HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 982
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 79/24, Urteil v. 13.06.2024, HRRS 2024 Nr. 982
Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 16. Oktober 2023 wird verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Herstellen jugendpornographischer Schriften zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt sowie eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die mit der ausgeführten Sachrüge begründete Revision der Nebenklägerin richtet sich gegen den Freispruch im Übrigen. Das zulässige Rechtsmittel bleibt in der Sache ohne Erfolg.
I. Die zulässige Revision der Nebenklägerin ist wirksam auf den Teilfreispruch beschränkt, soweit dieser Nebenklagedelikte betrifft.
Gemäß § 400 Abs. 1 StPO kann ein Nebenkläger ein Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigt. Aufgrund der beschränkten Anfechtungsbefugnis muss der Nebenkläger innerhalb der Revisionsbegründungsfrist das Ziel seines Rechtsmittels ausdrücklich und eindeutig angeben (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 400 Rn. 6 mwN). Die Revision des Nebenklägers ist unzulässig, wenn aus ihr nicht ersichtlich wird, dass sie ein gemäß § 400 Abs. 1 i.V.m. § 395 StPO zulässiges Ziel verfolgt. Die Erhebung der unausgeführten allgemeinen Sachrüge reicht deshalb grundsätzlich nicht, um eine zulässige Nebenklagerevision zu erheben (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 7. August 2018 - 3 StR 246/18, juris Rn. 2; vom 27. Februar 2018 - 4 StR 489/17, juris Rn. 1; jeweils mwN). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist nur dann anzuerkennen, wenn aufgrund der Prozesslage die konkrete Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers zweifelsfrei feststeht, etwa wenn er Revision gegen den Freispruch eines Angeklagten vom Vorwurf eines zur Nebenklage berechtigenden Delikts einlegt (vgl. KK-StPO/Allgayer, 9. Aufl., § 400 Rn. 3). So verhält es sich hier.
Die nach allgemeinen Grundsätzen vorzunehmende Auslegung der Revisionsbegründungsschrift (vgl. KK-StPO/Allgayer, aaO) ergibt, dass die Nebenklage das Urteil lediglich insoweit angreift, als der Angeklagte vom Vorwurf der Begehung von Nebenklagedelikten freigesprochen worden ist. Zwar lautet der gestellte Antrag auf umfassende Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen; aus den anschließenden, die allgemein erhobene Sachrüge konkretisierenden Ausführungen folgt jedoch hinreichend eindeutig, dass die Nebenklägerin lediglich die Überprüfung des Urteils im Umfang des Teilfreispruchs insoweit erstrebt, als eine Verurteilung wegen Nebenklagedelikten unterblieben ist. Denn die Revision rügt, abweichend von dem durch Videoaufnahmen belegten Verurteilungsfall habe die Strafkammer die Angaben der Nebenklägerin insgesamt als unglaubhaft bewertet und für ihre Überzeugungsbildung außer Betracht gelassen.
II. Die Revision der Nebenklägerin ist im dargelegten Umfang unbegründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.
1. Soweit das Landgericht den Angeklagten von dem Vorwurf der Vergewaltigung in 22 Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, zum Nachteil der Nebenklägerin begangen zwischen dem 5. Oktober 2019 und dem 7. Februar 2021 in der Familienwohnung in B., freigesprochen hat, liegen dem die folgenden für die Revisionsentscheidung bedeutsamen Feststellungen und Wertungen zugrunde:
Zur Überzeugung der Strafkammer kam es bereits vor dem Tatzeitpunkt des Verurteilungsfalls, dem 4. Dezember 2020, mehrfach zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin, wobei nähere Feststellungen zum Tatzeitraum und Tatgeschehen, insbesondere der konkreten Ausgestaltung solcher Handlungen, nicht haben getroffen werden können. Anhand der in Augenschein genommenen Videoaufnahmen werde zwar deutlich, dass am 4. Dezember 2020 nicht zum ersten Mal sexuelle Handlungen zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin stattfanden, da die Interaktionen, sowohl was den Oralverkehr als auch was den vaginalen und analen Geschlechtsverkehr anbelangt, eingeübt und routiniert erschienen. Konkrete Taten könnten indes durch die Videoaufnahmen nicht belegt werden. Insoweit stünden, abweichend von der Beweislage im Verurteilungsfall, für die weiteren Tatvorwürfe keine sonstigen, objektiven Beweismittel, sondern lediglich die Angaben der Nebenklägerin zur Verfügung. Mangels Belastbarkeit und Zuverlässigkeit könnten diese Bekundungen einer Verurteilung des Angeklagten nicht zugrunde gelegt werden. Unabhängig davon, dass die Angaben der Nebenklägerin bereits nicht glaubhaft gewesen seien, ließen sich anhand ihrer Ausführungen keine konkreten Taten und Begleitumstände herausarbeiten oder näher eingrenzen, ebenso wenig die Einbettung in einen zeitlichen und örtlichen Kontext.
