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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 30

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 314/21, Beschluss v. 05.10.2021, HRRS 2022 Nr. 30


BGH 3 StR 314/21 - Beschluss vom 5. Oktober 2021 (LG Mönchengladbach)

Schuldfähigkeit bei akuten Schüben einer Schizophrenie (regelmäßig fehlende Unrechtseinsicht; erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit; Tatzeitpunkt); Voraussetzungen einer Anordnung der Umkehr der Vollzugsreihenfolge bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 67 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar ist bei akuten Schüben einer Schizophrenie in der Regel davon auszugehen, dass der Betroffene wegen fehlender Unrechtseinsicht schuldunfähig ist. Nimmt das Tatgericht indes lediglich eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit des Täters an, so muss es darüber befinden, ob diese zum Fehlen der Unrechtseinsicht geführt oder ob der Täter gleichwohl das Unrecht der Tat eingesehen hat. Hat dagegen der Angeklagte ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen, so ist seine Schuld nicht gemindert und § 21 StGB nicht anwendbar.

2. Nach § 67 Abs. 1 StGB wird eine Maßregel nach § 63 StGB in der Regel vor der gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe vollzogen. Die Umkehrung der Vollzugsreihenfolge nach § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB hat Ausnahmecharakter und bedarf daher einer auf den Einzelfall bezogenen sorgfältigen Prüfung und Begründung. Ein Vorwegvollzug von Strafe ist nur insoweit zulässig, als er im Rehabilitationsinteresse des Verurteilten erforderlich ist. Bleibt bei der Prognose offen, ob durch den Strafvorwegvollzug bessere Therapiechancen eröffnet werden, so ist dieser unzulässig.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 14. Mai 2021 mit den Feststellungen aufgehoben mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen; diese bleiben aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls und schweren Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und die Vollstreckungsreihenfolge geändert. Dagegen wendet sich die auf die nicht ausgeführte Verfahrensrüge und die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

Sowohl die Verurteilung des Angeklagten als auch die Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Generalbundesanwalt hat insoweit das Folgende ausgeführt:

"[…] 2. Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus begegnet rechtlichen Bedenken.

Nach den Darlegungen des sachverständig beratenen Landgerichts war bei den Taten II. 1 und 2 nicht auszuschließen, dass die Einsichtsfähigkeit aufgrund der paranoiden Schizophrenie des Angeklagten aufgehoben war, bei den Taten II. 3 und 4 nimmt die Kammer eine verminderte Einsichtsfähigkeit an (UA S. 11). Zur Steuerungsfähigkeit des Angeklagten verhält sich das Urteil nicht.

a) Damit ist nicht belegt, dass der Angeklagte die Taten im Zustand sicher festgestellter zumindest eingeschränkter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begangen hat (§ 63 StGB). Zwar ist bei akuten Schüben einer Schizophrenie in der Regel davon auszugehen, dass der Betroffene wegen fehlender Unrechtseinsicht schuldunfähig ist (vgl. BGH Beschl. vom 9. April 2002 - 5 StR 100/02 NStZ-RR 2002, 202; Beschl. vom 13. August 2013 - 2 StR 128/13, NStZ-RR 2013, 368); eine sichere Schuldunfähigkeit hat das Landgericht aber nicht angenommen. Nimmt das Tatgericht (nur) eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit des Täters an, so muss es darüber befinden, ob diese zum Fehlen der Unrechtseinsicht geführt oder ob der Täter gleichwohl das Unrecht der Tat eingesehen hat (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 13. November 1990 - 1 StR 514/90, BGHR StGB § 20 Einsichtsfähigkeit 3, vom 25. Januar 1995 - 3 StR 535/94, BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 6; Beschlüsse vom 30. Juni 2015 - 3 StR 181/15, NStZ-RR 2015, 273; vom 22. März 2017 - 5 StR 22/17, BeckRS 2017, 106514; Schäfer/Sander/van Gemmeren Praxis der Strafzumessung 6. Aufl. Rn. 953). Hat dagegen der Angeklagte ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen, so ist seine Schuld nicht gemindert und § 21 StGB nicht anwendbar. Diese Unterscheidung hat das Landgericht - möglicherweise auf Grund entsprechender Unklarheiten des Sachverständigengutachtens - nicht zutreffend vollzogen. Die im Urteil dargestellten Ausführungen der Sachverständigen, Kritik- und Urteilsvermögen, die Fähigkeit zur adäquaten Selbsteinschätzung und zur Impulskontrolle seien nicht mehr ausreichend gegeben (UA S. 19), lässt offen, ob der Angeklagte das Unrecht seiner Tat eingesehen hat.

