HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 199
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 403/05, Beschluss v. 31.01.2006, HRRS 2006 Nr. 199
1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zur Ergänzung seiner zu Protokoll erklärten und zur Anbringung weiterer Verfahrensrügen gewährt.
2. Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
1. Das Landgericht hat den Angeklagten am 29. April 2005 wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in acht Fällen, wegen Diebstahls in vier Fällen und wegen versuchten Diebstahls unter Einbeziehung von Strafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.
Der Angeklagte, der gegen dieses Urteil form- und fristgerecht Revision eingelegt hat, hat beantragt, ihn in die Revisionsbegründungsfrist zur Anbringung weiterer Verfahrensrügen wiedereinzusetzen.
Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
Das in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil wurde seinem Pflichtverteidiger am 8. Juni 2005 zugestellt. Gleichzeitig wurden dem inhaftierten Angeklagten eine Urteilsausfertigung und eine förmliche Mitteilung über diese Zustellung in die Haftanstalt übersandt. Sowohl der für das Revisionsverfahren beauftragte Wahlverteidiger des Angeklagten als auch sein Pflichtverteidiger haben am 28. Juni 2005 bzw. am 8. Juli 2005 die Revision mit der jeweils ausgeführten Sachrüge begründet. Der Pflichtverteidiger hat darüber hinaus Verfahrensrügen erhoben. Unabhängig davon hat der Angeklagte am 8. Juli 2005 in einer von der Rechtspflegerin des Amtsgerichts Bielefeld protokollierten Erklärung die Revision mit der Sachrüge und mit sieben weiteren Verfahrensrügen begründet. Der Rechtspflegerin lagen bei der Protokollierung das angefochtene Urteil, das Hauptverhandlungsprotokoll und die Revisionsbegründung des Wahlverteidigers vor. Gleichzeitig hat der Angeklagte beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur weiteren Revisionsbegründung zu gewähren, da es ihm angesichts des drohenden Fristablaufs und der fehlenden Vorlage der Akten nicht möglich gewesen sei, sämtliche Verfahrensfehler zu rügen.
Da die Zustellung des Urteils am 8. Juni 2005 vor Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls erfolgt war, wurde es am 7. September 2005 erneut an den Wahlverteidiger zugestellt. Die Zulassung des Pflichtverteidigers zur Rechtsanwaltschaft war zuvor rechtskräftig widerrufen worden. Von dieser Zustellung des Urteils wurde der Angeklagte nicht unterrichtet. Ergänzendes Revisionsvorbringen erfolgte danach weder vom (Wahl-)Verteidiger noch vom Angeklagten. Seinen bislang nicht beschiedenen Wiedereinsetzungsantrag hat der Angeklagte in seinem an den Senat gerichteten Schreiben vom 2. Januar 2006 jedoch ausdrücklich aufrecht erhalten.
2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist begründet. Zwar hat der Angeklagte keine Frist versäumt, sondern lediglich - nach zwei durch seine Verteidiger und eine durch ihn selbst form- und fristgerecht abgegebenen Revisionsbegründungen - weitere Verfahrensrügen innerhalb der Frist nicht formgerecht angebracht. Das berechtigt grundsätzlich nicht dazu, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verlangen (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 2, 4, 5). Die Rechtsprechung hat von diesem Grundsatz jedoch Ausnahmen zugelassen, wenn dies zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint, etwa wenn der Beschwerdeführer durch Maßnahmen des Gerichts gehindert worden ist, Verfahrensrügen innerhalb der Revisionsbegründungsfrist anzubringen (vgl. BVerfG Beschluss vom 30. April 2003 - 2 BvR 283/03; BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 8). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor.
Der Angeklagte war auf Grund eines Verschuldens der Justizbehörden gehindert, seine Revision rechtzeitig mit weiteren Verfahrensrügen zu begründen. Wird, wie hier, eine Entscheidung gemäß § 145 a Abs. 1 StPO dem Verteidiger zugestellt, so ist der Beschuldigte bzw. der Angeklagte gemäß § 145 a Abs. 3 Satz 1 StPO hiervon zu unterrichten. Ausweislich der Akten ist dies bei der zweiten Zustellung des Urteils nicht geschehen. Vielmehr wurde entsprechend der Verfügung des Vorsitzenden vom 2. September 2005 (Bd. VI, 1519 RS der Akten) das Urteil lediglich dem Verteidiger gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, ohne dies dem Angeklagten mitzuteilen. Der Angeklagte hat deshalb ohne Verschulden keine Kenntnis davon erlangt, dass die Revisionsbegründungsfrist erst durch die (zweite) Zustellung des Urteils am 7. September 2005 an den Wahlverteidiger in Gang gesetzt wurde und deshalb nicht, wovon der Angeklagte ausging, am 8. Juli 2005, sondern erst am 7. Oktober 2005 endete.
Bei der in § 145 a Abs. 3 Satz 1 StPO normierten Mitteilungspflicht an den Angeklagten handelt es sich um eine Ordnungsvorschrift, die der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts Rechnung trägt (BVerfG NJW 2002, 1640; BGHR StPO § 145 a Unterrichtung 1). Ein Verstoß gegen diese Pflicht begründet zwar nicht die Unwirksamkeit der Zustellung. Unterbleibt jedoch eine Benachrichtigung des Angeklagten, so kann dies aber jedenfalls dann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, wenn die Fristversäumnis darauf beruht (vgl. Laufhütte in KK, 5. Aufl. § 145 a Rdn. 6; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 44 Rdn. 17 und § 145 a Rdn. 14 m.w.N.). So liegt der Fall hier. Auf Grund des Inhalts des Protokolls über die Aufnahme der Revisionsbegründung vom 8. Juli 2005 war erkennbar, dass der Angeklagte selbst weitere Revisionsrügen zu Protokoll der Geschäftsstelle anzubringen beabsichtigte. Da er nach § 345 Abs. 2 StPO berechtigt ist, gleichzeitig von beiden Formen der Revisionsbegründung - Einreichung einer vom Verteidiger oder Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift und Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle - Gebrauch zu machen (vgl. Kuckein in KK § 345 Rdn. 21), durfte er bei dieser Sachlage auf die Mitteilung einer erneuten, die Revisionsbegründungsfrist erst in Gang setzenden Urteilszustellung vertrauen. Die Möglichkeit einer rechtzeitigen (ergänzenden) Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle ist dem Angeklagten hier deshalb wegen des Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht nach § 145 a Abs. 3 Satz 1 StPO verwehrt gewesen.
Da der Angeklagte bislang ohne sein Verschulden keine Kenntnis vom Lauf der Revisionsbegründungsfrist durch die zweite Urteilszustellung erlangt hat, ist von dem Grundsatz, dass die versäumte Handlung innerhalb der einwöchigen Frist des § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO nachzuholen ist, eine Ausnahme zu machen (vgl. BGHSt 26, 335, 338 f.; OLG Koblenz NStZ 1991, 42 f.; Meyer-Goßner aaO § 45 Rdn. 11). Deswegen kann er sein Revisionsvorbringen unter den hier gegebenen Umständen innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 StPO ergänzen. Die Frist beginnt mit Zustellung dieses Beschlusses.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 199
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2006, 211; StV 2006, 283
Bearbeiter: Karsten Gaede