2. Diese durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden.
a) Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es auf der Grundlage einer Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls Zweifel an den Taten nicht zu überwinden vermag, so hat das Revisionsgericht dies grundsätzlich hinzunehmen; denn die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem zusammenfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm bei der Beweiswürdigung ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen ein Denkgesetz oder einen gesicherten Erfahrungssatz verstößt oder erkennen lässt, dass das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Überzeugung gestellt hat.
Liegt ein Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre. Gleichermaßen Sache des Tatgerichts ist es, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen be- und entlastenden Indizien zu bewerten. Das Revisionsgericht ist insoweit auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt und nicht befugt, auf der Grundlage einer abweichenden Beurteilung der Bedeutung der Indiztatsachen in dessen Überzeugungsbildung einzugreifen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 2. November 2023 - 3 StR 249/23, NStZ 2024, 186 Rn. 9 mwN).
b) Die Nachprüfung der dem Teilfreispruch zugrundeliegenden Beweiswürdigung hat nach den vorgenannten Maßstäben keinen Rechtsfehler ergeben.
aa) Ohne dass dagegen von Rechts wegen etwas zu erinnern wäre, hat sich die Strafkammer gehindert gesehen, weitere Taten allein auf der Grundlage der - im Einzelnen nachvollziehbar als inkonstant und widersprüchlich bewerteten - Angaben der Nebenklägerin festzustellen.
bb) Entgegen den Ausführungen des Generalbundesanwalts enthält die Beweiswürdigung keinen unaufgelösten Widerspruch. Zwar ist das Landgericht auf der Grundlage der Videoaufnahmen als objektiver Beweismittel davon überzeugt gewesen, dass zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin nicht nur am 4. Dezember 2020, sondern bereits zuvor mehrfach sexuelle Handlungen stattfanden. Es hat sich indessen an einer Verurteilung des Angeklagten wegen weiterer anklagegegenständlicher Sexualdelikte ohne Rechtsfehler mangels zu den unzureichenden Angaben der Nebenklägerin hinzutretender - anderer - objektiver Beweismittel gehindert gesehen. Eine Zuordnung solcher früheren sexuellen Handlungen zu einer oder mehrerer der verbleibenden dem Angeklagten vorgeworfenen, mit dem Anklagesatz individualisierten Taten ist der Strafkammer nicht möglich gewesen. Auch soweit die Nebenklägerin zur verurteilten Tat überschießende Umstände bekundet hat, die zusätzliche - nicht ausgeurteilte - Straftatbestände erfüllen, hat das Landgericht dem aufgrund einer ausführlichen und sorgfältigen Aussageanalyse insofern nachvollziehbar keinen Glauben zu schenken vermocht, als die Angaben nicht in den Tatvideos eine Stütze gefunden haben.
cc) Ein abweichendes Ergebnis lässt sich nicht aus einer für Fälle gleichförmiger Serientaten in der Rechtsprechung anerkannten Absenkung der Feststellungsanforderungen herleiten.
Hiernach kann ein Gericht gehalten sein, bei der Bestimmung des Schuldumfangs unter Beachtung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ einen über den als erwiesen angesehenen Verurteilungsfall hinausgehenden Mindestschuldumfang festzustellen. Denn zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken aufgrund der Feststellungsschwierigkeiten solcher oft gleichförmig verlaufenden Taten über einen langen Zeitraum zum Nachteil von Kindern und/oder Schutzbefohlenen, die in der Regel allein als Beweismittel zur Verfügung stehen, dürfen keine überzogenen Anforderungen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil gestellt werden. Das Tatgericht muss sich aber in nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist. Dabei steht nicht in erster Linie die Ermittlung einer Tatfrequenz, sondern die des konkreten Lebenssachverhalts im Vordergrund; dieser ist ausgehend vom Beginn der Tatserie mit den unterschiedlichen Details etwa zu Tatausführung und Tatort der einzelnen Straftaten in dem gegebenen Tatzeitraum nach dem Zweifelssatz festzustellen und abzuurteilen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Oktober 2008 - 3 StR 375/08, juris Rn. 12; Beschlüsse vom 25. März 2010 - 5 StR 83/10, juris Rn. 8; vom 16. Mai 1994 - 3 StR 118/94, BGHR StGB § 1 Kindesmissbrauch 2; jeweils mwN).
Eine solche Fallgestaltung liegt indessen nicht vor. Die zugelassene Anklage enthält gerade keine gleichförmigen Serientaten, die eine Absenkung der üblichen Feststellungsanforderungen rechtfertigen könnten, sondern im Gegenteil konkrete auf den Aussagen der Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren beruhende Beschreibungen von Tatmodalitäten, die durch die Videoaufnahmen nicht indiziert worden sind.
3. Die Überprüfung des Urteils hat auch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 301 StPO; vgl. zum Prüfungsumfang BGH, Urteil vom 2. Februar 2022 - 2 StR 41/21, BGHSt 67, 7 Rn.15 ff.).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 982
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede