HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 997
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 149/16, Beschluss v. 28.07.2016, HRRS 2016 Nr. 997
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 18. Dezember 2015 aufgehoben
und die Angeklagten werden freigesprochen, soweit sie im Fall II. 1. der Urteilsgründe verurteilt worden sind. Insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last;
im gesamten Strafausspruch; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Hannover - Strafrichter - zurückverwiesen.
Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Volksverhetzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung materiellen Rechts; der Angeklagte M. erhebt außerdem zwei Verfahrensrügen. Die Rechtsmittel haben jeweils mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I. Die von dem Angeklagten M. erhobenen Verfahrensbeanstandungen dringen nicht durch. Der Erörterung bedarf insoweit nur die Rüge, dass ihm entgegen § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO keine Gelegenheit gegeben worden sei, sich vor dem Eintritt in die Beweisaufnahme zur Sache zu äußern. Ihr liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Nachdem der Vorsitzende der Strafkammer die Angeklagten darauf hingewiesen hatte, dass es ihnen frei stehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, wurde die Hauptverhandlung auf Antrag der Verteidiger unterbrochen. Sie wollten ein Gespräch über eine mögliche Verständigung führen und eine Inaugenscheinnahme der Videos, deren Verbreitung den Angeklagten zur Last gelegt wurde, vor der angestrebten Verständigung vermeiden. Die Strafkammer hielt diese Vorgehensweise jedoch nicht für sachgerecht, sodass die Hauptverhandlung fortgesetzt wurde. Der Vorsitzende ordnete sodann die Inaugenscheinnahme der Videos an. Dem widersprachen die Verteidiger mit der Begründung, dass diese Beweiserhebung „zum jetzigen Zeitpunkt“ unzulässig sei, weil das Gericht „zunächst die Entscheidung der Angeklagten abzuwarten“ habe, ob sie sich zur Anklage äußern wollten. Die Beanstandung wurde durch Beschluss der Strafkammer mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Angeklagten Gelegenheit gehabt hätten, sich einzulassen, und die Kammer Verständigungsgespräche vor der Inaugenscheinnahme der Videodateien nicht für angezeigt halte. Anschließend wurde die Beweisaufnahme fortgesetzt. Die Angeklagten äußerten sich erstmals am 4. Verhandlungstag zur Sache, nachdem es am selben Tag zu einer Verständigung gekommen war.
Die Rüge ist unbegründet. Der behauptete Verfahrensverstoß hat nicht stattgefunden.
1. Er ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht schon deshalb bewiesen, weil sich dem Sitzungsprotokoll lediglich entnehmen lässt, dass die Angeklagten über ihre Äußerungsfreiheit belehrt wurden (§ 243 Abs. 5 Satz 1 StPO), ein ausdrücklicher Hinweis darauf, dass ihnen anschließend Gelegenheit gegeben wurde, sich zu der Anklage zu äußern, indes ebenso fehlt wie ein Vermerk über ihre Vernehmung zur Sache oder dazu, dass sie von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht haben. Dem Schweigen des Protokolls kommt insoweit nicht die ausschließliche Beweiskraft nach § 274 Satz 1 StPO zu.
Diese besteht zwar sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht: So wie das Protokoll einerseits unter Ausschluss des Rückgriffs auf andere Beweismittel beweist, dass das geschehen ist, was es angibt, belegt es andererseits auch, dass das unterblieben ist, was nicht in ihm bezeugt wird (LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 274 Rn. 22, 24; KK/Greger, StPO, 7. Aufl., § 274 Rn. 7 ff.). Jedoch erfasst § 274 Satz 1 StPO nur die für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten, worunter vor allem diejenigen im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO zu verstehen sind (BGH, Beschluss vom 6. Februar 1990 - 2 StR 29/89, BGHSt 36, 354, 357; LR/Stuckenberg aaO, § 274 Rn. 14). Danach muss sich aus dem Protokoll insbesondere der gesetzmäßige Ablauf der Hauptverhandlung ergeben (LR/Stuckenberg aaO, § 273 Rn. 3; KK/Greger aaO, § 273 Rn. 2).
Die gesetzlichen Vorgaben, die in dem hier in Rede stehenden Verfahrensabschnitt einzuhalten sind, ergeben sich aus § 243 Abs. 5 StPO. Danach ist der Angeklagte im Anschluss an die Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 StPO) und die Mitteilung des Vorsitzenden über etwaige Verständigungsgespräche (§ 243 Abs. 4 StPO) darauf hinzuweisen, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Falls er zur Äußerung bereit ist, ist er zur Sache zu vernehmen (§ 243 Abs. 5 Satz 2 StPO), bevor sich die Beweisaufnahme anschließt (§ 244 Abs. 1 StPO). Dementsprechend lässt sich allein durch eine entsprechende Protokollierung beweisen, dass der Angeklagte über seine Aussagefreiheit belehrt und - falls er zur Äußerung bereit war - vor der Beweisaufnahme zur Sache vernommen wurde (LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 58, 82; KK/Schneider, StPO, 7. Aufl., § 243 Rn. 44, 63). Der Protokollvermerk, dass der Angeklagte auf sein Schweigerecht hingewiesen wurde, belegt dagegen nicht, dass diesem anschließend auch Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde. Ebenso wenig ist indes das Gegenteil bewiesen, falls sich aus dem Protokoll nicht ergibt, dass er zur Sache vernommen wurde. Das Schweigen des Protokolls belegt insoweit nur, dass der Angeklagte nicht zur Sache vernommen worden ist sowie indirekt, dass er sich nicht geäußert hat (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 1990 - 4 StR 426/89, StV 1990, 245; BayObLG, Urteil vom 1. Juli 1953 - RevReg. 1 St 113/53, MDR 1953, 755, 756; LR/Becker, aaO, Rn. 82 Fn. 275; KK/Schneider, StPO, 7. Aufl., § 243 Rn. 63; Schlothauer, StV 1994, 468 f.). Dies ergibt sich aus Folgendem:
§ 243 Abs. 5 StPO sieht nicht ausdrücklich vor, dass der Angeklagte im Anschluss an den Hinweis auf sein Schweigerecht zu befragen ist, ob er zur Äußerung bereit ist, und ihm Gelegenheit zur Einlassung zu geben. Dies ergibt sich lediglich aus dem Sinn der Vorschrift; denn es wäre widersinnig, den Angeklagten über seine Aussagefreiheit zu belehren, ohne ihm sodann die Möglichkeit einzuräumen, Angaben zur Sache zu machen. Zudem setzt die Regelung des § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO, wonach der Angeklagte zur Sache zu vernehmen ist, falls er zur Äußerung bereit ist, ersichtlich voraus, dass ihm Gelegenheit dazu gegeben wird. Somit ist der Umstand, dass der Angeklagte nach seiner Belehrung Gelegenheit zur Einlassung hatte, zwar gesetzlich vorausgesetzt, indes keine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung, die ausschließlich durch einen ausdrücklichen entsprechenden Protokollvermerk belegbar ist. Dass diese Gelegenheit eingeräumt wurde, ergibt sich im Regelfall vielmehr lediglich konkludent aus der Protokollierung, der Angeklagte habe sich zur Äußerung bereit gezeigt und zur Sache eingelassen, oder er habe erklärt, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Fehlt ein eindeutiger Vermerk, so ist die Frage, ob dem Angeklagten Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, daher im Wege des Freibeweises zu klären (vgl. dazu LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 49).
Bisherige Rechtsprechung steht dem nicht entgegen. Soweit der Senat in seinem Beschluss vom 13. September 1991 (3 StR 338/91, NStZ 1992, 49) sich beiläufig gegenteilig geäußert hat, war dies für die dortige Entscheidung nicht tragend; der Senat würde hieran auch nicht festhalten. Der Beschluss des 4. Strafsenats vom 13. Dezember 1990 (4 StR 519/90, BGHSt 37, 260, 261 f.) betrifft die Anhörung des Angeklagten zu einem Adhäsionsantrag und differenziert, soweit er hierbei auf § 243 StPO Bezug nimmt, nicht näher zwischen der Beweiskraft des Protokolls dafür, dass sich der Angeklagte zur Sache äußerte, und dafür, dass ihm hierzu Gelegenheit gegeben wurde.
