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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 115

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 400/07, Beschluss v. 15.11.2007, HRRS 2008 Nr. 115


BGH 4 StR 400/07 - Beschluss vom 15. November 2007 (OLG Naumburg)

Voraussetzungen einer Divergenzvorlage (Abgrenzung von nicht vorlagefähigen Tatfragen und Rechtsfragen; verhältnismäßige Strafzumessung beim Diebstahl geringwertiger Sachen (kurze Freiheitsstrafe).

§ 121 GVG; § 47 StGB; § 46 StGB; § 242 StGB; § 247a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Entscheidung, unter welchen Umständen die Grenzen schuldangemessenen Strafens überschritten sind und dadurch das Übermaßverbot verletzt ist, gehört zur Strafzumessung und ist als tatrichterliche Wertung tatsächlicher Umstände eine Frage des Einzelfalls, die der Klärung im Wege eines Vorlageverfahrens nicht zugänglich ist (vgl. BGHSt 27, 212, 214ff; NStZ 1983, 261, 262; 1988, 270 f.). Darauf, dass das vorlegende Oberlandesgericht die Frage als Rechtsfrage behandelt hat, kommt es nicht an (vgl. BGHSt 31, 314, 316; NStZ 1995, 409, 410).

2. Im Hinblick auf das Wesen der Strafzumessung, die zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierte Strafzumessungskriterien und -leitlinien ist, muss daher in der Regel davon ausgegangen werden, dass sich die Rechtsausführungen der Obergerichte zu den Grenzen schuldangemessenen Strafens nur auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Einzelfall beziehen (vgl. BGHSt 27, 212, 215 f.; 28, 318, 324 f.).

3. Die gesetzliche Regelung, die für den Diebstahl geringwertiger Sachen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe androht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfGE 50, 205, 214 ff.). Auch die Verhängung einer die Mindeststrafe übersteigenden kurzen Freiheitsstrafe auch in Fällen des Diebstahls geringwertiger Sachen verfassungsgemäß sein kann, wenn der Täter mehrfach und überwiegend einschlägig vorbestraft ist (BVerfG, Beschluss vom 09.06.1994 - 2 BvR 710/94). Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB kommt nicht erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht.

Entscheidungstenor

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Naumburg zurückgegeben.

Gründe

A.

I. Das Amtsgericht Halle-Saalkreis verurteilte den Angeklagten am 27. Juni 2006 wegen Hausfriedensbruchs, wegen Diebstahls geringwertiger Sachen sowie wegen Erschleichens geringwertiger Leistungen in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten. Nach den Feststellungen des Urteils hatte der Angeklagte in der Zeit vom 21. November 2005 bis zum 11. Februar 2006 in neun Fällen öffentliche Verkehrsmittel in Halle benutzt, ohne im Besitz eines gültigen Fahrscheins zu sein; am 26. Januar 2006 hatte er ferner in einem Supermarkt zwei Flaschen Bier im Gesamtwert von 0,62 Euro entwendet und trotz eines Hausverbots, das gegen ihn wegen des Diebstahls der Bierflaschen ausgesprochen worden war, den Supermarkt wenige Stunden später erneut betreten.

Das Amtsgericht hielt gemäß § 47 Abs. 1 StGB die Verhängung von Freiheitsstrafen gegen den Angeklagten für unerlässlich und setzte für jeden Fall der Leistungserschleichung und für den Hausfriedensbruch Einzelfreiheitsstrafen von zwei Monaten sowie für den Diebstahl eine Einsatzstrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe fest. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht Halle durch Urteil vom 22. Januar 2007 als unbegründet. Ergänzend stellte die Strafkammer fest, dass in den Fällen der Leistungserschleichung jeweils nur ein Kurzstreckentarif in Höhe von 1,10 Euro vom Angeklagten zu entrichten gewesen war. Ebenso wie das Amtsgericht hielt die Berufungskammer des Landgerichts die Verhängung von Freiheitsstrafen gemäß § 47 Abs. 1 StGB für unerlässlich und bestätigte deshalb die erstinstanzlich festgesetzten Einzelfreiheitsstrafen sowie die Gesamtfreiheitsstrafe.

Trotz des geringen Wertes der gestohlenen Bierflaschen und des jeweils zu entrichtenden Beförderungsentgeltes sah sich die Strafkammer hieran durch das Übermaßverbot nicht gehindert, weil der Angeklagte mehrfach, auch einschlägig, bestraft und Bewährungsversager sei. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen beanstandet.

