HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1077
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 200/22, Beschluss v. 20.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1077
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 8. Februar 2022 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen überfielen der Angeklagte und weitere Mittäter eine Goldschmiede. Dabei schlugen und traten sie auf die drei anwesenden Geschädigten ein. Auch setzte einer von ihnen einen Elektroschocker ein, der allerdings nicht funktionierte. Anschließend fesselten sie ihre Opfer mit Klebeband. Schließlich flüchteten sie mit den erbeuteten Schmuckstücken und Bargeldern.
Rechtlich hat die Strafkammer die Tat als - mittäterschaftlich begangenen - schweren Raub nach § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB durch das Mitsichführen des Klebebandes als Fesselungswerkzeug in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB gewertet. Eine Strafbarkeit wegen besonders schwereren Raubes nach § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB oder wegen schweren Raubes durch das Verwenden oder Mitsichführen des nicht funktionsfähigen Elektroschockers hat sie hingegen verneint.
1. Die Revision des Angeklagten hat zum Strafausspruch mit einer Verfahrensrüge Erfolg, mit der er einen Verstoß gegen § 265 Abs. 1 StPO geltend macht.
a) Der Beanstandung liegt zugrunde, dass dem Angeklagten in der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage zur Last gelegt worden war, sich wegen besonders schweren Raubes nach § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB strafbar gemacht zu haben. Der Angeklagte und seine Mittäter hätten im bewussten und gewollten Zusammenwirken einen Elektroschocker eingesetzt.
Bevor er mit dem angefochtenen Urteil des schweren Raubes nach § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB schuldig gesprochen wurde, erging kein Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts.
b) Der Angeklagte hat die Rüge in zulässiger Weise erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Revision teilt die wesentlichen Verfahrenstatsachen mit. Im Übrigen hat der Senat den Inhalt der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses zur Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ohnehin von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen, so dass er auch aus diesem Grund darum weiß (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. April 2002 - 3 StR 505/01, juris Rn. 5; vom 27. November 2012 - 3 StR 421/12, juris Rn. 5; vom 10. März 2020 - 6 StR 4/20, NStZ 2020, 370).
c) Die Rüge ist begründet.
aa) Ausweislich der Sitzungsniederschrift (vgl. § 274 StPO) wurde ein entsprechender Hinweis auf eine mögliche Verurteilung wegen schweren Raubes nicht erteilt. Nach § 265 Abs. 1 StPO war indes der Vorsitzende der Strafkammer hierzu verpflichtet.
Zwar ist § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB gegenüber § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB der mildere Qualifikationstatbestand. Daher wäre ein Hinweis auf die mögliche Verurteilung nach der weniger strengen Norm entbehrlich gewesen, wenn deren Anwendbarkeit nur darauf beruht hätte, dass ein den schwereren Qualifikationstatbestand begründender Umstand entfallen wäre, und hierdurch die Verteidigung des Angeklagten nicht berührt worden wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2002 - 3 StR 505/01, BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 16 mwN; Urteil vom 27. Juli 2000 - 4 StR 189/00, NStZ 2001, 32, 33; Beschluss vom 14. April 2011 - 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223 Rn. 9; KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 265 Rn. 12). Dies war aber nicht der Fall. Dem Angeklagten war in der Anklageschrift als qualifizierender Umstand im Sinne von § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB angelastet worden, er oder einer seiner Komplizen habe einen Elektroschocker gegen einen der Geschädigten verwendet. Die Verurteilung des Angeklagten beruht dagegen darauf, dass die Mittäter Klebeband als Fesselungswerkzeug mit sich führten und einsetzten.
Damit wird zur Begründung der Tatqualifikation des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB ein Sachverhalt herangezogen, der sich gegenüber dem Geschehen, auf das die Anklage den Tatvorwurf nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB stützt, nicht lediglich ein Weniger darstellt, sondern abweichende Tatumstände umfasst. Der in der Anklageschrift geschilderte Sachverhalt enthielt zwar die Fesselung der Geschädigten mit Klebeband. Sie verhielt sich jedoch nicht dazu, dass hierdurch der Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB erfüllt sein könnte.
bb) Nicht der Schuldspruch, sondern nur der Strafausspruch beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO).
(1) Der Angeklagte hätte sich unter den gegebenen Umständen gegen den Vorwurf des schweren Raubes nach § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB nicht anders verteidigen können als gegen die mit der Anklage erhobene Anschuldigung des besonders schweren Raubes gemäß § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB.