2. Die Prüfung im Wege des Freibeweises führt zu dem Ergebnis, dass der behauptete Verfahrensverstoß nicht bewiesen ist. Schon dem Vorbringen des Beschwerdeführers lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass er durchaus Gelegenheit hatte, sich zu der Anklage zu äußern, sich dazu aber nicht bereit erklärte, weil er offenbar meinte, das Gericht dadurch an der Inaugenscheinnahme der Videos vor der von ihm angestrebten Verständigung hindern zu können. Das wird durch den Beschluss der Strafkammer bestätigt, mit dem diese die gegen die Anordnung der Inaugenscheinnahme gerichtete Beanstandung der Angeklagten zurückgewiesen hat. Danach hatte der Angeklagte „Gelegenheit zur Einlassung“, das Gericht hielt indes Verständigungsgespräche vor der Inaugenscheinnahme der Videos nicht für angezeigt.
II. Die auf die Sachrügen gebotene umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zu Ungunsten der Angeklagten ergeben, soweit das Landgericht deren Verurteilung wegen Volksverhetzung in Fall II. 2. der Urteilsgründe auf § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB gestützt hat. Soweit sich der Schuldspruch in beiden Fällen auf § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB gründet, hält das Urteil rechtlicher Überprüfung indes nicht stand.
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen veröffentlichten die Angeklagten als führende Mitglieder der 2008 gegründeten und im September 2012 verbotenen Vereinigung „Besseres Hannover“ auf der Internetseite der Vereinigung unter anderem von ihnen selbst produzierte Video- und Textbeiträge. Eine zentrale Rolle nahm dabei die von ihnen entwickelte Figur des „Abschiebären“ ein. Bei der Produktion der betreffenden Videos „schlüpfte“ ein Mitglied der Vereinigung in ein Bärenkostüm, das „der stilisierten Comic-Figur“ eines Bären glich, und trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Abschiebär“.
Am 14. Dezember 2011 veröffentlichten die Angeklagten auf der Internetseite der Vereinigung „Besseres Hannover“ einen Text, der mit dem Wort „Bekanntmachung!" überschrieben war und folgenden Inhalt hatte: „Wir kündigen hiermit an, dass wir für die Durchsetzung unserer politischen Ziele und zur Bewahrung unserer Kultur im nächsten Jahr eine neue Waffe einsetzen werden. Wir nehmen es nicht mehr hin, dass die Abschiebung von Ausländern in ihre Heimat von den Medien als etwas Schreckliches dargestellt wird. Wir haben die Schnauze voll und können auch anders! Abschiebung kann auch beglückend sein. Das folgende Video soll ein kleiner Vorgeschmack auf das sein, was im nächsten Jahr ansteht.“ In dem zugleich auf der Internetseite veröffentlichten Video war nach einer Einblendung der Jahreszahl "2012" und den Worten „Erwartet Euch was …" die Figur des „Abschiebären“ zu sehen, zunächst in verschiedenen Einstellungen vor dem Eingang eines „Döner-Kebab"-Imbisses, vor einem Werbeplakat des Flughafens Hannover mit der Abbildung eines Flugzeugs und der Aufschrift „Istanbul bis zu zweimal täglich mit Turkish Airlines“ sowie im Terminal des Flughafens mit Blick auf das Rollfeld und eine Maschine der „Turkish Airlines“. Anschließend wurde gezeigt, wie der „Abschiebär“ vom Eingangsbereich des anfangs zu sehenden Imbisses aus einen Gehweg entlang schreitet und dabei eine Person im sog. Schwitzkasten hält. Es lässt ihn dabei ungerührt, dass die Person ihn mindestens zweimal in die rechte Körperhälfte schlägt (Fall II. 1. der Urteilsgründe).
