HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1226
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 144/21, Beschluss v. 10.08.2021, HRRS 2021 Nr. 1226
Auf die Revision der Angeklagten P. wird das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 10. August 2020 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit diese in den Fällen 14 bis 28 verurteilt worden ist, sowie in den sie betreffenden Aussprüchen über die Gesamtstrafe und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 4.549,98 €.
Die weitergehende Revision der Angeklagten P. wird verworfen.
Auf die Revision des Angeklagten Z. wird das vorgenannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit dieser verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte P. wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 28 Fällen, den Angeklagten Z. wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat, bzw. einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 100 € verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagten freigesprochen. Die Wirtschaftsstrafkammer hat eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festgestellt und gegen die Angeklagten die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 4.549,98 € in gesamtschuldnerischer Haftung sowie gegen die Angeklagte P. alleine in Höhe weiterer 276.173,04 € angeordnet. Die Angeklagten wenden sich mit ihren jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen gegen ihre Verurteilung. Die Rechtsmittel haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist die Revision der Angeklagten P. unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat die Angeklagten in den Fällen 14 bis 28 der Urteilsgründe wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 15 Fällen schuldig gesprochen (§ 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB), weil sie als formeller Geschäftsführer (Angeklagter Z.) bzw. faktische Geschäftsführerin (Angeklagte P.) für eine Vielzahl von Arbeitnehmerinnen Sozialversicherungsbeiträge entgegen der hierfür bestehenden Pflicht nicht abführten.
Die Wirtschaftsstrafkammer ist dabei davon ausgegangen, in den genannten Fällen habe eine geringfügige - und damit von der Versicherungspflicht befreite (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V [Krankenversicherung], § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [soziale Pflegeversicherung], § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VI [gesetzliche Rentenversicherung]) - Beschäftigung nach den zur Tatzeit geltenden sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen (§ 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV in der Fassung vom 5. Dezember 2012 in Verbindung mit § 115 SGB IV in der Fassung vom 11. August 2014) nicht vorgelegen. Das Landgericht ist bei seiner rechtlichen Bewertung der bislang herrschenden Meinung in der Kommentarliteratur (vgl. dazu BSG, Urteil vom 24. November 2020 - B 12 KR 34/19 R, juris Rn. 15) und den „Richtlinien für die versicherungsrechtliche Beurteilung von geringfügigen Beschäftigungen“ der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger (hier in der Fassung vom 12. November 2014 - GeringfügigkeitsRL 2014) gefolgt, wonach bei einer - wie vorliegend - ausgeübten Tätigkeit an mindestens fünf Arbeitstagen pro Woche die für die Geringfügigkeit maßgebliche Zeitgrenze nicht nach Arbeitstagen, sondern nach Monaten bestimmt wird. Die Angeklagten wären daher bereits nach Ablauf von drei Monaten, nicht - wie von ihnen praktiziert - nach 70 Arbeitstagen verpflichtet gewesen, für die betreffenden Arbeitnehmerinnen volle Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Dies sei den Angeklagten nach einem Gespräch mit ihrem Steuerberater spätestens seit Oktober 2016 auch bekannt gewesen.
2. Die Wertung des Landgerichts, bei einer an mindestens fünf Arbeitstagen in der Woche ausgeübten Tätigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV finde ausschließlich die nach Monaten bestimmte Zeitgrenze Anwendung, erweist sich als rechtsfehlerhaft. Vielmehr ist auch hier - der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts folgend - auf die nach Arbeitstagen gemessene Höchstgrenze abzustellen, sofern diese eine längere von der Versicherungspflicht befreite Beschäftigung ermöglicht (BSG, Urteil vom 24. November 2020 - B 12 KR 34/19 R, juris Rn. 15 ff.). Denn nach dem Wortlaut des § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV stehen beide Alternativen gleichwertig nebeneinander. Auch verliert die Monatsregelung durch dieses Normverständnis nicht ihren eigenständigen Bedeutungsgehalt, da eine durchgängige Beschäftigung innerhalb der Dreimonatsgrenze - etwa bei sechs Arbeitstagen pro Woche - mehr als 70 Arbeitstage umfassen und sich daher für den Arbeitnehmer als günstiger erweisen kann. Weder die Gesetzeshistorie noch die „Richtlinien für die versicherungsrechtliche Beurteilung von geringfügigen Beschäftigungen“ stehen dieser Auslegung entgegen. Letzteren kommt als zwischen den Spitzenverbänden der Sozialversicherungsträger vereinbarte Richtlinie für die Gerichte ohnehin keine bindende Wirkung zu. Vielmehr sprechen teleologische Aspekte für die Gleichrangigkeit beider Zeitgeringfügigkeitsalternativen. Denn die Begrenzung auf 70 Arbeitstage entspricht bei einer Sechstagewoche durchschnittlich dem Zeitraum von drei Monaten. Auch wenn sich in weiten Teilen der Arbeitswelt die Fünftagewoche durchgesetzt hat, werden in der Rechtsordnung weiterhin sechs Tage als „Werktage“ bezeichnet und besondere Vergütungszuschläge oder ähnliche Vergünstigungen regelmäßig nur für Sonn- und Feiertagsarbeit gewährt. Diese Betrachtungsweise trägt zudem der gebotenen verfassungskonformen Auslegung Rechnung. Denn es verbietet sich unter Berücksichtigung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots ein Normverständnis, das ohne sachlichen Grund an die Verteilung der Arbeitszeit anknüpft und dadurch nur für bestimmte Beschäftigte zu einer in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG eingreifenden Sozialversicherungs- und Beitragspflicht führt (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 24. November 2020 - B 12 KR 34/19 R, juris Rn. 15 ff. mwN).
Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen 14 bis 28 führt betreffend die Angeklagte P. zum Wegfall der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen und entzieht der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe sowie der insoweit getroffenen Einziehungsentscheidung die Grundlage. Nicht von dem Rechtsfehler betroffen ist indes die Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, die bestehen bleibt. Hinsichtlich des Angeklagten Z. unterliegt das angefochtene Urteil insgesamt der Aufhebung, soweit er verurteilt worden ist.
Eine eigene Sachentscheidung des Senats nach § 354 Abs. 1 StPO kommt nicht in Betracht, da das Landgericht bislang - unter Zugrundelegung seiner rechtlichen Bewertung folgerichtig - zu den übrigen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV, insbesondere zur Berufsmäßigkeit der Tätigkeiten und etwaigen vorangegangenen Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern, keine Feststellungen getroffen hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1226
Bearbeiter: Christian Becker