HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 231
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 561/19, Beschluss v. 07.01.2020, HRRS 2020 Nr. 231
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 23. August 2019 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung einer früher gegen ihn verhängten Geldstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren vier Monaten und einer Woche verurteilt. Die auf die nicht näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, denn die umfassende materiellrechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Der Erörterung bedarf nur die nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe durch das Landgericht. Dem liegt Folgendes zu Grunde:
Das Landgericht hat die vom Angeklagten am 9. Mai 2019 begangene, verfahrensgegenständliche Tat als bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG gewertet und eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet. Zudem hat es eine zuvor vom Amtsgericht C. gegen ihn verhängte Strafe einbezogen. Dieses hatte am 2. Mai 2019 - mithin vor der hiesigen Tat - einen Strafbefehl wegen Körperverletzung gegen ihn erlassen und eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 € festgesetzt. Auf - entsprechend beschränkten - Einspruch des Angeklagten hatte das Amtsgericht sodann mit Beschluss vom 7. Juni 2019 - mithin nach der hiesigen Tat - die Höhe der Tagessätze auf 10 € herabgesetzt. Unter Einbeziehung dieser Strafe hat das Landgericht eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren vier Monaten und einer Woche gebildet.
Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
1. Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB ist nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt nach § 55 Abs. 1 Satz 2 StGB das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten. Maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit die letzte tatgerichtliche Entscheidung zur Schuld- oder Straffrage (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2015 - 4 StR 407/15, juris Rn. 8 mwN).
Dies zugrunde gelegt waren die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung erfüllt. Bei dem vom Amtsgericht C. rechtskräftig verhängten Strafbefehl vom 2. Mai 2019 in Form des Beschlusses vom 7. Juni 2019 handelte es sich sowohl nach der Art der Entscheidung (a)) als auch nach deren Inhalt (b)) um eine „frühere Verurteilung“ gemäß § 55 Abs. 1 StGB. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gesamtstrafenbildung war dabei der 7. Juni 2019, da das Gericht an diesem Tag die letzte Sachentscheidung getroffen hat.
a) Als „Verurteilung“ im Sinne des § 55 Abs. 1 StGB kommt neben dem Urteil auch die Verhängung einer Strafe im Wege des Strafbefehls als diesem insoweit gleichstehende Entscheidungsform in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1955 - 4 StR 392/55, GA 1956, 50, 52; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 8a; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 8 mwN). Maßgeblicher Zeitpunkt der letzten Sachentscheidung ist dabei grundsätzlich das Datum des Erlasses des Strafbefehls, es sei denn, dass nach einem Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl ein Urteil ergeht; dann ist auf den Tag des Urteils abzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 2002 - 3 StR 448/01, NStZ 2002, 590; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 10).
Befindet das Gericht - wie hier - in der speziellen Konstellation des auf die Höhe der Tagessätze beschränkten Einspruchs gegen den Strafbefehl nicht durch Urteil, sondern entsprechend der eigens für diese Fallgestaltung nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO eröffneten Möglichkeit mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten durch Beschluss, gilt nichts anderes; in diesem Fall ist das Datum des Beschlusses der für die mögliche nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe maßgebliche Zeitpunkt.
Dieses Verständnis der Norm ist von ihrem Wortlaut gedeckt. Dem steht nicht entgegen, dass § 55 Abs. 1 Satz 2 StGB als frühere Verurteilung ein „Urteil“ bezeichnet, denn der Begriff des „Urteils“ im Sinne dieser Regelung ist nicht auf diese Entscheidungsform begrenzt, sondern schließt weitere, ihm gleichstehende Erkenntnisse ein. Hierzu zählt auch der Beschluss nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO, da dieser in der Konstellation des auf die Höhe der Tagessätze beschränkten Einspruchs das Strafbefehlsverfahren abschließt und dem Gericht insoweit lediglich eine alternative Entscheidungsform zum Urteil eröffnet. Dies ergibt sich aus dem fakultativen Charakter der Regelung („kann“), die es in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts stellt, ob es über den Einspruch durch Urteil oder Beschluss entscheidet (so auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. April 2019 - 2 Rv 7 SS 187/19, juris Rn. 11).
