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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 484

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 517/15, Beschluss v. 22.03.2016, HRRS 2016 Nr. 484


BGH 3 StR 517/15 - Beschluss vom 22. März 2016 (LG Krefeld)

Schadensberechnung beim sog. „Sozialleistungsbetrug“ (Berechnungsdarstellung: eigene Prüfung des Tatgerichts nach den Grundsätzen der für die Leistungsbewilligung geltenden Vorschriften; stark differierende Einnahmen des Beziehers; genaue Darstellung der Verteilung von Zuflüssen; Abgrenzung von Tun und Unterlassen bei verschwiegenen Einkünften und vorheriger Erklärung); Verfall (Ansprüche von Verletzten; gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Mittäter).

§ 263 StGB; § 73 StGB; § 111i Abs. 2 StPO; § 11 Abs. 3 SGB II

Leitsätze des Bearbeiters

1. In Fällen des sogenannten Sozialleistungsbetrugs hat das Tatgericht nach den Grundsätzen der für die Leistungsbewilligung geltenden Vorschriften selbständig zu prüfen, ob und inwieweit tatsächlich kein Anspruch auf die beantragten Leistungen bestand. Um den Eintritt eines Schadens zu belegen, muss aus den Feststellungen in nachvollziehbarer Weise hervorgehen, dass und inwieweit nach den tatsächlichen Gegebenheiten auf die sozialrechtliche Leistung kein Anspruch bestand; mit einer allgemeinen Verweisung auf behördliche Schadensaufstellungen darf sich das Urteil nicht begnügen.

2. Bei der Höhe nach stark differierenden Einnahmen eines Beziehers von Sozialleistungen bedarf es insoweit mit Blick auf die Regelungen zur Berücksichtigung und gegebenenfalls Aufteilung von Zuflüssen in § 11 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB II konkreter Darlegungen, wie sich das zu berücksichtigende Einkommen in den jeweiligen Monaten darstellte.

3. Ist die Summe der gegen mehrere Beteiligte festgesetzten Verfallsbeträge höher, als ein dem jeweiligen Verletzten zustehender Anspruch, muss, um einerseits die Abschöpfung des aus der Tat Erlangten zu ermöglichen und zugleich zu verhindern, dass dies mehrfach geschieht, von einer Gesamtschuld der Mittäter ausgegangen und deren Bestehen bzw. Umfang in den Urteilsgründen erörtert werden.

Entscheidungstenor

Das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 12. Juni 2015 wird mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

auf die Revisionen der Angeklagten im Ausspruch über das Absehen von der Verfallsanordnung nach § 111i Abs. 2 StPO;

auf die Revision des Angeklagten S. B. darüber hinaus, soweit er im Fall 18 der Urteilsgründe verurteilt worden ist;

auf die Revision des Angeklagten Ro. B. darüber hinaus, soweit er im Fall 19 der Urteilsgründe verurteilt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wie folgt verurteilt:

- den Angeklagten S. B. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in neun Fällen, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in drei Fällen, Betrugs sowie wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten;

- den Angeklagten Ro. B. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in acht Fällen, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in vier Fällen, Betrugs, versuchten Betrugs sowie wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten;

- den Angeklagten R. B. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in neun Fällen, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in vier Fällen, wegen Beihilfe zum Betrug sowie wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat;

- den Angeklagten S. G. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in drei Fällen sowie wegen versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.

Es hat zudem angeordnet, dass als „Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“ von den verhängten Freiheitsstrafen jeweils drei Monate als vollstreckt gelten und festgestellt, dass gegen die Angeklagten von der Anordnung des Verfalls - in jeweils unterschiedlicher Höhe - nur deshalb abgesehen wird, weil Ansprüche Verletzter entgegenstehen.

2 Gegen diese Verurteilungen wenden sich die Beschwerdeführer mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen; die Angeklagten Ro. B. und S. G. beanstanden zudem das Verfahren. Die Rechtsmittel haben lediglich den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen - geringfügigen - Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die von den Angeklagten Ro. B. und S. G. erhobenen Verfahrensrügen sind, wie der Generalbundesanwalt in seinen Antragsschriften zutreffend ausgeführt hat, unbegründet.

