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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 271

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 80/22, Beschluss v. 24.01.2023, HRRS 2023 Nr. 271


BGH 3 StR 80/22 - Beschluss vom 24. Januar 2023 (LG Düsseldorf)

Schlussvorträge (Anspruch auf angemessene Vorbereitungszeit; Verfahrensrüge: Darlegungserfordernisse); Irrtumsfeststellung beim Betrug (normativ geprägtes Vorstellungsbild bei massenhaften und gleichgelagerten Ausführungshandlungen; Verzicht auf Zeugenaussagen von Geschädigten).

§ 258 Abs. 1 StPO; § 261 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 263 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Gericht ist dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten. Was dazu erforderlich ist, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall bestimmen. Danach kann es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen.

2. Ebenso wie im Fall der Verletzung des Rechts des Angeklagten auf das letzte Wort ist es weder erforderlich, dass die Revision den Inhalt des Schlussvortrages darlegt, der nach Gewährung einer Vorbereitungszeit gehalten worden wäre, noch, aus welchen Gründen dieser konkrete Vortrag einer längeren Vorbereitungszeit bedurfte.

3. Gegen die Annahme eines normativ geprägten Vorstellungsbildes für den Irrtum i.S. des § 263 StGB ist auf Grundlage von Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgrund von massenhaften und gleichgelagerten Ausführungshandlungen grundsätzlich nichts zu erinnern.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 14. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges und Verabredung zum gewerbsmäßigen Bandenbetrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten, den Angeklagten P. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die dagegen gerichteten, jeweils auf mehrere Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützten Rechtsmittel haben mit der Rüge einer Verletzung von § 258 Abs. 1 StPO Erfolg.

1. Den - inhaltlich übereinstimmenden - Verfahrensbeanstandungen der Angeklagten liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die gegen die Angeklagten geführte Hauptverhandlung dauerte vom 6. Januar 2021 bis zum 14. Juli 2021 und fand an 45 Tagen statt. Am 3. Mai 2021 teilte der Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten mit, dass die von Amts wegen vorgesehene Beweisaufnahme mit Vernehmung eines auf den 1. Juni 2021 geladenen Zeugen abgeschlossen sei. Die Verteidiger beider Angeklagten stellten im Verlauf der Hauptverhandlung zahlreiche Beweisanträge, denen die Wirtschaftsstrafkammer teilweise nachging, die sie aber zum überwiegenden Teil ablehnte. Am 7. Juli 2021 verkündete der Vorsitzende die Ablehnung zahlreicher Anträge durch Beschlüsse mit einem Umfang von insgesamt etwa 100 Seiten. Anschließend antwortete der Vorsitzende auf die Frage eines Verteidigers nach dem Programm für die weiteren Hauptverhandlungstage, dass er dies nicht einschätzen könne, da möglicherweise auf die bislang nicht beschiedenen Anträge noch Beweise zu erheben seien. Alle Verfahrensbeteiligten sollten sich auf „längere Tage“ einstellen. Zu diesem Zeitpunkt waren noch sechs Hauptverhandlungstage terminiert.

Am folgenden Verhandlungstag, dem 13. Juli 2021, lehnte das Landgericht elf weitere Beweisanträge ab und verlas dazu etwa 60 Seiten Begründung. Auf die anschließende Frage des Vorsitzenden, ob noch weitere Beweisanträge gestellt werden sollten, antwortete ein Verteidiger des Angeklagten K., dass dies der Fall sei, man sich aber zunächst mit den soeben verkündeten Beschlüssen befassen wolle. Der Vorsitzende teilte mit, dass die Verteidigung die Anträge am folgenden Verhandlungstag stellen könne. Sodann wurde die Beweisaufnahme geschlossen und der Vertreter der Staatsanwaltschaft hielt (erstmals) seinen Schlussvortrag. Die Angeklagten lehnten die Mitglieder der Wirtschaftsstrafkammer vor diesem Hintergrund wegen der Besorgnis der Befangenheit ab, woraufhin die Hauptverhandlung kurz nach 16:30 Uhr unterbrochen wurde. Die Verteidiger führten anschließend bis 17:40 Uhr Gespräche mit den Angeklagten im Haftraum des Landgerichts.

