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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 914

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 235/05, Urteil v. 27.10.2005, HRRS 2005 Nr. 914


BGH 4 StR 235/05 - Urteil vom 27. Oktober 2005 (LG Essen)

Aufklärungsrüge (Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts; nötiger Zwischenrechtsbehelf der Staatsanwaltschaft; Bindung des Revisionsgerichts an die angenommene Verfolgungsgefahr); Grenzen der Revisibilität der Beweiswürdigung bei einem Freispruch.

§ 261 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 55 StPO; § 238 Abs. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die tatsächliche Beurteilung der Verfolgungsgefahr bindet das Revisionsgericht, das sie nur rechtlich daraufhin nachzuprüfen hat, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind (BGHSt 10, 104, 105; 43, 321, 326).

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten A. und die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 15. Oktober 2004 werden verworfen.

2. Der Angeklagte A. trägt die Kosten seines Rechtsmittels; die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft sowie die den Angeklagten hierdurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Das Landgericht hat die Angeklagten G., J. und A. wie folgt verurteilt: den Angeklagten G. wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von vier Jahren, den Angeklagten J. wegen schwerer räuberischer Erpressung in vier Fällen zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und den Angeklagten A. wegen Diebstahls in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Im Übrigen hat es die vorbezeichneten Angeklagten freigesprochen, G. im Fall II. 10, J. in den Fällen II. 3, 4 und 8 und A. in den Fällen II. 2 b und 7 b der Urteilsgründe.

Den Angeklagten K. hat es insgesamt freigesprochen (Fälle II. 8, 9 und 10 der Urteilsgründe). Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen des Angeklagten A. und der Staatsanwaltschaft. Der Angeklagte A. rügt allgemein die Verletzung sachlichen Rechts. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihren Revisionen, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, ausschließlich gegen die Teilfreisprüche der Angeklagten G., J. und A. sowie gegen den Freispruch des Angeklagten K. Sie beanstandet in allen Fällen mit der Sachrüge die Beweiswürdigung des Landgerichts. In Bezug auf den Angeklagten K. erhebt sie darüber hinaus eine Verfahrensrüge. Sämtliche Revisionen erweisen sich als unbegründet.

II.

Den Angeklagten liegt nach der zugelassenen Anklage und der rechtswirksam erhobenen Nachtragsanklage zur Last, als Mitglieder einer Bande im Jahre 2003 in einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Fällen und in wechselnder Besetzung, teilweise im Zusammenwirken mit den früheren Mitangeklagten Ka. und S. sowie weiteren Mittätern, Raubüberfälle auf Sparkassen und Discountläden begangen oder dies versucht zu haben. Das Landgericht hat das Vorliegen einer Bande verneint. Es ist in den Fällen zu einer Verurteilung gelangt, in denen die Angeklagten sich im Wesentlichen ("pauschal") geständig gezeigt haben. In den übrigen Fällen hat es Zweifel an einer Beteiligung der Angeklagten nicht zu überwinden vermocht und diese aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

III.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft

1. Der auf eine Verletzung der §§ 244 Abs. 2, 245 Abs. 1, 55 StPO gestützten Verfahrensrüge, mit der sich die Beschwerdeführerin gegen den Freispruch des Angeklagten K. im Fall II. 9 der Urteilsgründe (Beteiligung am Überfall vom 25. August 2003 auf eine Filiale der Firma Al. in Essen) wendet, bleibt der Erfolg versagt. Der Rüge liegt folgendes Geschehen zugrunde: Dem Angeklagten K. wird in der Anklage angelastet, den Überfall auf den Al. -Markt vom 25. August 2003 gemeinsam mit dem früheren Mitangeklagten Ka. und dem Angeklagten G. begangen zu haben. Wegen der Beteiligung an diesem Überfall war der Zeuge Alexander E. bereits durch Urteil des Landgerichts Essen vom 17. Februar 2004, rechtskräftig seit dem 16. Juni 2004, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. E. hatte in seinem Verfahren eine Beteiligung an der Tat zwar eingeräumt, die Identität seiner Mittäter indessen nicht offenbart. Er wurde zum Hauptverhandlungstermin vom 16. September 2004 als Zeuge geladen. Nach Belehrung gemäß § 55 StPO äußerte er sich zur Sache. Zu Fragen, die die Personen der Mitbeteiligten bei dem Überfall vom 25. August 2003 betrafen, berief er sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht.

Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft gab hierzu eine Stellungnahme ab und vertrat die Auffassung, dass dem Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht (nach § 55 StPO) nicht zustehe. Daraufhin erklärte der Vorsitzende, dass er ein solches für gegeben erachte. Der Zeuge wurde sodann, nachdem eine Entscheidung über seine Vereidigung getroffen worden war, im allseitigen Einverständnis entlassen.

Bei diesem Verfahrensablauf erscheint es bereits zweifelhaft, ob die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen §§ 55 Abs. 1, 245 Abs. 1 StPO rügen kann, da sie es unterlassen hat, von dem hier gegebenen (vgl. BGHSt 10, 104, 105; BGH, Beschl. v. 6. August 2002 - 5 StR 314/02; Senge in KK 2. Aufl. § 55 Rdn. 13; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 55 Rdn. 10 und 245 Rdn. 7 a.E.) Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch zu machen (vgl. hierzu Tolksdorf in KK aaO § 238 Rdn. 17 ff). Jedenfalls ist die Rüge unbegründet.

Die tatsächliche Beurteilung der Verfolgungsgefahr bindet das Revisionsgericht, das sie nur rechtlich daraufhin nachzuprüfen hat, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind (BGHSt 10, 104, 105; 43, 321, 326). Ein Rechtsfehler ist hier jedoch nicht ersichtlich. Insbesondere ist eine Verfolgungsgefahr des Zeugen E. bei Preisgabe der Identität seiner damaligen Mittäter nicht deshalb ausgeschlossen, weil er wegen seiner Beteiligung an der Tat vom 25. August 2003 bereits rechtskräftig verurteilt worden war. Vielmehr lag es unter den hier gegebenen Umständen nahe, dass der Zeuge durch die Offenbarung der Identität der übrigen an dem Überfall Beteiligten sich der Gefahr der Strafverfolgung wegen weiterer, nicht vom Strafklageverbrauch erfasster Taten aussetzen könnte (vgl. hierzu BGH NJW 1999, 1413; BVerfG NJW 2002, 1411).

Dies gilt namentlich vor dem Hintergrund, dass es - wie den Urteilsgründen entnommen werden kann - im Tatzeitraum zu einer Häufung ähnlich gelagerter Überfälle in Nordrhein-Westfalen gekommen war, eine bandenmäßige Begehung in Betracht kam und die Identität einzelner Tatbeteiligter vielfach noch nicht geklärt werden konnte.

2. Auch die Sachrügen, mit denen die Beschwerdeführerin die Beweiswürdigung des Landgerichts beanstandet, dringen nicht durch.

a) Spricht das Gericht den Angeklagten frei, weil es vorhandene Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist das grundsätzlich vom Revisionsgericht hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Das Revisionsgericht hat aufgrund der Sachrüge nur zu prüfen, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13 und Überzeugungsbildung 33). Das ist nur dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt; ferner dann, wenn das Gericht an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen stellt.

Derartige Rechtsfehler lässt das angefochtene Urteil jedoch nicht erkennen.

b) Das Landgericht hat umfassend und sorgfältig die für und gegen eine Täterschaft der Angeklagten in den ihnen jeweils angelasteten Fällen sprechenden Beweisanzeichen gewürdigt und gegeneinander abgewogen. Es hat sich hierbei sachverständig beraten mit den vorgefundenen tatrelevanten DNA-Spuren auseinandergesetzt und diesen rechtsfehlerfrei im Ergebnis keinen ausschlaggebenden Beweiswert zugemessen. In diesem Zusammenhang hat es - entgegen dem Revisionsvorbringen - auch mit nachvollziehbaren, tatsachenfundierten Erwägungen dargelegt, dass bei den Taten verwendete Kleidungsstücke wechselseitig von mehreren als Täter in Betracht kommenden Personen getragen worden sein können (vgl. UA 43/44, 49/50, 53/54 und UA 60/61). Schließlich hat das Landgericht die maßgeblichen Beweisanzeichen nicht nur jeweils isoliert für sich betrachtet, sondern auch die gebotene Gesamtschau vorgenommen (vgl. UA 49, 59 unten, 61 Mitte und UA 91). Wenn es hiernach seine Zweifel an einer Täterschaft der Angeklagten nicht zu überwinden vermochte, so ist dies vom Revisionsgericht hinzunehmen, auch wenn im Einzelfall eine andere Beurteilung möglich gewesen wäre oder sogar näher gelegen hätte.

Revision des Angeklagten A.

Die Revision des Angeklagten A. bleibt ohne Erfolg, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 914

Externe Fundstellen: NStZ 2006, 178; StV 2006, 283

Bearbeiter: Karsten Gaede