b) Ungeachtet dessen, fehlt es bei den Taten II. 3 und 4 an ausreichenden Feststellungen, wie sich das Vorliegen des biologischen Merkmals des § 20 StGB auf die Tatbegehung konkret ausgewirkt hat. Nach den Feststellungen des Tatgerichts handelte es sich bei beiden Einbrüchen um Beschaffungskriminalität zur Finanzierung der Drogensucht (UA S. 15) ohne besondere Auffälligkeiten. Auch den Vorverurteilungen vom 7. September 2018 und 4. September 2019 durch das Amtsgericht M. lagen Beschaffungstaten im Zusammenhang mit der Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten zugrunde, ohne dass Besonderheiten wegen der paranoiden Schizophrenie ersichtlich wären. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht selbstverständlich, dass die Einsicht des Angeklagten, das Unrecht seiner Taten einzusehen, bei diesen Taten tatsächlich aufgehoben war und des Weiteren die Anlasstaten auf einen die Annahme des § 21 StGB rechtfertigenden Defekt (paranoide Schizophrenie) zurückzuführen sind, zumal nach Aussage der Zeugin R. der Angeklagte nach dem 15. September 2020 wieder ganz normal auf sie gewirkt habe (S. 10). Da die Anlassdelikte trotz der psychischen Erkrankung keine Besonderheiten aufweisen und ein akuter Schub der Erkrankung nicht festgestellt ist, wäre im Einzelnen darzustellen gewesen, wie sich die Erkrankung im konkreten Einzelfall ausgewirkt hat.

c) Rechtlich bedenklich erscheint auch die Anordnung des Vorwegvollzugs der Strafe gem. § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB. Nach § 67 Abs. 1 StGB wird eine Maßregel nach § 63 StGB in der Regel vor der gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe vollzogen. Die Umkehrung der Vollzugsreihenfolge nach § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB hat Ausnahmecharakter und bedarf daher einer auf den Einzelfall bezogenen sorgfältigen Prüfung und Begründung (Fischer StGB 67. Aufl. § 67 Rn. 5 ff.). Ein Vorwegvollzug von Strafe ist nur insoweit zulässig, als er im Rehabilitationsinteresse des Verurteilten erforderlich ist. Bleibt bei der Prognose offen, ob durch den Strafvorwegvollzug bessere Therapiechancen eröffnet werden, so ist dieser unzulässig (MüKoStGB/Maier 4. Aufl. § 67 Rn. 28). Nach den Feststellungen der Kammer besteht eine massive Erkrankung und fehlende Krankheitseinsicht (UA S. 21). Bedingungen, die eine Behandlung außerhalb der Unterbringung rechtfertigen würden, können in adäquater Zeit nicht hergestellt werden (UA S. 21). Davon ausgehend ist nicht sicher festgestellt, dass der Zweck der Maßregel nach § 63 StGB durch einen Vorwegvollzug leichter erreichbar ist. Ein Ausnahmetatbestand, etwa, dass der eventuelle Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung durch eine nachfolgende Strafvollstreckung gefährdet bzw. zunichtegemacht würde, die erforderliche Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht möglich ist und die Maßregel daher faktisch allein Sicherungscharakter hätte oder zum Zeitpunkt des Urteils die Behandlungsmöglichkeiten im Strafvollzug Erfolg versprechender sind als in einem psychiatrischen Krankenhaus, sind nicht ersichtlich.

3. Da die Unterbringung nach § 63 StGB und der auf § 20 StGB gestützte Freispruch gleichermaßen von der Bewertung der Schuldfähigkeit abhängen und deshalb zwischen beiden Entscheidungen aus sachlich-rechtlichen Gründen ein untrennbarer Zusammenhang besteht und gemäß § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO das Verschlechterungsverbot gelockert ist, dürfte eine isolierte Aufhebung des Maßregelausspruchs nicht in Betracht kommen. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bleiben davon unberührt und können bestehen bleiben.“

Dem tritt der Senat bei.

Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern sie den bestehenbleibenden nicht widersprechen. Hierzu könnte etwa im Hinblick auf die Frage eines möglichen Rücktritts vom Versuch in Fall II. 1. der Urteilsgründe Veranlassung bestehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 30

Externe Fundstellen: StV 2022, 309

Bearbeiter: Christian Becker