Am Morgen des 14. Juli 2021 wurden per Telefax die dienstlichen Stellungnahmen der abgelehnten Richter zu den Ablehnungsgesuchen übersandt. Am selben Tag wurde die Hauptverhandlung - nach zwischenzeitlicher Bescheidung der Befangenheitsanträge - um 11:40 Uhr fortgesetzt und es wurden nach Wiedereintritt in die Beweisaufnahme weitere Beweise erhoben. Der Vorsitzende schloss daraufhin die Beweisaufnahme und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft plädierte erneut. Sodann erklärten die Verteidiger, Zeit für die Vorbereitung ihrer Schlussvorträge zu benötigen, um sich insbesondere mit den Gründen der am Vortag verkündeten Beschlüsse befassen zu können. Sie stellten einen Unterbrechungsantrag, der abschlägig beschieden wurde. Der Vorsitzende forderte die Verteidiger danach auf, zumindest „unter Protest“ zu plädieren, was diese unter Verweis auf die mangelnde Vorbereitungszeit verweigerten. Nach dem letzten Wort der Angeklagten unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung bis zur kurz darauf folgenden Urteilsverkündung.

2. Die Verfahrensbeanstandungen sind zulässig erhoben. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts genügen sie den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Ebenso wie im Fall der Verletzung des Rechts des Angeklagten auf das letzte Wort (vgl. dazu BGH, Urteile vom 8. August 1967 - 1 StR 279/67, BGHSt 21, 288, 290; vom 8. Februar 1957 - 1 StR 375/56, BGHSt 10, 202, 207) war es weder erforderlich, dass die Revision den Inhalt des Schlussvortrages darlegt, der nach Gewährung einer Vorbereitungszeit gehalten worden wäre (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 258 Rn. 33), noch, aus welchen Gründen dieser konkrete Vortrag hier einer (längeren) Vorbereitungszeit bedurfte.

3. Die Rügen sind auch jeweils begründet. Der geltend gemachte Verfahrensfehler liegt vor, weil das Landgericht nicht die nach Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls erforderliche Zeit für die Vorbereitung der Schlussvorträge gewährt hat.

a) § 258 Abs. 1 StPO räumt dem Angeklagten das Recht ein, nach Beendigung der Beweisaufnahme und vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts zum gesamten Sachverhalt und zu allen Rechtsfragen des Verfahrens Stellung zu nehmen, und dient damit unmittelbar der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 1980 - 2 BvR 705/79, BVerfGE 54, 140, 141 f.). Zur Ausübung dessen kann er sich - wie in § 258 Abs. 3 StPO vorausgesetzt - eines Verteidigers bedienen (KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 258 Rn. 5). Dieses Recht erschöpft sich aufgrund seiner überragenden Bedeutung nicht in der bloßen Möglichkeit zur Äußerung; vielmehr muss den Verfahrensbeteiligten eine wirksame Ausübung ermöglicht werden. Das Gericht ist daher dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten (vgl. KG, Beschluss vom 19. Juli 1984 - [5] Ss 136/84 [11/84], NStZ 1984, 523, 524).

Was dazu erforderlich ist, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall bestimmen. Danach kann es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. März 1989 - 5 StR 120/88, BGHR StPO § 258 Abs. 1 Schlussvortrag 1; vom 11. Mai 2005 - 2 StR 150/05, NStZ 2005, 650). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang diese zu gewähren ist, hat das Tatgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Vorbereitungszeit verlangen. Für die Beurteilung der Angemessenheit derselben kann neben Komplexität und Umfang der Sach- und Rechtslage insbesondere auch relevant sein, dass die Verfahrensbeteiligten bereits zuvor auf den anstehenden Schluss der Beweisaufnahme hingewiesen wurden oder aus anderen Gründen damit rechnen mussten, ihre Plädoyers halten zu müssen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 21. März 1989 - 5 StR 120/88, BGHR StPO § 258 Abs. 1 Schlussvortrag 1); in diesem Fall können sie die Zeit zwischen den Hauptverhandlungsterminen bereits zur Vorbereitung ihrer Vorträge und gegebenenfalls erforderlichen Besprechung und Abstimmung mit dem Mandanten nutzen, sodass die Notwendigkeit einer (weiteren) Unterbrechung ganz entfallen oder jedenfalls ihre Dauer kürzer zu bemessen sein kann.

