierte.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 174
Externe Fundstellen: NStZ 2010, 571
Bearbeiter: Karsten Gaede