Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 526/94, Beschluss v. 21.04.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 10. März 1994 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Jugendlichen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg; eines Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf es deshalb nicht.
I. Nach den Feststellungen lernte der Angeklagte am 25. Februar 1993 anläßlich eines Besuchs bei Bekannten die damals 15 Jahre alte S. kennen, die Ende Januar 1993 aus einem Erziehungsheim entwichen war und sich seit Anfang Februar 1993 in Dresden aufhielt, überwiegend am Hauptbahnhof mit Bekannten aus der rechtsradikalen Szene, bei denen sie auch nächtigte. Zeitweilig betätigte sie sich als Zeitschriftenwerberin. Bei diesem ersten Zusammentreffen bot der Angeklagte S., deren Alter und Herkunft ihm bekannt waren, an, zu ihm in seine Wohnung zu ziehen, auch stellte er ihr eine Lehre als Sekretärin in Aussicht. Das Mädchen willigte ihm Hinblick auf die angebotene Unterkunft und die in Aussicht gestellte Lehre ein und ging mit ihm mit. Der Angeklagte kümmerte sich in der Folgezeit um das Mädchen und bot ihm ein Zuhause. Er nahm jedoch weder Kontakt zum Jugendamt noch zu den Eltern des Mädchens auf. Zur "Absicherung und Verfestigung der Beziehung" schloß er am 28. Februar 1993 mit S. einen "privatschriftlichen Vertrag". In den ersten drei Wochen entwich S. zweimal aus der Wohnung des Angeklagten. Nach dem ersten Mal kehrte sie nach ungefähr einer Woche freiwillig zurück, beim zweiten Mal entdeckte der Angeklagte sie am Bahnhof in Begleitung eines anderen Mannes und brachte sie gegen ihren Willen in seine Wohnung zurück. Danach unternahm S. keine weiteren Ausreißversuche, zum einen, weil sie davon ausging, daß der Angeklagte sie ohnehin suchen und wieder zurückholen würde, zum anderen war es für sie angenehm, kostenlos Unterkunft und Verpflegung zu haben. Obwohl sie eine geschlechtliche Beziehung mit dem Angeklagten nicht wollte, ging sie auf dessen Anfang April 1993 erstmals geäußertes Verlangen, mit ihm den Geschlechtsverkehr auszuführen, ein, insbesondere wegen der Annehmlichkeiten wie Verpflegung und Unterkunft, die ihr vom Angeklagten geboten wurden. Ab dem 3. April 1993 bis zum 1. Mai 1993 kam es zwischen dem Angeklagten und S. in mindestens 25 Fällen zum Geschlechtsverkehr, daneben auch zu Oral- und Analverkehr.
II. Das Landgericht ist in seiner rechtlichen Würdigung davon ausgegangen, daß S. dem Angeklagten zur Betreuung im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB anvertraut war, weil er aus eigenem Entschluß die Verantwortung für die Sorge des aus dem Heim entwichenen 15jährigen Mädchens tatsächlich übernommen hatte.
1. Diese rechtliche Beurteilung wird von den bisherigen Feststellungen nicht getragen. Das Landgericht hat sich ersichtlich lediglich an dem der Entscheidung BGHSt 1, 292 vorangestellten Leitsatz orientiert und sich dadurch für die Unterschiede in den Sachverhaltsgestaltungen und für die rechtlichen Voraussetzungen, die ein Betreuungsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllen muß, den Blick verstellt. In der Entscheidung BGHSt 1, 292 wurde das tatsächliche Anvertrautsein des Minderjährigen darin gefunden, daß dieser dem Täter von einer Fürsorgerin übergeben worden war und der Täter sich bereit erklärt hatte, für den Jugendlichen zu sorgen. Der damals erkennende Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in späteren Entscheidungen Veranlassung gesehen, darauf deutlich hinzuweisen (BGH NJW 1955, 1237 f.; BGH, Urteil vom 20. Juli 1960 - 2 StR 295/60; vgl. auch Lenckner in Schönke/Schröder 24. Aufl. § 174 Rdn. 9).
