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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 306

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 528/14, Beschluss v. 22.01.2015, HRRS 2015 Nr. 306


BGH 3 StR 528/14 - Beschluss vom 22. Januar 2015 (LG Kleve)

Rechtsfehlerhafte Ersetzung der Vernehmung eines Arztes durch Verlesung einer vom Angeklagten eingereichten ärztlichen Bescheinigung; fehlender Widerspruch gegen die Verlesung begründet nicht ohne weiteres das Einverständnis mit der Verlesung.

§ 250 S. 2 StPO; § 251 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Verlesung einer ärztlichen Bescheinigung unter Absehen von der Vernehmung des ausstellenden Arztes verstößt regelmäßig auch dann gegen § 250 S. 2 StPO, wenn die Bescheinigung vom Angeklagten selbst eingereicht wurde. Dabei kann aus dessen fehlendem Widerspruch gegen die Verlesung jedenfalls dann nicht auf ein Einverständnis i.S.d. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO geschlossen werden, wenn keine Anhaltspunkte für ein Vorgehen des Tatgerichts nach dieser Vorschrift gegeben sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kleve vom 19. März 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in 22 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zur Zahlung eines Schmerzensgelds verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet das Verfahren. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg; auf die Sachrüge kommt es danach nicht mehr an.

Die Rüge, eine vom Angeklagten beigebrachte ärztliche Bescheinigung sei in der Hauptverhandlung entgegen § 250 Satz 2 StPO verlesen worden, ist begründet.

1. Der Rüge liegt zu Grunde:

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, er habe zwischen Februar 2003 und Mai 2012 die Nebenklägerin und deren Halbschwester wiederholt sexuell missbraucht, indem er diese u.a. dazu veranlasst habe, an seinem Penis teils bis zur Erektion, teils auch bis zum Samenerguss zu manipulieren. Der Angeklagte hat die Vorwürfe bestritten und sich u.a. dahin eingelassen, wohl aufgrund beruflicher Überbeanspruchung und einer Diabetes-Erkrankung leide er seit 2003 unter erektiler Dysfunktion und habe seit 2004 nie mehr eine Erektion gehabt. Die Einnahme verschiedener ihm von seinem Hausarzt verschriebener Potenzmittel habe nichts bewirkt.

Zur Untermauerung seiner Einlassung hat der Angeklagte eine unter dem 30. August 2013 ausgestellte Bescheinigung eines Arztes für Allgemeinmedizin folgenden Wortlauts vorgelegt:

"... klagt seit 2004 über eine völlige erektile Dysfunktion durch völlige Erschöpfung bei der Schichtarbeit. In meiner Praxis erfolgten mehrfach therapeutische Gespräche. Die durchgeführten Maßnahmen blieben jedoch ohne wesentlichen Effekt." Diese Bescheinigung wurde in der Hauptverhandlung verlesen, ohne dass dem ein entsprechender Beschluss der Strafkammer vorausging. Im Urteil führt das Landgericht hierzu aus, der Bescheinigung seien, was eine beim Angeklagten vorliegende erektile Dysfunktion betreffe, "keine objektivierbaren Umstände zu entnehmen", welche die nach dem Ergebnis sachverständiger Exploration glaubhaften und erlebnisbezogenen Angaben der Geschädigten in Frage stellen.

2. Damit hat das Landgericht gegen § 250 Satz 2 StPO verstoßen, denn es hat von einer Vernehmung des die Bescheinigung ausstellenden Arztes abgesehen, seiner Würdigung der Beweise allein dessen schriftliche Erklärung zu Grunde gelegt und deren Inhalt sodann einen wesentlichen Beweiswert zu Gunsten des Angeklagten abgesprochen. Auch in Anbetracht der vom Landgericht inhaltlich eingehend gewürdigten und danach - für sich gesehen rechtsfehlerfrei - als detailreich, erlebnisfundiert und somit als glaubhaft gewerteten Aussagen der Geschädigten kann der Senat nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht.

Der Auffassung des Generalbundesanwalts, es sei daraus, dass der Angeklagte die Bescheinigung selbst eingereicht und ausweislich des Protokolls der Verlesung nicht widersprochen habe, auf dessen Einverständnis mit einer vernehmungsersetzenden Verlesung im Sinne von § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu schließen, folgt der Senat nicht, denn es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht zu erkennen gegeben hätte, nach dieser Vorschrift verfahren zu wollen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Juli 1983 - 1 StR 174/83, NJW 1984, 65, 66; vom 19. November 2009 - 4 StR 276/09, juris Rn. 8). Darauf, dass der Verlesung auch kein Beschluss der Strafkammer zu Grunde lag (§ 251 Abs. 4 Satz 1 StPO), kommt es deshalb nicht mehr an.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 306

Externe Fundstellen: NStZ 2015, 476

Bearbeiter: Christian Becker