HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 926
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 38/18, Urteil v. 03.05.2018, HRRS 2018 Nr. 926
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 7. September 2017, soweit es die Angeklagte T. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieser Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die Revisionen der Angeklagten T. und des Nebenklägers, soweit diese den Angeklagten Y. betrifft, gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen.
Die Angeklagte hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen. Der Nebenkläger trägt die Kosten seines Rechtsmittels, soweit dieses den Angeklagten Y. betrifft, sowie die dem Angeklagten Y. im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
Das Landgericht hat den Angeklagten Y. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten sowie die Angeklagte T. wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der gegen die Angeklagte T. verhängten Freiheitsstrafe hat es zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil haben die Angeklagte T. und zu ihren Ungunsten die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Das Rechtsmittel des Nebenklägers wendet sich gegen das Urteil bezüglich beider Angeklagter.
I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen und Wertungen vorgenommen:
1. Die Angeklagten mit ihrer Familie und der Nebenkläger wohnten im selben Haus. Zwischen ihnen schwelte seit längerer Zeit ein nachbarlicher Streit, der maßgeblich auf das aggressive und provokante Auftreten des Nebenklägers zurückzuführen war und auch durch wechselseitige Strafanzeigen und eine Verurteilung des Nebenklägers wegen Beleidigung der Angeklagten nicht befriedet wurde. Am Tattag erstatteten die Angeklagten erneut Anzeige gegen den Nebenkläger, der daraufhin von der Polizei zur Vernehmung einbestellt wurde. Als er nach Hause zurückkehrte, zeigte er dem Angeklagten, der auf seinem Balkon im Erdgeschoss des Hauses stand, provokativ den ausgestreckten Mittelfinger. Daraufhin begab sich der Angeklagte in die Wohnung zurück, sagte zu der Angeklagten „Jetzt reicht's“, nahm ein Messer mit einer Klingenlänge von 20 Zentimetern und trat durch die Wohnungstür auf ein vor dieser im Treppenhaus befindliches Zwischenpodest. Zu der Angeklagten, die ihn hiervon abhalten wollte, sagte er nochmals: „Es reicht jetzt. Ich habe hier Kinder, das geht zu weit!" Die Angeklagte folgte dem Angeklagten auf das Zwischenpodest und beide warteten dort auf das Erscheinen des Nebenklägers. Als dieser die Treppe hochkam, stürmte der Angeklagte nach unten auf ihn zu, um ihn mit dem Messer zu attackieren. Ihm war dabei bewusst, dass er dem Nebenkläger durch den Messerangriff tödliche Verletzungen zufügen konnte; auch dessen Tod nahm er billigend in Kauf. Trotz Abwehrversuchen des Nebenklägers durchstach der Angeklagte dessen Wange. Der Nebenkläger verlor durch den Stich einen Zahn und blutete stark; sein Mund war sofort voller Blut. Durch einen weiteren Stich traf der Angeklagte den Nebenkläger im Bereich der linken Brust. Es kam zu einem Gerangel, in dessen Verlauf es dem Nebenkläger gelang, ein Kinderfahrrad zu ergreifen und zur Verteidigung gegen den Angeklagten hoch zu halten, der seinerseits die Messerattacke fortsetzte.
Die Angeklagte war, nachdem der Angeklagte die Treppe hinab auf den Nebenkläger zugestürmt war, zunächst in die Wohnung zurückgekehrt und hatte dort einen Notruf abgesetzt. Sie kam zu dem Zeitpunkt in das Treppenhaus zurück, als der Nebenkläger das Kinderfahrrad zwischen sich und den Angeklagten hielt und ging ebenfalls die Treppe hinab, griff aber zunächst nicht in das Geschehen ein.
Dem Nebenkläger gelang es schließlich, dem Angeklagten das Messer mit dem Kinderfahrrad aus der Hand zu schlagen. Die Angeklagte befürchtete nun, der Nebenkläger werde jetzt gegen den nunmehr unbewaffneten Angeklagten „vorgehen“. Um diesen zu schützen, zog sie den mit dem Rücken zu ihr stehenden Nebenkläger derart fest an seiner Kapuze, dass dieser das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Nun fixierte sie den auf dem Rücken liegenden Nebenkläger, indem sie sich auf seinen Oberkörper kniete und ihm den Mund zuhielt. Diese Situation nutzte der Angeklagte, der das Messer wieder ergriffen hatte, um in Fortsetzung seines Tatplans auf die Beine des Nebenklägers einzustechen. In dieser Situation entschloss sich die Angeklagte, die Angriffe des Angeklagten auf den Nebenkläger zu unterstützen, indem sie diesen weiter am Boden hielt und ihm damit Abwehrhandlungen erschwerte. Tatsächlich gelang es dem Angeklagten, dem Nebenkläger einen weiteren Stich in den Oberschenkel zu versetzen. Die Angeklagte, für die der Angriff mit diesem Stich beendet war, ließ nun vom Nebenkläger ab und verließ das Treppenhaus. Der Angeklagte stach den Nebenkläger, dem es gelungen war sich aufzurappeln, noch vier Mal in den Rücken, bevor dieser das Haus verlassen konnte.
Die Verletzungen des Nebenklägers im Bereich des Brustkorbs und des Rückens, nicht aber der Durchstich der Wange und der des Oberschenkels waren abstrakt lebensgefährlich.
2. Das Landgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Angeklagte sich zunächst nicht an den Verletzungshandlungen gegen den Nebenkläger beteiligen wollte, sich in dem Augenblick, als sie diesen fixierte, aber entschloss, dem Angeklagten zu ermöglichen, nochmals auf den Nebenkläger einzustechen. Mit tödlichen Stichen rechnete sie in dieser Situation nicht. Auch ging sie nicht davon aus, dass der Nebenkläger bereits zu diesem Zeitpunkt lebensbedrohlich verletzt war. Ebenso wenig rechnete sie damit, dass der Angeklagte den Nebenkläger nach dem Stich in den Oberschenkel weiter attackieren würde. Die Strafkammer hat den Tatbeitrag der Angeklagten als Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB) bewertet. Ein mittäterschaftliches Vorgehen mit dem Angeklagten - auch in Form einer sukzessiven Mittäterschaft - bei dem Stich in den Oberschenkel hat sie nicht zu erkennen vermocht.
II. Während die Revision der Angeklagten T. und die den Angeklagten Y. betreffende Revision des Nebenklägers zu verwerfen sind, kann den Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers, soweit letzteres sich gegen die Verurteilung der Angeklagten T. lediglich wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung wendet und statt dessen einen Schuldspruch wegen mittäterschaftlichen versuchten Totschlags erstrebt, der Erfolg nicht versagt werden.
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft
Mit Erfolg greift die Staatsanwaltschaft die Beweiswürdigung des Landgerichts an, auf deren Grundlage dieses zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Angeklagte bei ihrem Eingreifen in das Kampfgeschehen nicht mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte.
a) Allerdings ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist demgegenüber darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denk- oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Liegen solche Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder gar naheliegend gewesen wäre (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 21. März 2013 - 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212, 213 f.).
b) Nach diesen Maßstäben erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft; sie ist widersprüchlich und lückenhaft.
aa) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist widersprüchlich, weil es bei der Prüfung eines bedingten Tötungsvorsatzes der Angeklagten auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte des Tatgeschehens abgestellt und dabei die zeitliche Abfolge der aus seiner Sicht für die Beurteilung der subjektiven Tatseite maßgeblichen Umstände verkannt hat.
Auf UA S. 48 hat das Landgericht unter III. 4. e) ausgeführt, es sei davon überzeugt, dass „die Angeklagte sich zu dem Zeitpunkt, als es dem Geschädigten gelungen war, dem Angeklagten mit dem Kinderfahrrad das Messer aus der Hand zu schlagen, bewusst dazu entschlossen hatte, den Angeklagten zu unterstützen und es ihm zu ermöglichen, den Geschädigten im Beinbereich zu verletzen“. Unter III. 4. e) bb) hat das Landgericht sodann auf UA S. 48 f. dargelegt, es sei davon überzeugt, „dass die Angeklagte zu dem Zeitpunkt, als es ihr gelungen war, den Geschädigten zu fixieren und sich der Angeklagte diesem mit dem Messer in der Hand näherte, bewusst dazu entschlossen hatte, den Angeklagten dabei zu unterstützen und es ihm ermöglichen wollte, den Geschädigten zu verletzen“. Es hat dann näher begründet, warum die Angeklagte in diesem Moment „nicht habe davon ausgehen müssen“, dass der Angeklagte den Nebenkläger in den Oberkörper stechen werde, und daher nur Messerstiche in den Bereich der Beine des Nebenklägers, mithin nicht lebensgefährliche Verletzungen, billigend hingenommen habe (s. dazu auch unter bb)).
Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht damit zwar für die Prüfung der subjektiven Tatseite zunächst auf den Zeitpunkt der ersten Angriffshandlung der Angeklagten gegen den Nebenkläger abgestellt; dies war der Moment, als sie den Nebenkläger an dessen Kapuze zu Boden riss. Unbelegt bleibt indes, aus welchen Gründen die Angeklagte hierbei den Entschluss gefasst haben sollte, es dem Angeklagten zu ermöglichen, den Nebenkläger im Bereich der Beine zu verletzen. Weder hatte der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt das Messer schon wieder an sich gebracht noch gab es nach den objektiven Tatumständen irgendeinen Anhalt dafür, dass der Angeklagte Y. nach dem Eingreifen der Angeklagten T. den Nebenkläger allenfalls mit Messerstichen gegen die Beine weiter attackieren werde. Zu seiner Überzeugung ist das Landgericht allein gelangt, indem es die Schlussfolgerungen zurückprojiziert hat, die es aus dem späteren weiteren Tatgeschehen gezogen hat. Dies erweist sich jedoch als widersprüchlich, da die Tatumstände, auf denen die Überlegungen des Landgerichts basieren, zur Zeit der ersten Angriffshandlung noch gar nicht eingetreten waren. Das Landgericht hätte die subjektive Tatseite daher allein anhand der objektiven Tatumstände beurteilen dürfen, die im Moment der ersten Angriffshandlung vorlagen. Ein bei der Angeklagten im Rahmen des Tatgeschehens später vorliegendes Vorstellungsbild konnte demgegenüber nur Relevanz gewinnen, wenn es von dem ursprünglichen abwich und geeignet war, eine andere rechtliche Bewertung der Tat zu rechtfertigen.
bb) Unabhängig von der unter aa) aufgezeigten Widersprüchlichkeit der Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite erweist sich diese auch in mehrfacher Hinsicht als lückenhaft.
(1) Zunächst hat sich das Landgericht schon nicht mit dem Umstand befasst, dass die Angeklagte bereits in das Treppenhaus zurückkehrte und die Treppe hinabging, als der Angeklagte seine Messerattacke gegen den Nebenkläger fortsetzte, während dieser sich mit dem Kinderfahrrad gegen die weiteren Stichversuche wehrte. Es hätte aber erörtert werden müssen, welche Vorstellungen sich die Angeklagte angesichts dieser von ihr wahrgenommenen „Kampflage“, in die sie noch nicht eingegriffen hatte, von dem möglichen weiteren Geschehen machte, als sie es dem Angeklagten durch ihr Eingreifen ermöglichte, das ihm zwischenzeitlich aus der Hand geschlagene Messer wieder zu ergreifen.
(2) Soweit das Landgericht ausgeführt hat, die Angeklagte habe vor dem Hintergrund ihrer letztlich nicht zu widerlegenden Einlassung, keine konkreten Stiche bzw. Einstiche bei dem Nebenkläger gesehen zu haben, „nicht davon ausgehen müssen“, der Nebenkläger sei zum Zeitpunkt ihres Eingreifens (gemeint: dessen Fixierung am Boden) bereits lebensbedrohlich verletzt gewesen, sodass sie auch nicht mit weiteren lebensbedrohlichen Angriffen des Angeklagten auf den Nebenkläger habe rechnen müssen, leiden seine Darlegungen in verschiedener Hinsicht an Erörterungsmängeln:
Das Landgericht hat der Einlassung der Angeklagten, die bestritten hatte, den Nebenkläger zu Boden gezogen und dort fixiert zu haben, gestützt auf mehrere Beweismittel rechtsfehlerfrei insgesamt keinen Glauben geschenkt. Danach erschließt es sich ohne nähere Begründung, die das angefochtene Urteil vermissen lässt, aber nicht, warum ausgerechnet die Behauptung der Angeklagten, sie habe bei ihrem Eingreifen in das Geschehen keine konkreten Verletzungen des Nebenklägers erkannt, nicht zu widerlegen gewesen sein soll. Dies gilt namentlich angesichts dessen, dass das Landgericht mehrere indizielle Umstände festgestellt hat, die nur schwerlich mit den Angaben der Angeklagten zu vereinbaren sind. So blutete der Nebenkläger unmittelbar nach dem Stich in die Wange stark, sein Mund füllte sich sofort mit Blut; er hat - nach Ansicht des Landgerichts glaubhaft - ausgesagt, als die Nebenklägerin ihm den Mund zugehalten habe, habe er geglaubt zu ersticken, da ihm das Blut in den Hals gelaufen sei (UA S. 37). Dem entspricht, dass nach der Tat auf der Hose der Angeklagten großflächig im Bereich des linken vorderen Oberschenkels sowie im Bereich des linken Unterschenkels, der Kniekehle und des Gesäßes Blut des Nebenklägers angetragen war (UA S. 18 f.). Eine Tatzeugin nahm die Blutung im Gesicht des Nebenklägers deutlich wahr. Zudem hat das Landgericht seine Überzeugung davon, dass es der 1,64 m großen und 50 kg leichten Angeklagten möglich gewesen sei, den muskulösen, 1,80 m großen und 100 kg schweren Nebenkläger zu Boden zu bringen, damit begründet, dass dieser bereits durch die vorangegangenen Verletzungen geschwächt war. Diese Beweisanzeichen hat das Landgericht nicht in seine Überzeugungsbildung eingestellt und nicht erläutert, wie all dies der Angeklagten verborgen geblieben sein soll.
c) Schon dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit es die Angeklagte betrifft. Der Senat kann daher offen lassen, ob auf Grundlage der getroffenen Feststellungen die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe sich an der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers lediglich als Gehilfin beteiligt, frei von rechtlichen Bedenken ist.
2. Die Revision der Angeklagten Die Überprüfung des Urteils auf die von der Angeklagten T. erhobene allgemeine Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zu ihren Ungunsten ergeben. Das Rechtsmittel ist somit unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
3. Die Revision des Nebenklägers a) Soweit der Nebenkläger sich hinsichtlich des Angeklagten Y. gegen die Anwendung des Strafrahmens des § 213 StGB wendet, erhebt er lediglich Einwände gegen den Rechtsfolgenausspruch. Mit dem - ausschließlichen - Ziel, dass gegen den Angeklagten eine andere Rechtsfolge verhängt wird, kann er indes nicht gehört werden (§ 400 Abs. 1 Alternative 1 StPO). Die Revision erweist sich insoweit als unzulässig.
b) Dagegen ist die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision betreffend die Angeklagte T., mit der sich der Nebenkläger dagegen wendet, dass diese lediglich wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung verurteilt worden ist, aus den unter II. 1. genannten Gründen begründet.
HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 926
Bearbeiter: Christian Becker