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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1109

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 364/08, Beschluss v. 21.10.2008, HRRS 2008 Nr. 1109


BGH 4 StR 364/08 - Beschluss vom 21. Oktober 2008 (LG Saarbrücken)

BGHR; keine Erstreckung des Erfolgs der Revision auf die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem sog. Vollstreckungsmodell (Begriff der Gesetzesverletzung; enge Auslegung der Revisionserstreckung; Staatshaftung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 13 EMRK; § 357 StPO

Leitsätze

1. § 357 StPO findet im Zusammenhang mit der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem sog. Vollstreckungsmodell keine Anwendung. (BGHR)

2. Die Grundlage der Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bzw. gegen das auch verfassungsrechtliche Gebot der Gewährung eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG), mithin die Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren im Sinne des § 344 Abs. 2 StPO. Die Verletzung solcher Normen ist aber keine Gesetzesverletzung im Sinne des § 357 StPO (vgl. Wohlers in SK-StPO § 357 Rdn. 22 m.N.). (Bearbeiter)

3. Erfolg die Aufhebung in solchen Fällen auf die Sachrüge, führt dies nicht zur (analogen) Anwendung der nach allgemeiner Meinung als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden Vorschrift des § 357 StPO. (Bearbeiter)

4. Die Kompensation nach dem so genannten Vollstreckungsmodell dient allein der Wiedergutmachung des durch die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK entstandenen objektiven Verfahrensunrechts, auf die der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch hat. Hiermit wird vielmehr eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, wie er in gleicher Weise einer Partei eines Zivilprozesses oder einem an einem Verwaltungsrechtsstreit beteiligten Bürger erwachsen kann (vgl. BGHSt 52, 124, 137 f.). (Bearbeiter)

5. Eine analoge Anwendung des § 357 StPO kommt im Übrigen schon deshalb nicht in Betracht, weil die Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, nach den individuellen Umständen des Einzelfalles für jeden Angeklagten eigenständig zu beurteilen ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08 Rdn. 14). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

I. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 14. März 2008

1. im Schuldspruch zur Klarstellung dahin geändert, dass der Angeklagte Y. der besonders schweren sexuellen Nötigung und der Freiheitsberaubung schuldig ist;

2. aufgehoben,

a) soweit bezüglich der Angeklagten Y. und E. eine Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK nicht vorgenommen worden ist und

b) soweit bezüglich des Angeklagten Y. eine Entscheidung gemäß § 67 Abs. 2 StGB über die Vollstreckungsreihenfolge unterblieben ist.

II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

III. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten Y. wegen "sexueller Nötigung, tatmehrheitlich begangen mit Freiheitsberaubung", unter Einbeziehung der Strafen aus zwei Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Den Angeklagten E. hat es wegen Freiheitsberaubung unter Einbeziehung der Strafen aus drei Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Im Übrigen hat es den Angeklagten E. freigesprochen.

Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung sachlichen Rechts. Die Rechtsmittel haben in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Das Landgericht hat bezüglich der vom Angeklagten Y. begangenen sexuellen Nötigung zu Recht die Qualifikation des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB als verwirklicht angesehen. Dies ist in der Urteilsformel durch Verurteilung wegen besonders schwerer sexueller Nötigung kenntlich zu machen (vgl. BGH StraFo 2005, 516 m.N.). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.

2. Die Revisionen der Angeklagten Y. und E. führen zur Aufhebung des Urteils, soweit das Landgericht hinsichtlich der Beschwerdeführer davon abgesehen hat, die nach den bisherigen Feststellungen vorliegenden Verfahrensverzögerungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 MRK nach den Grundsätzen des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 (BGHSt 52, 124 = NStZ 2008, 234) zu kompensieren.