2. Die auf die jeweils erhobenen Sachrügen veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch in den Fällen eins bis siebzehn der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Der Schuldspruch hat hingegen keinen Bestand, soweit der Angeklagte S. B. im Fall 18 der Urteilsgründe und der Angeklagte Ro. B. im Fall 19 der Urteilsgründe jeweils wegen Betrugs verurteilt worden sind.

a) Das Landgericht hat insoweit festgestellt, dass S. B. von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die die Agentur für Arbeit K. (im Folgenden: ARGE) auf seinen (Folge-) Antrag vom 4. Januar 2010 für ihn und seine Familie in den Monaten Mai bis September 2010 in Höhe von insgesamt 8.354,99 € zahlte, jedenfalls 5.500 € zu Unrecht erhielt, weil er die in diesem Zeitraum mit Teppichverkäufen erzielten Einkünfte nicht angab. Entsprechend erhielt Ro. B. auf seinen Antrag vom 25. März 2010 von den für ihn und seine Familie im gleichen Zeitraum gezahlten Leistungen in Höhe von 7.195,03 € jedenfalls 4.250 € zu Unrecht.

In der Beweiswürdigung hat die Strafkammer ausgeführt, bei S. B. seien die Einkünfte aus den Fällen eins bis vier, sechs, neun bis sechzehn der Urteilsgründe sowie Einnahmen aus vier weiteren Teppichverkäufen zu berücksichtigen. Von der sich aus diesen Beträgen ergebenden Summe hat sie 25 % für „geschäftsbedingte Aufwendungen“ abgezogen, dem Angeklagten von dem verbleibenden Betrag einen Anteil in Höhe von 25 % als Einnahme zugeordnet und auf dieser Grundlage die monatlichen Einnahmen auf durchschnittlich jedenfalls 1.100 € geschätzt. Für Ro. B. ist das Landgericht entsprechend vorgegangen und hat auf der Basis der Einkünfte aus den Fällen eins bis vier und neun bis sechzehn der Urteilsgründe ein durchschnittliches monatliches Einkommen in Höhe von 850 € angenommen. Vor dem Hintergrund dieser Einnahmesituation ergäben sich die jeweiligen Schadensberechnungen aus den in der Hauptverhandlung verlesenen schriftlichen Berechnungen der jeweiligen Sachbearbeiter bei der ARGE.

b) Diese Ausführungen tragen die Verurteilungen der Angeklagten S. und Ro. B. jeweils wegen Betruges zum Nachteil der ARGE nicht. In Fällen des sogenannten Sozialleistungsbetrugs hat das Tatgericht nach den Grundsätzen der für die Leistungsbewilligung geltenden Vorschriften selbständig zu prüfen, ob und inwieweit tatsächlich kein Anspruch auf die beantragten Leistungen bestand (OLG Hamm, Beschlüsse vom 17. August 2015 - 5 RVs 65/15, NStZ 2016, 183; vom 16. Februar 2012 - 5 RVs 113/11, NStZ-RR 2013, 13, 14; OLG Koblenz, Beschluss vom 1. Dezember 2014 - 1 Ss 21/13, juris Rn. 10; KG, Urteil vom 18. Februar 2013 - (4) 1 Ss 281/12 (341/12), juris Rn. 12; OLG Nürnberg, Urteil vom 14. September 2011 - 2 St OLG Ss 192/11, juris Rn. 24). Um den Eintritt eines Schadens zu belegen, muss aus den Feststellungen in nachvollziehbarer Weise hervorgehen, dass und inwieweit nach den tatsächlichen Gegebenheiten auf die sozialrechtliche Leistung kein Anspruch bestand; mit einer allgemeinen Verweisung auf behördliche Schadensaufstellungen darf sich das Urteil nicht begnügen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. November 2000 - 2a Ss 271/00 - 62/00 II, juris Rn. 4; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 263 Rn. 141).

Diesen Anforderungen genügen die Darlegungen des Landgerichts nicht. Dabei kann der Senat offen lassen, ob seitens des erkennenden Gerichts stets eine eigene - gegebenenfalls auch ins Einzelne gehende - Berechnung der dem Angeklagten zustehenden öffentlichen Leistungen notwendig ist (vgl. insoweit OLG Hamm, Beschluss vom 17. August 2015 - 5 RVs 65/15, aaO mwN). In Fällen wie dem vorliegenden, in denen die - nach den Feststellungen wohl im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 SGB II einmaligen (vgl. Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPKSGB II, 4. Aufl., § 11 Rn. 65) - Einnahmen eines Beziehers von Sozialleistungen stark differieren (nach den „Schätzungen“ der Strafkammer erlangten die Angeklagten jeweils aus den Taten im Mai 2010 über 1.200 €, aus denen im Juni 2010 hingegen nur 675 € bzw. 562,50 €, aus denen im Juli 2010 nur 165 €, aus denen im August 2010 hingegen fast 1.750 € und aus denen im September 2010 wiederum nur etwa 85 €) hätte es insbesondere mit Blick auf die Regelungen zur Berücksichtigung und gegebenenfalls Aufteilung von Zuflüssen in § 11 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB II konkreter Darlegungen bedurft, wie sich das zu berücksichtigende Einkommen in den jeweiligen Monaten darstellte. Betreffend den Angeklagten S. B. kommt hinzu, dass die Einkünfte, die er aus weiteren, über die abgeurteilten Taten hinausgehenden Teppichverkäufen erzielte, mangels entsprechender Angaben des Landgerichts zeitlich nicht zugeordnet werden können, so dass auch insoweit unklar bleibt, in welchen Monaten und in welchem Umfang diese zu berücksichtigen waren. Betreffend den Angeklagten Ro. B. errechnet sich selbst nach der von der Strafkammer angewandten Methode ein durchschnittliches Monatseinkommen von nur 761,44 €.

