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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 210

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 497/06, Beschluss v. 11.01.2007, HRRS 2007 Nr. 210


BGH 4 StR 497/06 - Beschluss vom 11. Januar 2007 (LG Essen)

Sexueller Missbrauch eines Kindes (unzureichende Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage; teilweise unrichtige Angaben des Belastungszeugen; Aufklärungspflicht).

§ 176 StGB; § 261 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13, 14, 29). Das gilt ganz besonders, wenn sich Angaben des Belastungszeugen teilweise als unrichtig herausstellen (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f.; 44, 256, 257).

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 27. Juni 2006 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Die Kosten der Wiedereinsetzung hat der Angeklagte zu tragen.

Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 23. August 2006, durch den die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen wurde, ist damit gegenstandslos.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Er beantragt zudem die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionsbegründungsfrist.

I.

Der Wiedereinsetzungsantrag ist begründet; denn den Angeklagten trifft an der Versäumung der Revisionsrechtfertigungsfrist kein Verschulden. Damit ist der Beschluss des Landgerichts Essen vom 23. August 2006, durch den die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen wurde, gegenstandslos (vgl. Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. § 346 Rdn. 16 f.).

II.

Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich der Angeklagte im Jahre 1997 öfters in der Wohnung der Nicole P., der Mutter der damals etwa 7jährigen Sonja P., auf und übernachtete auch dort. Nicole P. lebte von ihrem Ehemann getrennt und hatte außer dem Angeklagten noch andere Männerbekanntschaften (UA 10, 11). Sonja ging zu dieser Zeit mit dem Sohn des Angeklagten, Marcel, zur Schule.

An einem nicht näher bestimmbaren Tag, vermutlich im Sommer 1997, kam der Angeklagte in das Zimmer der Sonja, in dem diese und ihre jüngere Schwester Jacqueline in ihren Betten lagen. Der Angeklagte stieg in das Bett der Sonja und legte sich neben das Mädchen. Er fragte es, ob es mit ihm "Vater-Mutter" spielen wolle, ihre Mutter wolle das nämlich nicht. Sonja tat aus Angst so, als schlafe sie. Der Angeklagte nahm sodann "sexuell motiviert" einen seiner Finger in den Mund und führte ihn in die Scheide des Mädchens ein. Diesen Vorgang wiederholte er mehrfach. Als die Mutter der Sonja hörbar aus ihrem Schlafzimmer kam, ließ der Angeklagte von dem Mädchen ab. Er hielt es an den Armen fest und sagte ihm, es solle nichts von dem Geschehen erzählen.

Etwa sieben Jahre später, im April 2004, schrieb Sonja einen Brief an ihre Mutter, den sie in eine Mappe legte. Sie hatte vor, diesen und andere Briefe an ihrem 18. Geburtstag ihrer Mutter zu übergeben. In dem Brief heißt es u.a.:

"... oder Mama mit den Detschello da wo wir in der Sackgasse gewohnt haben. Hat Detschello Jacqueline immer zum Einschlafen ein Lied mit seiner Gitarre gespielt. Und ein paar wochen speter kam er in mein Bett und hat mich gefragt, ob ich mit ihn Mutter und Vater spielen will. Weil du keine Lust hattest.

Da Hat er meine Hose und meine Unterhose Runtergezogen und ich habe geschlafen und hate es nicht gemerkt und er hate sein finger immer in sein Mund gestekt und dan bei mir unten Rein gestekt dan bin ich wach geworden und habe gesagt lass es sein und er hat mich festgehalten. Ich hatte solche Angst deswegen wolte ich zum Papa und weil du mich immer gehauen hast. ... Der Detschello ist pervers. Ich hoffe er sitzt im Gefängnis ..."

Als der Vater des Mädchens, bei dem es zu dieser Zeit wohnte, den Brief fand, erstattete er im Dezember 2004 Anzeige, "obwohl Sonja dies eigentlich nicht wollte". Bei der Polizei gab das Mädchen u.a. an, der in dem Brief erwähnte "Detschello" sei am Oberarm wahrscheinlich mit einem Kreuz tätowiert gewesen (UA 15).

2. Der Angeklagte hat bestritten, die ihm zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Es sei nie zu sexuellen Handlungen mit Sonja gekommen. Er könne sich nicht vorstellen, warum das Mädchen ihn belaste. Es könne allenfalls sein, dass "etwas" mit einer anderen Person, vielleicht mit den anderen Lebensgefährten der Mutter der Sonja, Peter Sch. oder Michael J., vorgefallen sei. Eventuell sehe Sonja ihn auch als Ursache für die Trennung der Eltern.