Am 29. März 2012 veröffentlichten die Angeklagten auf der Internetseite der Vereinigung „Besseres Hannover“ ein weiteres Video, in dem zu sehen ist, wie der „Abschiebär“ mit Bananen eine Spur legt, die von dem Eingang eines Hochhauses bis zu einem Pkw mit geöffneter Heckklappe führt. Aus dem Hauseingang tritt sodann eine Person heraus, die vor dem Gesicht eine Pappmaske mit der Abbildung eines Gorillakopfes trägt. Die Person folgt der Spur, indem sie die Bananen aufhebt. Als die Person mit dem Gorillakonterfei an der Heckklappe des Pkw stehen bleibt, erscheint schnellen Schrittes der „Abschiebär“ und schubst sie von hinten in den Kofferraum. Er schließt sodann die Kofferraumklappe und die Person mit der Gorillamaske blickt durch das Kofferraumfenster den Betrachter an, während sie mit den Händen gegen das Fenster trommelt.
Anschließend fährt der „Abschiebär“ mit dem Pkw bis zu einem Waldstück und hält auf einem Weg, der in den Wald hineinführt, vor einer Schranke, an der ein Pappschild in der Optik eines Ortsausgangsschildes (gelber Hintergrund mit schwarzer Schrift) befestigt ist. Auf dem Schild stehen das mit einem Pfeil in Nordrichtung versehene Wort „Ausland“ und das mit einem roten Balken diagonal durchgestrichene Wort „Deutschland“. An das Schild tritt sodann die Person mit der Gorillamaske heran. Der „Abschiebär“, der ihr in wenigen Metern Abstand folgt, weist mit seiner rechten Hand zunächst auf die Person und dann hinter die Schranke. Die Person geht daraufhin mit gesenktem Haupt um die Schranke herum und setzt ihren Weg in die ihr gewiesene Richtung fort, während der „Abschiebär“ ihr hinterher winkt (Fall II. 2. der Urteilsgründe).
2. Diese Feststellungen tragen die Verurteilung der Angeklagten gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht. Die Strafkammer hat insoweit ausgeführt, dass die Angeklagten durch beide Videos zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen gegen in Deutschland lebende Ausländer aufgefordert hätten. Die Videos seien so zu deuten, dass „in Deutschland lebende Ausländer willkürlich allein aufgrund ihrer Ausländereigenschaft ausgewählt und ohne Prüfung des Einzelfalls sowie ohne ein rechtsförmliches Verfahren, das heißt ohne Entscheidung einer mit staatli1cher Autorität ausgestatteten Instanz, ohne rechtliches Gehör, ohne Rechtsschutzmöglichkeit und Unterstützung eines Rechtsbeistandes aufgesucht, ergriffen und mit Gewalt außer Landes gebracht werden“ sollten. Die Darstellungen brächten nicht allein die Billigung eines entsprechenden Vorgehens zum Ausdruck, sondern richteten sich „als Aufruf mit appellativem Charakter“ sowohl „an alle mit der Abschiebung von Ausländern betrauten staatlichen Stellen als auch an die Bevölkerung im Übrigen“. Diese Interpretation dränge sich „unabweisbar“ auf, andere Deutungsmöglichkeiten seien ausgeschlossen.
Dagegen wenden sich die Beschwerdeführer zu Recht.
a) Das Auffordern zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen im Sinne des § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches oder konkludentes Einwirken auf andere voraus mit dem Ziel, in ihnen den Entschluss zu bestimmten Handlungen hervorzurufen (BGH, Urteil vom 3. April 2008 - 3 StR 394/07, BGHR StGB § 130 Nr. 1 Auffordern 1). Gewalt- und Willkürmaßnahmen sind diskriminierende Handlungen, die den elementaren Geboten der Menschlichkeit widersprechen (BGH aaO). Als Gewaltmaßnahmen kommen beispielsweise Freiheitsberaubungen, gewaltsame Vertreibungen, Pogrome oder die Veranstaltung von Hetzjagden gegen Ausländer in Betracht (MüKoStGB/Schäfer, 2. Aufl., § 130 Rn. 47). Willkürmaßnahmen sind sonstige diskriminierende und im Widerspruch zu elementaren Geboten der Menschlichkeit stehende Behandlungen aller Art (MüKoStGB/Schäfer aaO). Feindselige Parolen wie „Ausländer raus“ oder „Türken raus“ werden grundsätzlich nicht erfasst, wenn sie sich in der Aufforderung zum Verlassen des Landes erschöpfen (BVerfG, Beschluss vom 25. März 2008 - 1 BvR 1753/03, NJW 2008, 2907, 2908; BGH, Urteil vom 14. März 1984 - 3 StR 36/84, BGHSt 32, 310, 313; S/S/SternbergLieben, StGB, 29. Aufl., § 130 Rn. 5b; vgl. auch OLG München, Beschluss vom 9. Februar 2010 - 5 St RR 9/10/II, NStZ 2011, 41, 42).
Zur Beurteilung der Frage, ob eine Erklärung als Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen zu verstehen ist, ist ihr objektiver Sinngehalt unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums zu ermitteln (BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2010 - 1 BvR 369/04 u.a., NJW 2010, 2193, 2194). Dabei darf ihr im Lichte der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Meinungsfreiheit keine Bedeutung beigelegt werden, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der Mehrdeutigkeit darf nur dann von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgegangen werden, wenn andere, straflose Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen werden können (BVerfG, Beschlüsse vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476/91 u.a., BVerfGE 93, 266, 295 f.; vom 25. März 2008 - 1 BvR 1753/03, NJW 2008, 2907, 2908; vom 4. Februar 2010 - 1 BvR 369/04 u.a. aaO; BGH, Urteile vom 15. Dezember 2005 - 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 305; vom 20. September 2011 - 4 StR 129/11, juris Rn. 24; MüKoStGB/Schäfer, 2. Aufl., § 130 Rn. 110; S/S/SternbergLieben, StGB, 29. Aufl., § 130 Rn. 5).
b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts nicht gerecht. Es erschließt sich schon nicht ohne Weiteres, dass die Videos objektiv den Sinngehalt haben, den ihnen die Strafkammer beigelegt hat. Insbesondere liegt es nicht unbedingt nahe, den Videos eine auf gewaltsame Vertreibung der in Deutschland lebenden Ausländer gerichtete Aufforderung zu entnehmen. Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass sich diese Deutung aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums unabweisbar aufdrängt. Es kommen vielmehr straflose Deutungsmöglichkeiten in Betracht, die das Landgericht nicht mit tragfähiger Begründung ausgeschlossen hat. Die Strafkammer hat insbesondere nicht berücksichtigt, dass die Videos zwanglos ähnlich gedeutet werden können wie ausländerfeindliche Parolen, die für sich genommen grundsätzlich nicht als Aufforderung zu Gewaltoder Willkürmaßnahmen gewertet werden können, wie etwa die Parolen „Ausländer raus“ oder „Türken raus“. Eine Deutung der Videos in diesem Sinne liegt mindestens ebenso nahe wie diejenige, die das Landgericht vorgenommen hat.
3. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung der Verurteilung der Angeklagten in Fall II. 1. der Urteilsgründe. Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Verhandlung Feststellungen getroffen werden können, die ausschließlich eine strafbewehrte Deutung des betreffenden Videos zulassen, und spricht die Angeklagten deshalb insoweit frei (§ 354 Abs. 1 StPO).
4. Der Schuldspruch in Fall II. 2. der Urteilsgründe hat demgegenüber Bestand, weil er sich - insoweit rechtsfehlerfrei - auch auf § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB stützt. Die Strafkammer hat zu Recht angenommen, dass die Angeklagten die in Deutschland lebenden Ausländer durch die Veröffentlichung des betreffenden Videos böswillig verächtlich gemacht und dadurch die Menschenwürde anderer angegriffen haben, indem sie diese als Affen dargestellt haben, die bloß ihren Instinkten folgen. Es bedarf indes einer neuen Strafzumessung, wobei die zugehörigen Feststellungen bestehen bleiben können.
Der Senat verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 3 StPO i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 25 Nr. 2 GVG an das Amtsgericht Hannover zurück, weil die Zuständigkeit des Strafrichters begründet ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 997
Externe Fundstellen: NJW 2016, 3795 ; NStZ-RR 2016, 369; StV 2017, 786
Bearbeiter: Christian Becker