Angesichts dessen entbehrt die Schätzung der Strafkammer, die Angeklagten hätten monatlich „im Durchschnitt“ jedenfalls 1.100 € bzw. 850 € eingenommen, einer tragfähigen Grundlage. Dies entzieht den Schadensberechnungen der Sachbearbeiter der ARGE den Boden, ohne dass es noch darauf ankommt, dass der Senat diese nicht mitgeteilten Berechnungen ohnehin nicht überprüfen kann.

c) Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass auch die Annahme des Landgerichts in seiner rechtlichen Würdigung, die Angeklagten hätten durch aktives Tun und nicht nur durch Unterlassen im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB getäuscht, nicht rechtsbedenkenfrei erscheint. Die Strafkammer hat dies damit begründet, dass S. und Ro. B. ihre Einkünfte aus Teppichverkäufen schon bei der Antragstellung verschwiegen und dadurch konkludent falsche Angaben zu bewilligungsrelevanten Umständen gemacht, es hingegen nicht bloß pflichtwidrig (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I, siehe dazu LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., § 263 Rn. 57) unterlassen hätten, solche später eingetretenen Umstände dem Leistungsträger mitzuteilen. Dies ist mit Blick auf die mitgeteilten Daten der Antragstellung, die Monate vor den hier in Rede stehenden Einkünften liegen, nicht ohne Weiteres nachvollziehbar.

3. Die von allen Beschwerdeführern erhobene Sachrüge führt ebenfalls zur Aufhebung des Ausspruchs über das Absehen von der Verfallsanordnung nach § 111i Abs. 2 StPO. Denn das Landgericht hat nicht bedacht, dass die Angeklagten in jeweils unterschiedlicher Höhe nur als Gesamtschuldner haften können. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Zutreffend ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass ein Vermögensvorteil im Sinne von § 73 Abs. 1, § 73a Satz 1 StGB „erlangt“ ist, wenn der Tatbeteiligte die faktische Verfügungsgewalt über den Gegenstand erworben hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 2. Juli 2015 - 3 StR 157/15, BGHR StGB § 73 Erlangtes 16). Dementsprechend hat sie - insoweit rechtsbedenkenfrei - nur dem jeweils „vor Ort“ tätigen Angeklagten den vollen Kaufpreis als Erlangtes zugerechnet, den anderen Angeklagten hingegen nur einen später ausgezahlten - je nach Anzahl der Tatbeteiligten prozentual unterschiedlich hohen - Beuteanteil. Dies hat indes zur Folge, dass hinsichtlich des jeweils aus einer Tat erzielten Erlöses mehrere Angeklagte haften und die Summe der gegen sie festgesetzten Beträge höher ist, als der dem jeweiligen Verletzten zustehende Anspruch. Um einerseits die Abschöpfung des aus der Tat Erlangten zu ermöglichen, zugleich aber zu verhindern, dass dies mehrfach geschieht, ist in solchen Fällen von einer Gesamtschuld der Mittäter auszugehen, deren Bestehen und Umfang sich aus den Urteilsgründen ergeben muss (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 111i Rn. 94 mwN). Daran fehlt es hier.

Der Senat kann die insbesondere zum Umfang der gesamtschuldnerischen Haftung erforderlichen Feststellungen nicht mit der für eine eigene Sachentscheidung gebotenen Sicherheit den Urteilsgründen entnehmen, weil die vom Landgericht errechneten Beträge dessen, was die Angeklagten aus den Taten erlangten, auf der Grundlage der allein mitgeteilten Berechnungsmethode jedenfalls nicht durchweg nachvollziehbar sind. Um dem neuen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hat er deshalb auch die insoweit zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 484

Bearbeiter: Christian Becker