Zwar sind durchaus Umstände denkbar, unter denen sich ein Jugendlicher einem Erwachsenen zur Betreuung in der Lebensführung gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB anvertrauen kann. Auch mag es Fälle geben, in denen der Erwachsene zu dem Jugendlichen ein Betreuungsverhältnis in der Weise eingeht, daß er sich für die Lebensführung, die sittliche Haltung und die geistige Entwicklung des Minderjährigen verantwortlich fühlen muß, selbst wenn keine wenigstens stillschweigende Übertragung der Sorgepflicht durch die Erziehungsberechtigten oder eine sonst verantwortliche Person vorliegt. Denn entscheidend ist nicht, wie der Erzieher, der Ausbilder oder der Betreuer bestellt worden ist (BGHSt 21, 196, 201 f.; 33, 341, 344 f.). Ein die Anforderungen des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllendes Anvertrautsein zur Betreuung in der Lebensführung setzt jedoch, wie auch die übrigen Tatbestandsalternativen der Erziehung und der Ausbildung, ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus (st. Rspr. vgl. u.a. BGHSt 4, 212 f.; 21, 196, 200 f.; 33, 341, 344).
Ein derartiges, dem Schutzzweck des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis (vgl. Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses BT-Drucks. VI/3521 S. 21), ist den Urteilsgründen nicht hinreichend deutlich zu entnehmen. Dafür sprechen könnte zwar, daß der Angeklagte S. ein Zuhause bot, sie zur Körperhygiene anhielt und sich bemühte, sie von ihren Bekannten aus dem Bahnhofsmilieu fernzuhalten; auch verhält sich der sogenannte Vertrag vom 28. Februar 1993 darüber, daß die "Familie L." - gemeint ist die Familie des Angeklagten, die jedoch tatsächlich keinen Bestand mehr hatte, da der Angeklagte zu dieser Zeit schon von seiner Ehefrau getrennt lebte - dem Mädchen körperliche und geistige Erziehung vermitteln sollte. Dieser sogenannte Vertrag, den das Landgericht in seine Würdigung nicht erkennbar einbezogen hat, kann nach seinem übrigen Inhalt aber auch als Indiz dafür gewertet werden, daß S. dem Angeklagten als gleichberechtigte Partnerin gegenüberstand, ihm gewissermaßen auf gleicher Ebene begegnete; träfe dies zu, käme ein für den Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erforderliches Anvertrautsein zur Betreuung in der Lebensführung nicht in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 1960 - 2 StR 295/60). Auch können die festgestellten Motive des Mädchens, die es bewogen haben, mit dem Angeklagten mitzugehen, bei ihm zu bleiben und dessen Verlangen nach Geschlechtsverkehr als Gegenleistung für die gebotene Versorgung nachzugeben - nämlich die Aussicht auf eine Lehrstelle und die Annehmlichkeiten von Verpflegung und Unterkunft - dafür sprechen, daß S. das Zusammenleben mit dem Angeklagten als bloße Zweckgemeinschaft zur eigenen materiellen Versorgung verstand und sich dem Angeklagten nicht zur Obhut oder Betreuung anvertrauen wollte. Erwägungen hierzu teilt das Landgericht nicht mit. Auf der anderen Seite stellt es, was für das Vorliegen eines Betreuungsverhältnis sprechen könnte, fest, daß S. sich bei dem Angeklagten zunächst wie bei einem Vater fühlte, was der Angeklagte ebenso empfand. Worauf das Landgericht diese Feststellung stützt und welche inhaltliche Bedeutung das Mädchen dem beigemessen hat, wird jedoch nicht näher dargelegt. Was S. veranlaßt hat, nach dem ersten Verlassen der Wohnung freiwillig zu dem Angeklagten zurückzukehren, ist dem Urteil ebenfalls nicht zu entnehmen. Die Feststellungen sind deshalb nicht geeignet, die sich aus den Urteilsgründen ergebenden Bedenken gegen die Annahme eines Anvertrautseins zur Betreuung in der Lebensführung zu entkräften.
2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat im übrigen darauf hin, daß, wie bereits der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, die Annahme einer fortgesetzten Handlung für den Tatbestand des § 174 StGB nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 1994 - GSSt 2 und 3/93 (BGHSt 40, 138) nicht mehr in Betracht kommt.
Externe Fundstellen: BGHSt 41, 137; NJW 1995, 2999; NStZ 1995, 495; StV 1996, 90
Bearbeiter: Rocco Beck