a) Der zeitliche Abstand zwischen den Taten und dem Urteil des Landgerichts beträgt mehr als vier Jahre und sechs Monate. Der Angeklagte E. ist am 20. Juli 2005 verantwortlich vernommen worden, der Angeklagte Y. am 30. August 2005. Das Landgericht hat die Anklage vom 23. November 2005 mit Beschluss vom 6. April 2006 zugelassen und Termine für die Hauptverhandlung für die Zeit vom 8. November bis zum 12. November 2006 bestimmt. Am 10. November 2006 hat das Landgericht die Hauptverhandlung ausgesetzt und die psychiatrische Begutachtung des Angeklagten Y., des früheren Mitangeklagten W. sowie des Geschädigten Q. angeordnet. Die am 12. Dezember 2007 auf den 13. Februar 2008 anberaumte Hauptverhandlung dauerte bis zum 14. März 2008. Das Landgericht hat hierzu unter anderem ausgeführt, die Anhängigkeit des Verfahrens bis zum Beginn der ersten Hauptverhandlung am 8. November 2006 sei auch unter Berücksichtigung der Überlastung der Kammer unangemessen lang gewesen. Die Dauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung sei auch unter Berücksichtigung der Einholung der psychiatrischen Sachverständigengutachten ebenfalls zu lang gewesen, zumal jedenfalls die Begutachtung der Angeklagten auch in der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift und dem ersten Hauptverhandlungstermin hätte durchgeführt werden können und Gerichte zudem gehalten seien, auf eine zügige Mitwirkung von Sachverständigen hinzuwirken. Das Landgericht hat zwar bei der Bemessung sowohl der Einzel- als auch der Gesamtstrafen die "lange Dauer des Verfahrens" strafmildernd berücksichtigt. Es hat aber eine über die "im Rahmen der Strafzumessung vorgenommene mildernde Anrechnung" hinausgehende Kompensation der "bisherigen Verfahrensdauer" nach den Grundsätzen des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs (BGHSt aaO) für nicht geboten erachtet. Dies ist hier rechtsfehlerhaft.

Nach der Aufgabe der bisher praktizierten Strafabschlagslösung zur Kompensation einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist nach dem nunmehr anzuwendenden Vollstreckungsmodell die Bemessung der unrechts- und schuldangemessenen Strafe von der als Entschädigung für die Verletzung des Beschleunigungsgebotes des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK vorzunehmenden Kompensation zu trennen (vgl. BGHSt aaO S. 146 f.). Danach dienen die Feststellungen zu Art und Ausmaß der Verzögerung sowie zu ihren Ursachen zwar wie bisher (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 181) zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Insofern hat der Tatrichter in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind (vgl. BGHSt 52, 124, 146). Wenn aber - wie hier - der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerungen festgestellt sind, ist neben der Berücksichtigung der vorgenannten Milderungsgründe bei der Strafzumessung und davon unabhängig eine Kompensation der Verletzung des Beschleunigungsgebotes des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK im Wege der Vollstreckungslösung vorzunehmen (vgl. BGHSt aaO; BGH, Urteil vom 7. August 2008 - 3 StR 201/08 Rdn. 9).

Soweit das Landgericht hinsichtlich der Beschwerdeführer von einer Kompensation der sie betreffenden Verletzung des Beschleunigungsgebotes abgesehen und zum konkreten Ausmaß der sie betreffenden Verfahrensverzögerungen keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat (vgl. dazu BGHSt aaO S. 146), bedarf die Sache daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es hier aber nicht, weil der neue Tatrichter zusätzliche Feststellungen zur Verfahrensverzögerung wird treffen können, ohne sich zu den bisherigen in Widerspruch zu setzen.

Er wird zunächst zu prüfen haben, ob vor dem Hintergrund der vorgenommenen Strafmilderung zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten (vgl. BGHSt 52, 124, 146). Reicht sie als Entschädigung nicht aus, so ist festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt (zu den Kriterien für die Bemessung vgl. BGHSt aaO S. 146).

