HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 969
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 232/09, Urteil v. 24.09.2009, HRRS 2009 Nr. 969
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 4. Februar 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und mit Körperverletzung sowie vom Vorwurf der versuchten Nötigung freigesprochen, weil es sich von dessen Täterschaft nicht überzeugen konnte. Hiergegen wenden sich die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin mit ihren auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen.
Die Rechtsmittel haben schon mit der Sachrüge Erfolg, da die dem Freispruch zu Grunde liegende Beweiswürdigung Rechtsmängel aufweist.
1. Die zugelassene Anklage hat dem Angeklagten zur Last gelegt, am 12. Februar 2008 gegen 16.00 Uhr der damals neunjährigen S. in deren Wohnung in der L. Straße in M. gefolgt zu sein. Dort habe er die Wohnungstür von innen verschlossen, das Kind im Kinderzimmer auf das Bett gestoßen und ihm mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Anschließend habe er seinen Penis entblößt und von dem weinenden Kind verlangt, an diesem zu "rubbeln, küssen und saugen", was das Kind auch getan habe. Weil es dabei nach seiner Mutter gerufen habe, habe er ihm zwischendurch den Mund zugehalten und zweimal kräftig gegen den Kopf geschlagen, wodurch es Schmerzen erlitten habe. Auf seine Aufforderung habe die Geschädigte die sexuellen Handlungen fortsetzen müssen. Nach Beendigung derselben habe er vor Verlassen der Wohnung dem Kind gedroht, es "richtig" zu würgen, falls es das Geschehen weitererzähle. Trotz dieser Drohung benachrichtigte die Geschädigte ihre Mutter, die sogleich Anzeige erstattete.
2. Der zur Anklageerhebung führende Tatverdacht gegen den Angeklagten gründete sich insbesondere darauf, dass das geschädigte Kind sowohl bei einer Wahllichtbildvorlage, die am Ende seiner polizeilichen Vernehmung noch am Tattag durchgeführt wurde, als auch bei einer anschließenden Wahlgegenüberstellung den Angeklagten als den Täter wiedererkannt hat.
Außerdem hatte sich der Angeklagte dadurch verdächtig gemacht, dass er am Tattag gegen 16.50 Uhr in einem in relativer Nähe zum Tatort befindlichen Park beim Anblick eines Polizeifahrzeugs plötzlich die Flucht ergriff. Weiterhin sprach für die Täterschaft des Angeklagten, dass in der Tatwohnung Spuren genetischen Materials sichergestellt werden konnten, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vom Angeklagten stammten.
3. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme war das Landgericht zwar davon überzeugt, dass sich das von der Geschädigten im Ermittlungsverfahren geschilderte Geschehen ereignet hat, nicht aber davon, dass der Angeklagte, der dies bestreitet und im Übrigen in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat, der Täter war.
Hinsichtlich der Bekundungen der Geschädigten im Ermittlungsverfahren, die durch zeugenschaftliche Vernehmung der damaligen Vernehmungsbeamten in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind, vermochte das Landgericht nicht auszuschließen, dass das Kind zwar subjektiv von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt war, jedoch unbewusst einem Irrtum bei der Identifikation des Angeklagten als Täter unterlegen ist.
Bezüglich der Flucht des Angeklagten beim Erscheinen des Polizeifahrzeugs erschien dem Landgericht die von dem Angeklagten im Ermittlungsverfahren dafür gegebene Erklärung zwar wenig überzeugend; es sah sich aber - unter Berufung auf ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - aus Rechtsgründen daran gehindert, das Fluchtverhalten als Indiz für die Täterschaft des Angeklagten heranzuziehen, da auch ein Unschuldiger geneigt sein könne, sich einem Strafverfahren mit einem für ihn ungewissen Ausgang entziehen zu wollen.
