HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 642
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 178/06, Beschluss v. 13.06.2006, HRRS 2006 Nr. 642
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 14. Oktober 2005
a) im Schuldspruch zu a) (Tatzeitraum Januar 1996 bis 18. März 1998) dahin geändert, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen entfällt,
b) im Schuldspruch zu b) aufgehoben, soweit er die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 54 Fällen (Tatzeitraum 19. März 1998 bis 31. März 1999) betrifft. In diesem Umfang wird das Verfahren eingestellt und werden die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt;
c) mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen der Taten im Tatzeitraum 19. März 2000 bis 24. April 2005 (Schuldspruch zu c und d) verurteilt worden ist, sowie im Gesamtstrafenausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung zu Nr. 1 Buchstabe c) wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten 1 a) des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes in 22 Fällen (Tatzeitraum 1. Januar 1996 bis 18. März 1998), 2 b) des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 104 weiteren Fällen (Tatzeitraum 19. März 1998 bis 18. März 2000), 3 c) des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung in 104 weiteren Fällen (Tatzeitraum 19. März 2000 bis 18. März 2002) sowie 4 d) der Vergewaltigung in 45 weiteren Fällen (Tatzeitraum Anfang Juli 2004 bis 24. April 2005) für schuldig befunden und ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen der insgesamt zum Nachteil seiner am 19. März 1984 geborenen Stieftochter begangenen Taten hinsichtlich der sexuellen Übergriffe im Tatzeitraum bis zum 31. März 1999 wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB) für schuldig befunden hat, ist mit Blick auf die erst am 1. April 2004 in Kraft getretene Änderung der Ruhensvorschrift des § 78 b Abs. 1 Nr. 1 (Gesetz vom 27. Dezember 2003, BGBl I 3007/3011) Verfolgungsverjährung eingetreten (vgl. BGHR StGB § 78 b Abs. 1 Ruhen 12). Dies hat zur Folge, dass der Schuldspruch zu a) wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes in 22 Fällen (Taten bis 18. März 1998) dahin zu ändern ist, dass der Angeklagte in diesen Fällen allein des sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 1 a.F. StGB) schuldig ist. Die insoweit ausgeworfenen Einzelfreiheitsstrafen können gleichwohl bestehen bleiben, weil sich der Schuldgehalt der Taten durch den Wegfall der tateinheitlichen Verurteilung nach § 174 StGB nicht rechtserheblich ändert. Des weiteren führt die eingetretene Verfolgungsverjährung dazu, dass das Urteil aufzuheben und das Verfahren einzustellen ist, soweit der Angeklagte wegen der weiteren, bis zum 31. März 1999 begangenen sexuellen Übergriffe verurteilt worden ist.
Davon betroffen sind, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 11. Mai 2006 zutreffend ausgeführt hat, 54 der vom Schuldspruch zu b) erfassten insgesamt 104 Fälle, so dass der Angeklagte insoweit des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in lediglich 50 Fällen, begangen im Zeitraum vom 1. April 1999 bis 18. März 2000, schuldig ist. Der Wegfall der Verurteilung wegen 54fachen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen zieht den Wegfall der insoweit verhängten Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Jahr und drei Monaten nach sich, was schon für sich zur Aufhebung auch des Gesamtstrafenausspruchs führen würde.
2. Im Übrigen hat das Urteil insgesamt keinen Bestand, soweit der Angeklagte des weiteren der Vergewaltigung zum Nachteil seiner Stieftochter in insgesamt 149 Fällen, davon hinsichtlich des Tatzeitraums vom 19. März 2000 bis zum 18. März 2002 in 104 Fällen tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen, für schuldig befunden worden ist (Schuldspruch zu c und d). Wie die Revision zu Recht geltend macht, ist nicht hinreichend belegt, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr mit seiner Stieftochter in allen Fällen durch tatbestandsmäßiges Verhalten im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB erzwungen hat.
a) Die Jugendkammer hat zu Gunsten des Angeklagten angenommen, dass der erste Geschlechtsverkehr des Angeklagten mit seiner Stieftochter nach deren 16. Geburtstag stattgefunden hat. Nach den dazu getroffenen Feststellungen fing der Angeklagte zunächst an, sich vor seiner Stieftochter zu befriedigen, bevor er sich plötzlich auf sie legte, ihren Slip herunterzog und sein Glied in ihre Scheide einführte. Sie versuchte vergeblich, den Angeklagten wegzudrücken, was ihr auf Grund seiner körperlichen Überlegenheit nicht gelang.
In der Folgezeit nahm der Angeklagte jede Gelegenheit wahr, mit ihr den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durchzuführen. Weiter heißt es im angefochtenen Urteil: "Hierbei nutzte der Angeklagte zum einen die Angst der Nebenklägerin aus, wenn sie nicht mitmache, dann verlasse er ihre Mutter. Außerdem drohte er ihr, sie kaputt zu schlagen, wenn sie nicht mitmache und etwas erzähle. Diese Drohung nahm die Nebenklägerin auch ernst. Sie hatte Angst vor dem Angeklagten" (UA 9).