II. Das zur Entscheidung über die Revision berufene Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigt, die Revision des Angeklagten entsprechend dem Antrag des Generalstaatsanwalts in Naumburg nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen. Es erachtet die vom Landgericht verhängten Freiheitsstrafen wegen besonderer Umstände, die in der Persönlichkeit des Angeklagten liegen, zur Einwirkung auf ihn als unerlässlich im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB.

Die Einzelfreiheitsstrafen und die Gesamtfreiheitsstrafe seien in ihrer Höhe noch angemessen; das Übermaßverbot werde durch sie nicht verletzt.

Mit Ausnahme der wegen Hausfriedensbruchs verhängten Einzelstrafe sieht sich das Oberlandesgericht Naumburg an der beabsichtigten Entscheidung durch die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 25. Oktober 2001 - 1 Ss 52/01 - (NStZ-RR 2002, 75) und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Februar 2006 - 1 Ss 575/05 - (NStZ 2007, 37) gehindert: Das Oberlandesgericht Braunschweig habe es in der genannten Entscheidung als "schlechthin unangemessen" angesehen, den Diebstahl einer Kaufhausware im Wert von 5,00 DM mit einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten zu ahnden. Das Oberlandesgericht Stuttgart habe den seine Entscheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt, die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht sei bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit eines Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar, so dass wegen des zu beachtenden Übermaßverbotes eine tatrichterliche Ermessensausübung ausscheide. Beide Oberlandesgerichte hätten deshalb die vom Tatrichter verhängten Freiheitsstrafen von zwei Monaten auf die allein als angemessen angesehene gesetzliche Mindeststrafe von jeweils einem Monat zurückgeführt.

Das Oberlandesgericht Naumburg hat die Sache daher gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof über folgende Fragen vorgelegt:

"Stehen das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht entrichten wollte?" sowie "Stehen das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn der Täter eines durch die Wegnahme zweier Bierflaschen aus einem Supermarkt begangenen Diebstahls einen Schaden von nicht mehr als 0,62 Euro verursacht hat?"

III. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Sache an das Oberlandesgericht zurückzugeben; hilfsweise zu beschließen:

"1. Ob das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegenstehen, wenn der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht entrichten wollte, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung erheblicher Faktoren beurteilt werden.

2. Ob das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegenstehen, wenn der Täter eines durch die Wegnahme zweier Bierflaschen aus einem Supermarkt begangenen Diebstahls einen Schaden von nicht mehr als 0,62 Euro verursacht hat, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung erheblicher Faktoren beurteilt werden."

B.

Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzugeben. Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind nicht gegeben, weil sich die vom Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigte Abweichung auf die Bewertung von Tatsachen, nicht aber auf eine Rechtsfrage bezieht. Durch die Beschlüsse der Oberlandesgerichte Braunschweig und Stuttgart ist das vorlegende Oberlandesgericht daher nicht gehindert, in dem von ihm zu entscheidenden Fall ungeachtet einer Ähnlichkeit der zu beurteilenden Sachverhalte die Revision des Angeklagten zu verwerfen.

Der Generalbundesanwalt hat dazu u.a. ausgeführt:

"Die Entscheidung, unter welchen Umständen die Grenzen schuldangemessenen Strafens überschritten sind und dadurch das Übermaßverbot verletzt ist, gehört zur Strafzumessung und ist als tatrichterliche Wertung tatsächlicher Umstände eine Frage des Einzelfalls, die der Klärung im Wege eines Vorlageverfahrens nicht zugänglich ist (vgl. BGHSt 27, 212, 214ff; NStZ 1983, 261, 262; 1988, 270f; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59; KK-Hannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36); darauf, dass das vorlegende Oberlandesgericht die Frage als Rechtsfrage behandelt hat, kommt es nicht an (vgl. BGHSt 31, 314, 316; NStZ 1995, 409, 410).

