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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 19

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 105/21, Urteil v. 04.11.2021, HRRS 2022 Nr. 19


BGH 3 StR 105/21 - Urteil vom 4. November 2021 (LG Koblenz)

Rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung bei freisprechendem Urteil (Prüfungsumfang; Widersprüche oder Lückenhaftigkeit; Hinweggehen über schwerwiegende Verdachtsmomente; fehlende Erörterung der Motivation für verschleierndes Nachtatverhalten).

§ 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Beweiswürdigung kann ungeachtet des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs rechtsfehlerhaft sein, wenn sie über schwerwiegende Verdachtsmomente hinweggeht. Das kann der Fall sein, wenn das Tatgericht es unterlässt, die Motivation für ein festgestelltes verschleierndes Nachtatverhalten des freigesprochenen Angeklagten zu erörtern.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 24. November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und eine Entschädigungsentscheidung getroffen. Mit ihrer auf die ausgeführte Sachrüge gestützten und seitens des Generalbundesanwalts vertretenen Revision erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des freisprechenden Urteils. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte lebte seit Sommer 2019 in seiner Wohnung mit der Nebenklägerin in eheähnlicher Gemeinschaft zusammen. Die Beziehung verlief zunehmend konflikthaft, weil beide Partner in erheblichem Umfang dem Alkohol zusprachen und die Nebenklägerin sich zunehmend einem anderen Mann zuwandte. Schließlich plante sie - was sie dem Angeklagten gegenüber allerdings verheimlichte - ihren Auszug aus der Wohnung. Dort kam es am Abend des 8. April 2020 gegen 19:00 Uhr zu einer zunächst verbal ausgetragenen Streitigkeit; kurze Zeit später erlitt die Nebenklägerin eine drei Zentimeter tiefe sowie drei Zentimeter breite Stich-Schnitt-Verletzung an der Drosselgrube im vorderen Halsbereich. Diese Verletzung war mit geringer Wucht beigebracht, objektiv nicht lebensgefährlich und blutete nur leicht. Nach Eintreffen der alarmierten Polizei öffnete der Angeklagte die Wohnungstür auf entsprechendes Klingeln und Klopfen zunächst nicht und leugnete auf telefonische Nachfrage auch seine Anwesenheit in der Wohnung. Er gewährte den Polizeibeamten letztlich erst nach mehr als 25 Minuten Zutritt, nachdem ihm die gewaltsame Öffnung der Wohnungstür angedroht worden war.

2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass „im Rahmen der Gesamtwürdigung aller Beweismittel die Einlassung des Angeklagten, wonach dieser […] weder vorsätzlich noch fahrlässig den Stich in den Hals beigebracht habe, durch die vorhandenen Beweismittel nicht widerlegt werden“ könne. Die Strafkammer hat es nicht vermocht, sich anhand der Angabe der Nebenklägerin, sie habe auf der Couch gesessen, während der Angeklagte vor sie hingetreten sei und ihr das Messer unvermittelt frontal in den Hals gerammt habe, eine Überzeugung strafbaren Handelns des Angeklagten zu bilden.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, weil das freisprechende Erkenntnis sachlich-rechtlicher Prüfung nicht standhält. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil eine sich aufdrängende Würdigung des Nachtatverhaltens des Angeklagten unterblieben ist.

1. Kann das Tatgericht nicht die erforderliche Gewissheit gewinnen und spricht den Angeklagten daher frei, so hat das Revisionsgericht dies regelmäßig hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte.

Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht oder nur eine von mehreren gleich naheliegenden Möglichkeiten erörtert, oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen auf der Hand liegende Schlussfolgerung nicht gezogen wird, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteile vom 28. Januar 2021 - 3 StR 279/20, juris Rn. 17; vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 37/18, NStZ-RR 2019, 57, 58; vom 10. Mai 2017 - 2 StR 258/16, juris Rn. 17; vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 5 6 2005, 147; vom 12. August 2003 - 1 StR 111/03, juris Rn. 14 f.). Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente hinweggeht, ist ebenfalls rechtsfehlerhaft (BGH, Urteile vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238, 239; vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656 Rn. 2).

2. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.

Das Landgericht hat zwar Feststellungen dazu getroffen, dass der Angeklagte nach dem Eintreffen der Polizei am Tatort durch mehrere verschleiernde Verhaltensweisen ein Einschreiten der alarmierten Beamten um mindestens 25 Minuten verzögerte, ohne jedoch zu erörtern, zu welchem Zweck der Angeklagte ein solches Verhalten an den Tag gelegt haben könnte. Insoweit erweist sich seine Beweiswürdigung als lückenhaft. Das auffällige Nachtatverhalten des Angeklagten war hier in die Gesamtwürdigung einzustellen, zumal er sich unmittelbar nach dem Eintreten der Polizeibeamten in die Wohnung zu dem Geschehen äußerte und insbesondere auf einen Messereinsatz durch die Nebenklägerin hindeutende Angaben tätigte, indem er auf ihre an dem Tatmesser möglicherweise befindlichen Fingerabdrücke verwies. Angesichts dessen ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Würdigung des vorgenannten Umstands zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

3. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen eines freisprechenden Urteils scheidet regelmäßig aus, weil der Angeklagte es insoweit nicht hätte anfechten können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 353 Rn. 15a mwN).

4. Sollte der neue Tatrichter zu Feststellungen gelangen, die einen Tötungsversuch zum Nachteil der Nebenklägerin belegen, wird - worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat - die Frage eines etwaigen Rücktritts des Angeklagten in den Blick zu nehmen sein.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 19

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 55

Bearbeiter: Christian Becker