Die Gleichstellung des Beschlusses nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO mit einer entsprechenden Entscheidung durch Urteil entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung des § 55 Abs. 1 StPO. Nach der ratio legis ist dem Angeklagten der Vorteil der Gesamtstrafenbildung in demselben Umfang zu erhalten, wie er ihm bei gemeinsamer Aburteilung der Taten im früheren Urteil zuteilgeworden wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juni 1960 - 2 StR 147/60, BGHSt 15, 66, 69). Diesem Normzweck ist auch Rechnung zu tragen, wenn das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen anstatt durch Urteil im Beschlusswege entscheidet. Anderenfalls entstünde für den Angeklagten bei gleicher Sachlage ein nicht gerechtfertigter Nachteil.
Schließlich steht dieses Verständnis der Vorschrift auch im Einklang mit dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers. Dieser beabsichtigte mit der Einführung des § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO durch das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 24. August 2004 (BGBl. I, S. 2198 ff.), dem Tatgericht in geeigneten Fällen eine prozessökonomische Alternative zur Entscheidung im Urteilswege an die Hand zu geben und es insbesondere von dem Aufwand der Durchführung einer Hauptverhandlung zu entlasten (vgl. BT-Drucks. 15/3482, S. 22). Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber etwaige Auswirkungen auf die nachträgliche Gesamtstrafenbildung im Blick hatte und modifizieren wollte, sind nicht ersichtlich (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. April 2019 - 2 Rv 7 SS 187/19, juris Rn. 10).
b) Bei der Herabsetzung der Tagessatzhöhe handelte es sich auch in inhaltlicher Hinsicht um eine tatgerichtliche Entscheidung im Sinne des § 55 Abs. 1 StGB. Notwendige Voraussetzung hierfür ist, dass das Gericht in der Sache über die Schuld- oder Straffolge befindet (vgl. LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 6). Soweit es die Straffolge betrifft, ist dies beispielsweise auch dann der Fall, wenn das Gericht nach Aufhebung und Zurückverweisung einer Sache nur noch über die Bildung einer Gesamtstrafe (vgl. BGH, Beschluss vom 1. September 2009 - 3 StR 178/09, NStZ-RR 2010, 41) oder die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2015 - 4 StR 407/15, juris Rn. 8 f.) zu entscheiden hat. In diesem Sinne stellt auch die Herabsetzung der Höhe der Tagessätze einer im Strafbefehlswege verhängten Geldstrafe eine Entscheidung über die Straffolge in der Sache dar. Denn von der Höhe der Tagessätze hängt der finanzielle Gesamtumfang der verhängten Geldstrafe ab, der wiederum maßgebliche Bedeutung für Folgeentscheidungen wie etwa die Gewährung von Ratenzahlung und die Höhe der Raten haben kann. Zudem ergeht diese Entscheidung regelmäßig auf neuen Sachvortrag des Angeklagten zu seinen finanziellen Verhältnissen.
2. Die Festsetzung der Gesamtfreiheitsstrafe auf zwei Jahre vier Monate und eine Woche begegnet auch der Höhe nach keinen rechtlichen Bedenken. Zwar ist eine Freiheitsstrafe von längerer Dauer nach vollen Monaten und Jahren zu bemessen (§ 39 StGB), jedoch ist hiervon ausnahmsweise eine Abweichung geboten, wenn dies im Falle der Bildung einer Gesamtstrafe dazu führen würde, dass diese - wie hier - entgegen der Vorgabe des § 54 Abs. 2 Satz 1 StGB der Summe der zugrundeliegenden Einzelstrafen entspräche (vgl. BGH, Beschluss vom 13. November 1995 - 1 StR 622/95, NStZ 1996, 187).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 231
Externe Fundstellen: NJW 2020, 1380; NStZ 2020, 659; StV 2021, 20
Bearbeiter: Christian Becker