b) Für eine Erstreckung der hinsichtlich der Beschwerdeführer insoweit gebotenen Aufhebung des Urteils auf den früheren Mitangeklagten W., der keine Revision eingelegt hat, ist kein Raum. § 357 StPO findet keine Anwendung, weil die Aufhebung nicht wegen einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des Strafgesetzes erfolgt. Die Aufhebung erfolgt vielmehr, weil das Landgericht rechtsfehlerhaft von der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem so genannten Vollstreckungsmodell abgesehen hat, das sich inhaltlich an den nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1, Art. 13, Art. 34 MRK hierfür maßgeblichen Kriterien ausrichtet (vgl. BGHSt aaO S. 136 f.). Grundlage dieser von Fragen des Unrechts, der Schuld- und Strafhöhe abgekoppelten Kompensation (vgl. BGHSt aaO S. 129 und 138; BGH, Urteil vom 7. August 2008 - 3 StR 201/08 Rdn. 9) ist ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bzw. gegen das auch verfassungsrechtliche Gebot der Gewährung eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. Einl. Rdn. 19 m. N.), mithin die Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren im Sinne des § 344 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2004 - 1 ARs 5/04; zur Abgrenzung zum materiellen Recht vgl. Meyer-Goßner aaO § 337 Rdn. 8; Frisch in SK-StPO § 337 Rdn. 61, jew. m.w.N.). Die Verletzung solcher Normen ist aber keine Gesetzesverletzung im Sinne des § 357 StPO (vgl. Meyer-Goßner aaO § 357 Rdn. 11; Wohlers in SK-StPO § 357 Rdn. 22 m.N.).

Dass die Aufhebung hier auf die Sachrüge erfolgt und nicht auf eine, soweit es sich um Verzögerungen vor Urteilserlass handelt, grundsätzlich erforderliche Verfahrensrüge (vgl. BGHSt 49, 342, 343 f.; Meyer-Goßner aaO Art. 6 MRK Rdn. 9 e m.N.), führt nicht zur (analogen) Anwendung der nach allgemeiner Meinung (vgl. BGHR StPO § 357 Erstreckung 9; Kuckein in KK-StPO 6. Aufl. § 357 Rdn. 23; Wohlers aaO Rdn. 52) als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden Vorschrift des § 357 StPO. Zwar hat das Revisionsgericht auf Grund der Sachrüge einzugreifen, wenn sich - wie hier - bereits aus den Urteilsgründen ergibt, dass eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, oder wenn insoweit ein sachlich-rechtlicher Erörterungsmangel gegeben ist (vgl. BGHSt 49, 342). Der sachlich-rechtliche Mangel, der in einem solchen Fall zur Aufhebung führt, liegt nach der Aufgabe der früher praktizierten Strafabschlagslösung, bei der die Anwendung des § 357 StPO in Betracht gezogen worden ist (vgl. BGH NStZ 1996, 328; BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 376/03, insoweit in BGHSt 49, 342 nicht abgedruckt), aber nicht (auch) in einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des materiellen Strafrechts.

Durch die Kompensation nach dem so genannten Vollstreckungsmodell, die allein der Wiedergutmachung des durch die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK entstandenen objektiven Verfahrensunrechts dient, auf die der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch hat, wird vielmehr eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, wie er in gleicher Weise einer Partei eines Zivilprozesses oder einem an einem Verwaltungsrechtsstreit beteiligten Bürger erwachsen kann (vgl. BGHSt 52, 124, 137 f.).

Eine analoge Anwendung des § 357 StPO kommt im Übrigen schon deshalb nicht in Betracht, weil die Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, nach den individuellen Umständen des Einzelfalles für jeden Angeklagten eigenständig zu beurteilen ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08 Rdn. 14).

3. Die Revision des Angeklagten Y. beanstandet ferner zu Recht, dass das Landgericht es unterlassen hat, gemäß § 67 StGB die Vollstreckungsreihenfolge festzulegen. Nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB n.F. soll das Gericht mit der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitlichen Freiheitsstrafe von über drei Jahren bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Die Sache bedarf daher auch insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es insoweit nicht. Der neue Tatrichter wird gegebenenfalls hinsichtlich der Dauer des Vorwegvollzugs ergänzende Feststellungen für die zu treffende Prognose zu treffen haben, mit welcher konkreten Verweildauer des Angeklagten im Maßregelvollzug zu rechnen ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1109

Externe Fundstellen: NStZ 2009, 108; StV 2009, 682

Bearbeiter: Karsten Gaede