Den Ergebnissen der durch die Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. Sch. erstatteten gerichtsmedizinischen Spurengutachten, nach denen eine teilweise Übereinstimmung von Merkmalen der in der Tatwohnung gesicherten Spur mit denjenigen des Angeklagten besteht, vermochte das Landgericht nur einen sehr geringen Beweiswert beizumessen, zumal sich die Stärke der untersuchten Spur nach den Angaben beider Sachverständigen an der Grenze der Nachweisbarkeit befand.
Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen, weil die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters ist. Die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr., vgl. etwa BGH NJW 2005, 1727; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2; Überzeugungsbildung 33, jeweils m.w.N.).
2. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils weist derartige Mängel auf:
a) Die Annahme des Landgerichts, es sei nicht auszuschließen, dass die Geschädigte unbewusst Suggestionseinflüssen der Vernehmungsbeamten erlegen sei und sich deshalb bei der Identifizierung des Angeklagten geirrt habe (UA 17), findet keine Stütze in den Urteilsfeststellungen.
Nach den Bekundungen der Vernehmungsbeamtin hatte diese erst, nachdem die Geschädigte bei der Wahllichtbildvorlage das Bild des Angeklagten fixiert, dabei gezittert und ein Stofftier umklammert hatte, das Kind eindringlich gefragt, ob das Bild des Täters dabei sei. Entsprechendes hat auch der zweite Vernehmungsbeamte bekundet.
b) Die Strafkammer hat zwar gesehen, dass in dem Fluchtversuch ein gewichtiges Indiz für die Täterschaft liegen kann, zumal sie die Erklärung des Angeklagten, die dieser in seiner polizeilichen Vernehmung für sein Verhalten gegeben hat, für "wenig überzeugend" gehalten hat: Er hatte, wie die Vernehmungsbeamten bekundet haben, angegeben, den Park nur deswegen aufgesucht zu haben, um dort eilig seine Notdurft zu verrichten; als er von Weitem den Streifenwagen gesehen habe, habe er aus Angst die Flucht ergriffen, weil er im Jahre 2001 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden sei.
Zu Unrecht meint das Landgericht aber, das Fluchtverhalten aus Rechtsgründen nicht als Belastungsindiz werten zu können. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach ein Fluchtversuch als solcher nicht als Indiz für die Täterschaft des Angeklagten gewertet werden darf (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 33; BGH, Beschluss vom 17. November 1999 - 3 StR 462/99), erfasst den vorliegenden Fall nicht, denn sie betrifft nur diejenigen Fälle, in denen der Flüchtende bereits mit dem Tatvorwurf konfrontiert war oder in denen er auf Grund besonderer Umstände - beispielsweise seiner Anwesenheit am Tatort - mit polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen rechnen muss.
Hier konnte der Angeklagte, wenn er nicht der Täter war, gar nicht wissen, dass in der Nähe des Parks eine (Sexual-)Straftat begangen worden war; er hätte mithin keinen Anlass zur Flucht gehabt.
c) Die Beweiswürdigung ist schließlich auch lückenhaft, weil sich das Urteil nicht zu der Bekleidung des Angeklagten bei seiner Festnahme verhält. Das geschädigte Kind hatte in seiner kurz nach der Tat durchgeführten Vernehmung angegeben, der Täter habe "eine blaue Hose mit Streifen an den Knien" getragen. Wenn der Angeklagte, was das Urteil nicht mitteilt, bei seiner Festnahme eine solche Hose getragen haben sollte, wäre dies ein weiteres wesentliches Indiz für seine Täterschaft und für die Richtigkeit der Bekundungen der Geschädigten.
3. Die aufgezeigten Mängel führen zur Aufhebung des Urteils, zumal es auch an einer Gesamtwürdigung der den Angeklagten belastenden Einzelindizien fehlt.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es sich bei unveränderter Beweislage empfehlen wird, das geschädigte Kind als Zeugin zu hören.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 969
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2010, 20
Bearbeiter: Karsten Gaede