Im vorliegenden Fall erweist sich zumindest die vollständige Versagung einer Vorbereitungszeit als rechtsfehlerhaft. Aus den vorgenannten Grundsätzen ist zwar nicht zu schlussfolgern, dass es im Belieben der Verfahrensbeteiligten steht, ob und in welchem Umfang eine Vorbereitungszeit zu gewähren ist, denn sie muss in Ansehung der Umstände des Einzelfalls objektiv angemessen sein. Bei der Dauer einer Hauptverhandlung von über sechs Monaten mit 45 Verhandlungstagen konnte das Landgericht aber nicht ohne weiteres von den Verfahrensbeteiligten verlangen, jederzeit den gesamten Prozessstoff für ein Plädoyer, das alle im Laufe des Verfahrens stattgefundenen Beweiserhebungen und aufgeworfenen Rechtsfragen berücksichtigt, aufbereitet zu haben. Dies gilt hier erst recht, weil am dritt- und vorletzten Hauptverhandlungstag Beschlüsse, mit denen Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt wurden und die insgesamt ca. 160 Seiten Begründung umfassen, verkündet wurden, auf welche die Verteidigung grundsätzlich reagieren können und deren Kenntnisnahme und Berücksichtigung in den Schlussvorträgen allen Verfahrensbeteiligten jedenfalls ermöglicht werden musste. Aufgrund der Kürze der zwischen Ende des Verhandlungstages am 13. und Beginn am 14. Juli 2021 liegenden Zeitspanne konnte nicht erwartet werden, dass die Verteidiger in der Lage waren, die Beschlussgründe umfassend zu prüfen und etwaige Auswirkungen auf das Prozessverhalten bzw. die Gestaltung der Plädoyers mit ihren Mandanten zu besprechen. Dies war dem Gericht auch spätestens durch die gestellten Unterbrechungsanträge bekannt.

Etwas anderes hätte allenfalls dann gelten können, wenn die Angeklagten bzw. ihre Verteidiger aufgrund des Prozessverlaufs oder einer (eindeutigen) Äußerung des Vorsitzenden hätten damit rechnen müssen, ihre Schlussvorträge bereits am 13. Juli 2021 zu halten. Dies war hier aber nicht der Fall. Die Wirtschaftsstrafkammer hatte zwar bereits im Mai 2021 bekannt gegeben, von Amts wegen keine weiteren als die bis zu diesem Zeitpunkt vorgesehenen Beweise erheben zu wollen. Jedoch mussten sich die Verfahrensbeteiligten deswegen nicht veranlasst sehen, an jedem auf die für Anfang Juni vorgesehene letzte Zeugenvernehmung folgenden Verhandlungstag auf das Halten ihrer Schlussvorträge vorbereitet zu sein. Denn im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung erhob das Landgericht auf einige der gestellten Anträge hin noch Beweise, sodass sich die Beweisaufnahme fortsetzte, ohne dass ihr Ende absehbar gewesen wäre. Gegen eine insofern zumindest unklare Verfahrenslage lässt sich hier nicht anführen, dass der Vorsitzende am drittletzten Hauptverhandlungstag auf „längere Tage“ hinwies. Diese Mitteilung war zumindest mehrdeutig und konnte sowohl im Sinne der Revision für noch anzusetzende - und tatsächlich durchgeführte - Beweisaufnahmen als auch in der Interpretation des Generalbundesanwalts für bevorstehende Schlussvorträge sprechen. Unter Berücksichtigung der zu diesem Zeitpunkt noch zu bescheidenden Beweisanträge und der Bemerkung, dass die Wirtschaftsstrafkammer möglicherweise noch weitere Beweise erheben werde, musste ein Verfahrensbeteiligter jedenfalls nicht davon ausgehen, dass am folgenden Hauptverhandlungstag die Plädoyers zu halten sind. Wenn dies die Verfahrenssituation erlaubt und der Planung des Vorsitzenden entsprochen hätte, wäre er gehalten gewesen, die Verfahrensbeteiligten durch eine eindeutige Formulierung darauf hinzuweisen (vgl. zu einem solchen Hinweiserfordernis BGH, Beschluss vom 21. März 1989 - 5 StR 120/88, BGHR StPO § 258 Abs. 1 Schlussvortrag 1).

b) Das Urteil beruht auf dem dargelegten Verfahrensfehler; denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Inhalt der Schlussvorträge ein den Angeklagten günstigeres Ergebnis bewirkt hätte.

4. Hinsichtlich der von den Beschwerdeführern behaupteten weiteren Mängel formell- und sachlich-rechtlicher Art bemerkt der Senat ergänzend: Gegen die Annahme eines normativ geprägten Vorstellungsbildes bei den geschädigten Anlegern durch das Landgericht wäre auf der Grundlage der an sich rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgrund der massenhaften und gleichgelagerten Ausführungshandlungen nichts zu erinnern gewesen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Februar 2013 - 1 StR 263/12, NJW 2013, 1545 Rn. 16 ff.; vom 16. Mai 2017 - 2 StR 169/15, wistra 2017, 495 Rn. 24). Daher wäre es aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden gewesen, dass die Wirtschaftsstrafkammer sich allein aufgrund der in den Urteilsgründen detailliert wiedergebenden Umstände eine Überzeugung vom Vorliegen gleichgelagerter Irrtümer gebildet und auf die beantragte Vernehmung von Geschädigten verzichtet hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. September 2014 - 1 StR 314/14, NStZ 2015, 98 Rn. 23; vom 16. August 2018 - 5 StR 348/18, NStZ 2019, 43 Rn. 6).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 271

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede