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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 910

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 501/21, Beschluss v. 29.06.2022, HRRS 2022 Nr. 910


BGH 3 StR 501/21 - Beschluss vom 29. Juni 2022 (LG Duisburg)

Erpresserischer Menschenraub im Zwei-Personen-Verhältnis (Sichbemächtigen; stabile Bemächtigungslage).

§ 239a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Tatbestand des § 239a Abs. 1 StGB im Zwei-Personen-Verhältnis ist, insbesondere für Fälle des Sichbemächtigens, einschränkend auszulegen. Der Täter muss durch eine Entführung oder in sonstiger Weise die physische Herrschaftsgewalt über das Opfer gewinnen, dadurch eine stabile Bemächtigungslage schaffen und entweder von vornherein beabsichtigen, diese Lage zu einer Erpressung auszunutzen, oder die zu anderen Zwecken hergestellte Verfügungsgewalt über das Opfer zu einer Erpressung ausnutzen. Dabei muss der stabilisierten Bemächtigungslage mit Blick auf die erstrebte Erpressung eine eigenständige Bedeutung zukommen.

2. Damit ist - insbesondere in Abgrenzung zu den Raubdelikten - indes lediglich gemeint, dass sich über die in jeder mit Gewalt oder Drohungen verbundenen Nötigungshandlung liegende Beherrschungssituation hinaus eine weiter gehende Drucksituation auf das Opfer gerade auch aus der stabilen Bemächtigungslage ergeben muss. Der erforderliche funktionale Zusammenhang liegt insbesondere dann nicht vor, wenn sich der Täter des Opfers durch Nötigungsmittel bemächtigt, die zugleich unmittelbar der beabsichtigten Erpressung dienen, wenn also Bemächtigungs- und Nötigungsmittel zusammenfallen.

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 13. April 2021 werden verworfen.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels, die insoweit durch das Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und die den Nebenund Adhäsionsklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub - jeweils unter Einbeziehung der Strafe aus einem gesamtstrafenfähigen Erkenntnis - verurteilt, den Angeklagten L. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und den Angeklagten M. zu einer solchen von zwölf Jahren. Jeweils einen Monat hat es wegen überlanger Verfahrensdauer für vollstreckt erklärt und daneben Einziehungs- sowie Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der näheren Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

1. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts hält der Schuldspruch wegen tateinheitlich begangenen erpresserischen Menschenraubs sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat zu Recht angenommen, die Angeklagten hätten sich im Sinne des § 239a Abs. 1 Alternative 1 StGB eines Menschen bemächtigt.

Nach den getroffenen Feststellungen beabsichtigten die Angeklagten und zwei Mittäter, die beiden in ihrem abgelegenen Wohnhaus in verschiedenen Zimmern schlafenden Geschädigten zu überwältigen und unter Vorhalt von Waffen zu bedrohen, um so Informationen über etwaige Verstecke von Geld und Wertsachen zu erhalten. In Umsetzung dieses Planes zerrten sie die Geschädigten nebeneinander auf ein Bett und ließen die Jalousien herunter. Sodann befragten sie die unter Todesangst leidenden Geschädigten unter Vorhalt einer scharf geladenen Pistole und eines Messers über einen Zeitraum von etwa zwanzig Minuten immer wieder nach etwaigen Geldverstecken. Schließlich bat die Geschädigte ihren Lebensgefährten, das Geldversteck preiszugeben, was dieser aus Angst um sich und seine Lebensgefährtin im Anschluss tat.

Diese Feststellungen belegen, dass sich die Angeklagten gemäß § 239a Abs. 1 Alternative 1 StGB auch unter Berücksichtigung der für Zwei-Personen-Verhältnisse in der Rechtsprechung anerkannten Einschränkungen eines Menschen bemächtigten. Insoweit gilt:

Wegen erpresserischen Menschenraubes macht sich strafbar, wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um die Sorge des Opfers um sein Wohl oder die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung gemäß § 253 StGB auszunutzen, oder wer die durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen zu einer solchen Erpressung ausnutzt. Im Hinblick auf den Anwendungsbereich klassischer Delikte mit Nötigungselementen wie § 177, §§ 249 ff., §§ 253 ff. StGB ist der Tatbestand des § 239a Abs. 1 StGB im Zwei-Personen-Verhältnis allerdings, insbesondere für Fälle des Sichbemächtigens, einschränkend auszulegen. Der Täter muss durch eine Entführung oder in sonstiger Weise die physische Herrschaftsgewalt über das Opfer gewinnen, dadurch eine stabile Bemächtigungslage schaffen und entweder von vornherein beabsichtigen, diese Lage zu einer Erpressung auszunutzen, oder die zu anderen Zwecken hergestellte Verfügungsgewalt über das Opfer zu einer Erpressung ausnutzen. Dabei muss der stabilisierten Bemächtigungslage mit Blick auf die erstrebte Erpressung eine eigenständige Bedeutung zukommen. Damit ist - insbesondere in Abgrenzung zu den Raubdelikten - indes lediglich gemeint, dass sich über die in jeder mit Gewalt oder Drohungen verbundenen Nötigungshandlung liegende Beherrschungssituation hinaus eine weiter gehende Drucksituation auf das Opfer gerade auch aus der stabilen Bemächtigungslage ergeben muss. Der erforderliche funktionale Zusammenhang liegt insbesondere dann nicht vor, wenn sich der Täter des Opfers durch Nötigungsmittel bemächtigt, die zugleich unmittelbar der beabsichtigten Erpressung dienen, wenn also Bemächtigungs- und Nötigungsmittel zusammenfallen (vgl. BGH, Urteile vom 31. August 2006 - 3 StR 246/06, BGHR StGB § 239a Abs. 1 Sichbemächtigen 9 Rn. 8; vom 2. Februar 2012 - 3 StR 385/11, NStZ-RR 2012, 173, 174; Beschlüsse vom 9. September 2015 - 4 StR 184/15, NStZ-RR 2015, 336; vom 28. Juli 2021 - 6 StR 314/21, juris Rn. 6).

Nach diesen Maßstäben fallen hier Bemächtigungs- und Nötigungsmittel nicht zusammen. Die über den nicht unerheblichen Zeitraum von etwa zwanzig Minuten (vgl. zum Ausreichen einer Zeitspanne von lediglich sechseinhalb Minuten: BGH, Urteil vom 31. August 2006, aaO) mittels mehrerer Waffen fortwährend wiederholten Bedrohungen der Geschädigten, die zuvor aus dem Schlaf gerissen und bei heruntergelassener Jalousie nebeneinander unter Bewachung durch mehrere Täter in ihrem abgelegenen Wohnhaus auf ein Bett gesetzt worden waren, begründeten eine stabilisierte Bemächtigungslage und erzeugten eine Drucksituation, die über dasjenige hinausreichte, was zur Durchführung der Erpressung erforderlich war. Ein Sichbemächtigen lag demnach auch unter Berücksichtigung der für das Zwei-Personen-Verhältnis geltenden Einschränkungen vor.

2. Der Senat ist nicht gehindert, die Revision trotz des auf eine Änderung des Schuldspruchs gerichteten Antrags des Generalbundesanwalts uneingeschränkt durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, weil dies dem Antrag des Generalbundesanwalts im Übrigen entspricht (vgl. KKStPO/Gericke, 8. Aufl., § 349 Rn. 28 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 910

Bearbeiter: Christian Becker