Der Angeklagte machte in der Hauptverhandlung zunächst keine Angaben zur Sache. Nachdem die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag eine Freiheitsstrafe von neun Jahren für den Angeklagten beantragt hatte, gab er am nächsten Hauptverhandlungstag eine Einlassung ab, wonach er den Schmuck, den er im Pfandhaus versetzt hatte, von einem unbekannten Dritten zur Bezahlung von Schulden erhalten habe. In seinem letzten Wort bestritt der Angeklagte seine Täterschaft erneut. Damit verteidigte er sich - wie auch schon im Ermittlungsverfahren - dahin, an dem Überfall auf die Goldschmiede nicht beteiligt gewesen zu sein.
Vor diesem Hintergrund ist mit Sicherheit auszuschließen, dass der Angeklagte seine Verteidigung gegen den Vorwurf, die Täter hätten ihre Opfer während des Überfalls mit Klebeband gefesselt, hätte anders einrichten können als gegen die mit der Anklage erhobene Anschuldigung. Dies gilt umso mehr, als ihm der vorgenannte Umstand aus der Anklageschrift bekannt war und in der Hauptverhandlung durch die Geschädigten bestätigt wurde. Soweit die Revision vorbringt, er hätte die Fesselung der Tatopfer bei einem entsprechenden Hinweis bestreiten können, ist ebenfalls sicher auszuschließen, dass die Strafkammer angesichts der übereinstimmenden Angaben der Geschädigten und des am Tatort sichergestellten Klebebands zu einem anderen Beweisergebnis gekommen wäre. Im Übrigen entspricht es der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass ein zur Fesselung bestimmtes Klebeband ein sonstiges Werkzeug oder Mittel nach § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB darstellt (s. BGH, Urteile vom 18. Januar 2007 - 4 StR 394/06, NStZ 2007, 332; vom 15. August 2007 - 5 StR 216/07, NStZ-RR 2007, 375; vom 4. August 2016 - 4 StR 195/16, NStZ-RR 2016, 339 mwN; MüKoStGB/Sander, 4. Aufl., § 250 Rn. 40 mwN).
(2) Allerdings kommt in Betracht, dass der Angeklagte - wie er mit seiner Gegenerklärung vorgetragen hat - nach entsprechendem Hinweis den verbleibenden milderen Tatvorwurf eingeräumt und das Landgericht unter Berücksichtigung des Geständnisses auf eine niedrigere Freiheitsstrafe erkannt hätte. Für das Beruhen kommt es nicht darauf an, ob die Möglichkeit einer derartigen Einlassung naheliegt. Wie auch sonst genügt es vielmehr, dass sie nicht mit Sicherheit auszuschließen ist (st. Rspr.; s. BGH, Beschlüsse vom 7. September 1977 - 3 StR 299/77, juris Rn. 2; vom 16. Februar 1989 - 1 StR 24/89, BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 5; vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 186/18, BGHR StPO § 265 Abs. 2 Nr. 1 Umstände 1). So liegt es hier.
2. Im Übrigen bleibt die Revision des Angeklagten erfolglos. Seine weiteren Verfahrensrügen dringen aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift dargelegten Gründen nicht durch. Der Schuldspruch und die Einziehungsentscheidung halten materiellrechtlicher Nachprüfung stand.
3. Aufgrund der im Hinblick auf den Strafausspruch erfolgreichen Rüge der Verletzung des § 265 Abs. 1 StPO braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob der Strafausspruch, wie der Generalbundesanwalt ausgeführt hat, einen durchgreifenden sachlichrechtlichen Mangel aufweist.
An der in der Antragsschrift dargelegten Rechtsansicht könnten allerdings Zweifel bestehen, weil die dort vermissten Angaben zum Vollstreckungsstand des Gesamtstrafenbeschlusses des Amtsgerichts Neuss vom 23. Juni 2020 entbehrlich wären, wenn von seiner Rechtmäßigkeit ausgegangen würde. Dann wäre dem Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 23. Mai 2019 Zäsurwirkung zugekommen, so dass im vorliegenden Fall eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung oder ein Härteausgleich ausgeschieden wäre. Ob - ohne weiteren Anhalt - anzunehmen gewesen wäre, der Beschluss gemäß § 460 StPO könnte rechtsfehlerhaft ergangen sein, bedarf hier nicht der Klärung. Jedenfalls wird die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer Gelegenheit haben, ergänzende Feststellungen zu der im Urteil des Amtsgerichts Neuss vom 4. November 2019 festgestellten Tatzeit und der Vollstreckung der mit diesem Erkenntnis verhängten Strafe zu treffen (zum insoweit maßgebenden Zeitpunkt vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. September 2019 - 3 StR 341/19, NStZ-RR 2020, 7; vom 10. Juni 2020 - 3 StR 135/20, juris Rn. 13).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1077
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede