HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 415
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 335/16, Beschluss v. 24.01.2017, HRRS 2017 Nr. 415
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 25. April 2016 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorteilsannahme zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 50 € verurteilt, wovon es 50 Tagessätze wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt hat. Gegen die Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
1. Der näheren Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge unter Punkt B. I. der Revisionsbegründung („Verletzung von § 338 Nr. 4 StPO in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG“):
a) Der Rüge, das erkennende Landgericht Lüneburg sei im Sinne des § 338 Nr. 4 StPO örtlich unzuständig gewesen, liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Die mit den Ermittlungen betraute Staatsanwaltschaft Lüneburg erhob gegen den Angeklagten Anklage wegen Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1 StGB) sowie Verletzung von Dienstgeheimnissen (§ 353b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) zum gemäß § 7 Abs. 1 StPO, § 9 StGB und § 8 Abs. 1 StPO zuständigen Landgericht Verden. Dieses lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts ab.
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht Celle mit Beschluss vom 23. Juli 2014 das Hauptverfahren vor dem Landgericht Lüneburg eröffnet. Im ersten Termin der Hauptverhandlung hat der Angeklagte - vor seiner Vernehmung zur Sache - die örtliche Unzuständigkeit des Landgerichts Verden gerügt. Im darauffolgenden Termin am 29. März 2016 hat das Landgericht diesen Einwand zurückgewiesen. Nach vorläufiger Einstellung des Verfahrens hinsichtlich des Vorwurfs der Verletzung von Dienstgeheimnissen gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO ist der Angeklagte, wie ausgeführt, verurteilt worden.
b) Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass das Landgericht Lüneburg zu Unrecht seine örtliche Zuständigkeit angenommen habe, weil die vom Oberlandesgericht vorgenommene Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht Lüneburg nicht dessen örtliche Zuständigkeit begründet habe. Die für die Zuständigkeitsbestimmung angeführten Gründe erwiesen sich als willkürlich; die Wahl gerade des Landgerichts Lüneburg als eines der bei Verweisung in Betracht kommenden Gerichte sei nicht begründet worden.
c) Der vom Angeklagten geltend gemachte absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 4 StPO liegt nicht vor. Das Landgericht Lüneburg hat zu Recht seine örtliche Zuständigkeit angenommen.
aa) Eröffnet das Beschwerdegericht das Hauptverfahren nicht vor dem Gericht, das die Eröffnung abgelehnt hatte, sondern nach § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO vor einem benachbarten Gericht, so hat dieses auf den vom Angeklagten rechtzeitig erhobenen Einwand gemäß § 16 Satz 2, 3 StPO gleichwohl seine örtliche Zuständigkeit zu prüfen. Auf Grund der Beschwerdeentscheidung geht dem Angeklagten der Unzuständigkeitseinwand nicht verloren (vgl. LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 210 Rn. 36). Da die Zuständigkeit des benachbarten Gerichts - regelmäßig - nur durch die nach § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO getroffene Wahl begründet sein kann, hat sich die Prüfung auf dessen Anwendung zu beziehen, ohne dass das Gericht an die Zuständigkeitsbestimmung des Beschwerdegerichts gebunden wäre. Eine über die Eröffnung des Hauptverfahrens hinausgehende Bindungswirkung hat dessen Eröffnungsbeschluss nicht (so Marcelli, NStZ 1986, 59, 61; LR/Stuckenberg aaO; vgl. auch BGH, Urteil vom 25. August 1975 - 2 StR 309/75, BGHSt 26, 191, 192 f. [bezüglich der Bestimmung des Schwurgerichts statt der zuständigen Jugendkammer]; aA Meyer-Goßner, JR 1979, 384, 385 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 210 Rn. 10; Radtke/Hohmann/Reinhart, StPO, § 210 Rn. 8).
Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens vor einem benachbarten Gericht gemäß § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO handelt es sich allerdings um eine Ermessenentscheidung des Beschwerdegerichts. Die Prüfung des Gerichts, dessen Zuständigkeit bestimmt worden ist, erstreckt sich - neben der Frage, ob es zu den benachbarten Gerichten im Sinne des § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO gehört - allein auf Ermessensfehler. Dabei ist von folgenden Maßstäben auszugehen:
Die Vorschrift des § 210 Abs. 3 StPO ist im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) dahin verfassungskonform auszulegen, dass das Beschwerdegericht das Strafverfahren in der Regel bei dem zuvor mit der Sache befassten Spruchkörper belassen muss, außer wenn besondere Gründe dafür vorliegen, dass die Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht stattzufinden hat (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13. Juni 1993 - 2 BvR 848/93, juris Rn. 4 f.; vom 30. Juni 1999 - 2 BvR 1067/99, StV 2000, 537; vom 15. September 2005 - 2 BvR 1229/05, juris Rn. 2). In der Beschwerdeentscheidung sind diese Gründe grundsätzlich - wenn sie nicht offensichtlich sind - darzulegen (vgl. Radtke/Hohmann/Reinhart aaO; KK/Schneider, StPO, 7. Aufl., § 210 Rn. 12 mwN). Als ein solcher Grund kommt namentlich die Sicherstellung einer unvoreingenommenen Verhandlung in Betracht; so hat etwa das Bundesverfassungsgericht eine in diesem Sinne sachgerechte Erwägung darin gesehen, dass das Beschwerdegericht „offensichtlich die Besorgnis (hatte), die bisher mit der Sache befaßten Richter würden die Gründe, die zur Aufhebung ihrer Entscheidung ... geführt haben, innerlich nicht voll akzeptieren“ (Beschluss vom 13. Juni 1993 - 2 BvR 848/93, aaO, Rn. 4; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 15. September 2005 - 2 BvR 1229/05, aaO, Rn. 4 ["Frage einer nicht auszuschließenden Voreingenommenheit des Ausgangsgerichts"]). Aber auch andere Gesichtspunkte können im Einzelfall ausschlaggebend sein, beispielsweise die Vermeidung gravierender Verfahrensnachteile für den Angeklagten (so BVerfG, Beschluss vom 15. September 2005 - 2 BvR 1229/05, aaO, Rn. 4 f.). Die besonderen Gründe sind indes nicht abschließend festgelegt. Es steht im Ermessen des Beschwerdegerichts, welche Gründe es heranzieht und wie es sie bewertet und gewichtet. Seine Entscheidung ist bis zur Grenze objektiver Willkür hinzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1999 - 2 BvR 1067/99, aaO).
bb) Das Landgericht hat den Unzuständigkeitseinwand des Angeklagten rechtsfehlerfrei zurückgewiesen.
(1) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das Hauptverfahrens vor dem Landgericht Lüneburg zu eröffnen, lässt keinen Ermessensfehler erkennen; insbesondere beruht sie nicht auf objektiver Willkür.
Das Oberlandesgericht - und ihm folgend das Landgericht - haben einen besonderen Grund für die Zuständigkeitsbestimmung vor dem Hintergrund der langjährigen Tätigkeit des Angeklagten als Staatsanwalt im Landgerichtsbezirk Verden in der Sicherstellung einer unvoreingenommenen Verhandlung gesehen. Der Angeklagte hatte in den Jahren 2005 bis 2011 seinen Dienst als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Verden ausgeübt, zuletzt in herausgehobener Position. Er war erst weniger als zwei Jahre vor der Eröffnung des Hauptverfahrens (zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts s. BGH, Beschlüsse vom 31. März 2011 - 3 StR 400/10, StraFo 2011, 271, 273; vom 31. März 2011 - 3 StR 460/10, BGHR StGB § 9 Erfolg 3) in den vorläufigen Ruhestand versetzt worden. Beide in der zugelassenen Anklage erhobenen Tatvorwürfe betrafen ein Fehlverhalten im Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit. Als zu besorgende Beeinträchtigung einer unvoreingenommenen Verhandlung hat das Oberlandesgericht „in erheblichem Umfang“ bestehende „persönliche Bekanntschaften mit Richtern und ... Staatsanwälten“ genannt. Dies hat das Landgericht dahin erläutert, dass „allein aufgrund der beruflichen Zusammenarbeit mit den Strafrechtspraktikern eines Bezirks (...) eine vom Normalmaß abweichende Bekanntheit anzunehmen ist“.
Die Begründung der Zuständigkeitsbestimmung erweist sich als ausreichend tatsachenbasiert. Sie beruht auf einem Erfahrungssatz zu regelmäßig im beruflichen Umfeld entstehenden persönlichen Kontakten. Zu Erhebungen im Freibeweis, etwa durch Befragung aller Richter am Landgericht Verden zu ihrem Verhältnis zur Person des Angeklagten, war weder das Oberlandesgericht noch das Landgericht verpflichtet. Soweit der Angeklagte mutmaßt, dass mit Bekanntschaften entweder „trans- oder heterosexuelle Beziehungen ... oder andersartige Freundschaften gemeint“ seien, und im Folgenden auf bestimmte, namentlich individualisierte Richterinnen und Staatsanwältinnen eingeht, um die eigenen Mutmaßungen sogleich als „ehrenrührig“ zu tadeln, scheint dem ein zu enges Verständnis von (persönlichen) Bekanntschaften zugrunde zu liegen.
Die Begründung der Zuständigkeitsbestimmung ist auch frei von sachfremden Erwägungen. Anders als der Angeklagte meint, ist die Wahl eines benachbarten Gerichts unter dem Gesichtspunkt der Sicherstellung eines unvoreingenommenen Verfahrens nicht erst dann zulässig, wenn für sämtliche Richter des ursprünglich mit der Sache befassten Gerichts die Anforderungen erfüllt sind, die das Gesetz an eine Ablehnung stellt (§ 24 Abs. 1 StPO). Vielmehr sind die Kriterien für eine willkürfreie Ermessensausübung, wie auch die - oben zitierten - Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen, weit weniger streng. Das Oberlandesgericht hat insoweit bestehende Bekanntschaften des Angeklagten heranziehen dürfen.
Das gilt umso mehr, als das Oberlandesgericht dem Umstand, wie das Vorgehen der Justiz durch die Öffentlichkeit wahrgenommen wird, Bedeutung hat beimessen dürfen. Ebenso hat berücksichtigt werden dürfen, dass das Landgericht Verden die Nichteröffnung des Hauptverfahrens damit begründet hatte, dass der Angeklagte „höchstwahrscheinlich freizusprechen“ sei, und sich mithin nicht damit begnügt hatte, den hinreichenden Tatverdacht zu verneinen (zur Bedeutung der Begründung der Ablehnungsentscheidung für die Zuständigkeitsbestimmung s. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1999 - 2 BvR 1067/99, aaO). Diese Umstände sind evident.
(2) An die Darstellung der die Zuständigkeitsbestimmung tragenden Begründung nach § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO sind keine überspannten Anforderungen zu stellen; es reicht aus, wenn - wie hier - ein besonderer Grund für eine vom Regelfall abweichende Gerichtswahl benannt ist. Dahinstehen kann daher, inwieweit das Gericht, vor dem das Hauptverfahren eröffnet worden ist, auf den Unzuständigkeitseinwand hin die Begründung der Zuständigkeitsbestimmung „nachbessern“ kann. Jedenfalls ist es ihm nicht verwehrt, die vom Beschwerdegericht angeführten Gründe zu konkretisieren und offensichtliche Gründe zu benennen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bedarf die Entscheidung, vor welchem der benachbarten Gerichte das Verfahren eröffnet wird, in aller Regel keiner Begründung. Zudem liegt hier die Wahl des Landgerichts Lüneburg auf der Hand, weil die Staatsanwaltschaft Lüneburg mit den Ermittlungen betraut worden war, die Anklage erhoben und die Sitzungsvertretung wahrzunehmen hatte.
2. a) Die Verfahrensrüge unter Punkt B. II. der Revisionsbegründung („Verletzung von § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO“), die Strafkammer habe einen Antrag des Verteidigers auf erneute Vernehmung des Sachverständigen Dr. K. auch deshalb rechtsfehlerhaft abgelehnt, weil sie „ihrer Entscheidung ... ein anderes als das wirkliche Beweisthema zugrunde gelegt“ habe, findet nicht ansatzweise eine Grundlage in dem schriftlich formulierten Beweisbegehren (das ohnehin nur ein Beweisziel umschreibt). Die Ausführungen, was die Vernehmung vermeintlich ergeben werde, lässt keinen Zusammenhang zu einer - den Tatvorsatz ausschließenden - länger andauernden geistigen „Blockade“ beim Angeklagten erkennen.
Sollte der Verteidiger mit dem Antrag auf die Feststellung eines derartigen psychischen Zustands gezielt haben, wäre er gehalten gewesen, in der Hauptverhandlung sein tatsächliches Beweisbegehren klarzustellen und gegebenenfalls einen hinreichend klar gefassten Beweis(ermittlungs)antrag zu stellen. Selbst im Fall einer lediglich nicht eindeutig gefassten Beweisbehauptung hätte es dem Antragsteller oblegen, auf ein Missverständnis des Gerichts hinzuweisen (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2008 - 3 StR 181/08, NStZ 2009, 171, 172; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 371 mwN).
b) Die Verfahrensrüge unter Punkt B. III. der Revisionsbegründung („Verletzung von § 261 StPO“), das Landgericht habe die schriftliche Einlassung des Angeklagten lückenhaft gewürdigt, weil deren Anlagen entgegen der Anordnung des Vorsitzenden nicht Gegenstand des Selbstleseverfahrens gewesen seien, versagt nicht nur aus tatsächlichen, sondern auch aus rechtlichen Gründen.
Mit der wegen Verletzung der § 249 Abs. 2 Satz 1, 3, § 261 StPO erhobenen Inbegriffsrüge kann geltend gemacht werden, dass Urkunden für die Urteilsfindung verwertet worden sind, obwohl sie wegen fehlerhafter Anordnung oder Durchführung des Selbstleseverfahrens nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Die Beanstandung, dass in der Hauptverhandlung Urkunden nicht als Beweismittel genutzt worden sind, obwohl ihre Einführung geboten war, ist demgegenüber unter dem Blickwinkel des Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO zu beurteilen (vgl. MüKoStPO/Kreicker, StPO, § 249 Rn. 81; LR/Mosbacher, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 113). Eine ordnungsgemäße Aufklärungsrüge hat der Angeklagte indes nicht erhoben.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 415
Externe Fundstellen: NJW 2017, 2635; NStZ 2017, 420
Bearbeiter: Christian Becker