(...) Im Hinblick auf das Wesen der Strafzumessung, die zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierte Strafzumessungskriterien und -leitlinien ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.06.2007 - 2 BvR 1447/05 und 2 BvR 136/05 Rdnr. 78 [= NStZ 2007, 598ff.]), muss daher in der Regel davon ausgegangen werden, dass sich die Rechtsausführungen der Obergerichte zu den Grenzen schuldangemessenen Strafens nur auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Einzelfall beziehen (vgl. BGHSt 27, 212, 215f; 28, 318, 324f; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485), mögen sie auch so formuliert sein, dass sie als grundsätzliche Aussage aufgefasst werden könnten (vgl. BGHSt 18, 324, 325f; 28, 165, 166; NStZ 1988, 270f). Denn unterschiedliche Ergebnisse rechtsfehlerfrei angewendeten tatrichterlichen Ermessens bei der Strafzumessung haben mit abweichenden Entscheidungen in Rechtsfragen nichts gemein; die denkbaren Umstände des Einzelfalles sind zu vielschichtig für generelle Aussagen (BGHSt 27, 212, 216; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59; KK-Hannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist nicht davon auszugehen, dass die Oberlandesgerichte Braunschweig und Stuttgart die Verhängung von die Mindeststrafe übersteigenden Freiheitsstrafen unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters in Fällen des Diebstahls sehr geringwertiger Sachen aus Kaufhäusern und des Erschleichens sehr geringwertiger Leistungen stets als Verstöße gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens und gegen das Übermaßverbot bewertet haben.

Das Oberlandesgericht Braunschweig hat in dem von ihm zu entscheidenden Fall die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von zwei Monaten beanstandet, weil es das Tatunrecht im doppelten Sinne als denkbar gering angesehen hat: Zum einen wegen der wertmäßigen Geringfügigkeit der entwendeten Schachtel Zigaretten, zum anderen im Hinblick auf die bloß "abstrakte Warenwert-Entziehung" im Kaufhaus, ohne dass dadurch eine "konkret-personale Sphäre" betroffen gewesen sei. Bereits der letztgenannte Gesichtspunkt macht deutlich, dass das Oberlandesgericht Braunschweig seine Entscheidung nicht auf alle Fälle des Diebstahls von Waren im Wert von 5,00 DM oder weniger aus Supermärkten ausdehnen wollte.

(...) Schließlich ist in die Auslegung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Braunschweig einzubeziehen, dass er nach dem Verständnis des vorlegenden Oberlandesgerichts nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stünde. Dies kann im Hinblick auf die Bedeutung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die Vorlegungspflicht der Oberlandesgerichte (vgl. BGHSt 44, 171, 173) nicht unberücksichtigt bleiben. Bereits 1979 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die gesetzliche Regelung, die für den Diebstahl geringwertiger Sachen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe androht, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BVerfGE 50, 205, 214 ff).

Unter Berufung auf diese Senatsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 festgestellt, dass die Verhängung einer die Mindeststrafe übersteigenden kurzen Freiheitsstrafe auch in Fällen des Diebstahls geringwertiger Sachen verfassungsgemäß sein kann, wenn der Täter mehrfach und überwiegend einschlägig vorbestraft ist (BVerfG, Beschluss vom 09.06.1994 - 2 BvR 710/94). (...) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 09.06.1994 klargestellt, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB nicht erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt. Zugleich hat es die gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafen, also auch die Einzelfreiheitsstrafe von zwei Monaten wegen des Diebstahls von zwei Flaschen Bier im Wert von 1,40 DM aus einem Supermarkt angesichts seiner vielfachen, überwiegend einschlägigen Vorstrafen als mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens vereinbar angesehen.

Auch das Oberlandesgericht Stuttgart hat lediglich in einer Einzelfallentscheidung die Verhängung von zweimonatigen Freiheitsstrafen für Leistungserschleichungen mit einem Schaden von 1,65 Euro als nicht mehr schuldangemessen bewertet. Maßgeblich hierfür war ersichtlich eine einzelfallbezogene Abwägung der wesentlichen Strafzumessungsgesichtspunkte.

(...) Der vom Oberlandesgericht Naumburg aus den Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichtes Stuttgart hervorgehobene Satz ("Die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht ist bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit des Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar.") ist bei verständiger Würdigung nur Ergebnis dieser Einzelfallabwägung.

Er ist zwar allgemein formuliert, wird in dem ihm vom Oberlandesgericht Naumburg zugemessenen Bedeutungsgehalt vom Oberlandesgericht Stuttgart jedoch nicht begründet. Da er zudem in auf den Einzelfall bezogene Erwägungen eingebettet ist, ist davon auszugehen, dass das Oberlandesgericht Stuttgart die Verhängung von zweimonatiger Freiheitsstrafe für Leistungserschleichungen mit einem Schaden von 1,65 Euro nicht allgemein, sondern nur in dem ihm vorliegenden Verfahren als nicht mehr schuldangemessen erachtete."

Dem stimmt der Senat zu. Es entscheidet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten bis zu einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen sind. Diese Frage ist deshalb einer Vorlegung nach § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 115

Externe Fundstellen: BGHSt 52, 84; NJW 2008, 672

Bearbeiter: Karsten Gaede