Das Landgericht sieht die Einlassung des Angeklagten als durch die Aussage der Sonja P. widerlegt an. Als tragendes Indiz für die Richtigkeit der Angaben des Mädchens erachtet es, dass es den Angeklagten als den Vater von Marcel zu identifizieren vermochte und "ihn noch heute mit dem Geschehen aus der ungefähren Tatzeit in Zusammenhang bringen (könne)". Dass der Angeklagte den Namen "Detschello" nie getragen hat, er zur Tatzeit am Oberarm nicht tätowiert war und das Gitarrenspiel (möglicherweise) nicht stattgefunden hat, hält es für unerheblich, weil nicht diese Umstände zur Täteridentifikation geführt hätten, sondern das Wiedererkennen des Angeklagten als den Vater von Marcel (UA 15 f.). Mit den vom Angeklagten genannten möglichen Tätern Peter Sch. und Michael J. befasst sich das Urteil nicht.

3. Die Beweiswürdigung der Strafkammer hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

In einem Fall, in dem - wie hier - Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13, 14, 29). Das gilt ganz besonders, wenn sich Angaben des Belastungszeugen teilweise als unrichtig herausstellen (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f.; 44, 256, 257).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht:

Zur erschöpfenden Beweiswürdigung wäre es erforderlich gewesen, dass das Landgericht sich eingehend mit den Aussagen der Sonja im Ermittlungsverfahren auseinandersetzt, insbesondere damit, wie sie auf den Namen "Detschello" kommt, einem Namen, den weder der Angeklagte noch die Mutter bzw. die Großmutter der Geschädigten je gehört haben (UA 16), welche Grundlage ihre Erinnerung hat, dass der Täter am Oberarm wahrscheinlich mit einem Kreuz tätowiert war, und auf welche näheren Umstände sich ihre Angabe gründet, dass "Detschello", der Täter, ihrer Schwester Jacqueline "immer" zum Einschlafen mit seiner Gitarre vorgespielt habe (UA 9). Zum Letzteren durfte sich die Strafkammer - die im Urteil offen lässt, ob der Angeklagte überhaupt Gitarre spielen kann - mit der Begründung der Geschädigten, "sie habe sich vielleicht vertan" (UA 15), nicht zufrieden geben. Dies gilt umso mehr, als Nicole P. ihrer Tochter zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt von einer ihr selbst als 13-jährigem Kind zugefügten Vergewaltigung erzählt hatte; der damalige Täter, so hatte sie ihrer Tochter berichtet, habe Gitarre gespielt.

Um eine Verwechselung des Täters bzw. die Unrichtigkeit der Angaben der Sonja zum Tatgeschehen rechtsfehlerfrei auszuschließen, hätte das Landgericht die angesprochenen Widersprüche umfassend erörtern und dabei auch berücksichtigen müssen, dass in dem die Ermittlungen auslösenden Brief keine Rede davon ist, dass der Vater von Marcel der Täter war, der Brief erst sieben Jahre nach der Tat geschrieben wurde und der Angeklagte bisher nicht einschlägig in Erscheinung getreten ist. Des Weiteren wäre es erforderlich gewesen darzulegen, dass keiner der weiteren Lebensgefährten, die die Mutter der Sonja zur Tatzeit hatte, als Täter in Betracht kommt. Schließlich hätte sich die Strafkammer auch mit den näheren Umständen der - in der Beweiswürdigung nicht erörterten - Feststellung auseinandersetzen müssen, dem Vater von Sonja sei (wann?) "seitens (eines) behandelnden Psychologen" gesagt worden, das Mädchen "zeige das Verhalten eines missbrauchten Kindes" (UA 8).

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

4. Für den Fall einer erneuten Verurteilung des Angeklagten wird die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer zu berücksichtigen haben, dass dem Angeklagten die Vorteile der rechtsfehlerhaften Beurteilung der Frage der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (UA 6, 19: Härteausgleich von neun Monaten Freiheitsstrafe statt Gesamtstrafenbildung mit der noch nicht erledigten Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Essen vom 20. Mai 2005 [drei Monate Freiheitsstrafe]) nicht genommen werden dürfen (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 210

Bearbeiter: Karsten Gaede