b) Diese Feststellungen belegen weder das Tatbestandsmerkmal der qualifizierten Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB) noch die erforderliche finale Verknüpfung des Nötigungsmittels mit dem - wie das Landgericht annimmt - jeweils erzwungenen Geschlechtsverkehr in allen sich insgesamt über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckenden Fällen. Allerdings kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einmal angewandte Gewalt als Drohung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB fortwirken und dazu führen, dass das Opfer nur aus Furcht vor weiterer Gewalt keinen nennenswerten Widerstand mehr leistet; es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass bei lang andauernden Missbrauchsverhältnissen immer Gewalt angewendet oder ein Nötigungsmittel im Sinne des § 177 StGB eingesetzt wird (BGHSt 42, 107, 111). Deshalb müssen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 StGB auch bei einer länger dauernden Serie von Tathandlungen grundsätzlich für jede Tat konkret und individualisiert festgestellt werden (BGHSt aaO). Geringere Anforderungen an den Nachweis sind nur hinzunehmen, wenn sich der Tatrichter im Einzelfall die Überzeugung eines von dem Täter erzeugten und bewusst eingesetzten "Klimas ständiger Gewalt" verschafft (vgl. BGHR StGB § 177 Serienstraftaten 4 und § 177 Abs. 1 Drohung 11 a.E.).
An diesen Voraussetzungen scheitert es vorliegend schon deshalb, weil der Angeklagte ausweislich der Feststellungen gegen seine Stieftochter mit Ausnahme eines Vorkommnisses, welches sich zudem erst ganz zum Schluss des Tatzeitraums und ohne jeglichen Zusammenhang mit dem Tatgeschehen ereignete (UA 11), nicht gewalttätig geworden ist. Soweit der Angeklagte damit gedroht hat, im Weigerungsfalle die Mutter zu verlassen, sowie hinsichtlich der 15 Fälle des Tatgeschehens in der eigenen Wohnung der Stieftochter im April 2005 angedroht hat, er würde im Weigerungsfalle "mit seinem Auto in ihr Wohnzimmerfenster reinfahren und die Wohnung kurz und klein schlagen" (UA 11), erfüllt dies von vornherein nicht die Voraussetzungen einer Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben. Anders verhält es sich allerdings mit der festgestellten Drohung des Angeklagten, "sie kaputt zu schlagen", wenn sie nicht mitmache und etwas erzähle" (UA 9). Doch fehlt es insoweit bereits an der konkreten Feststellung, zu welchem Zeitpunkt innerhalb der Tatserie der Angeklagte diese Drohung aussprach (vgl. UA 37). Darauf kommt es aber schon mit Blick auf den Nachweis des finalen und kausalen Zusammenhangs zwischen der Drohung und den sexuellen Handlungen an, und zwar unabhängig von der von der Revision aufgeworfenen Frage, ob der Angeklagte mit der Drohung allein erreichen wollte, dass seine Stieftochter über das Tatgeschehen nichts Dritten erzähle. Angesichts dieser Mängel in den Feststellungen genügt auch die das Tatgeschehen in der Dusche betreffende Äußerung des Angeklagten, sie "wisse, was passiere, wenn sie nicht mitmache" (UA 10, 38), nicht, um eine fortwirkende konkludente qualifizierte Drohung anzunehmen, zumal sich dieser Fall erst ereignete, nachdem die Stieftochter im Juli 2004 nach mehr als zweijähriger Unterbrechung wieder zu Hause bei dem Angeklagten eingezogen war. Schließlich ist mit der Annahme eines von dem Angeklagten erzeugten "Klimas ständiger Angst" auch nicht ohne weiteres vereinbar, dass der Angeklagte und seine Stieftochter zu Hause immer einen sehr engen körperlichen Kontakt suchten (UA 19; vgl. auch UA 27).
c) Der aufgezeigte Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des Urteils in den Fällen der Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung (Schuldspruch zu c und d) insgesamt, auch wenn die tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 104 Fällen (Tatzeitraum 19. März 2000 bis 18. März 2002) für sich genommen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist (vgl. BGHR StPO § 353 Aufhebung 1).
Der Senat kann auch nicht die Verurteilung wegen Vergewaltigung (in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen) hinsichtlich des ersten Falls des - nach Auffassung des Landgerichts erzwungenen - Geschlechtsverkehrs bestehen lassen. Zwar können die dazu getroffenen Feststellungen, denen zufolge - wie oben ausgeführt - die Stieftochter den Angeklagten vergeblich wegzudrücken versuchte (UA 8 a.E.), dahin verstanden werden, dass sich die Nebenklägerin hierbei gegen den sexuellen Übergriff zur Wehr setzte und der Angeklagte ihren Widerstand durch Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB überwunden hat. Das Landgericht hat diese Tatbestandsalternative indes, wie die rechtliche Würdigung (UA 36 f.) ergibt, nicht angenommen, sondern mit der unverändert zugelassenen Anklage lediglich die Drohungsalternative des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB als verwirklicht angesehen. Angesichts dessen stünde einer Bestätigung des Schuldspruchs auf veränderter rechtlicher Grundlage bereits § 265 StPO entgegen.
3. Die Aufhebung des Urteils in den 149 Fällen der Vergewaltigung (Schuldspruch zu c und d) entzieht auch den insoweit verhängten Einzelstrafen die Grundlage und hat die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs zur Folge.
Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der neue Tatrichter, falls er sich nicht vom Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 StGB in objektiver und subjektiver Hinsicht zu überzeugen vermag, mit Blick auf die von dem Angeklagten gegenüber seiner Stieftochter geäußerten Drohungen insoweit auch eine Strafbarkeit wegen Nötigung (§ 240 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB) in Betracht zu ziehen haben wird.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 642
Externe Fundstellen: NJW 2006, 3363; NStZ-RR 2006, 269
Bearbeiter: Karsten Gaede