HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 95
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 139/12, Urteil v. 29.11.2012, HRRS 2013 Nr. 95
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. September 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an einen anderen Strafsenat des Oberlandesgerichts zurückverwiesen.
Das Oberlandesgericht hat den Angeklagten wegen Mordes an zwei Menschen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf Rügen der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützte Revision hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensbeanstandungen kommt es daher nicht an.
1. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts gehörte der Angeklagte Anfang des Jahres 1993 der marxistisch-leninistisch orientierten türkischen Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") an. Ende März 1993 beauftragte er von Deutschland aus durch einen Telefonanruf den ihm nachgeordneten, in Istanbul tätigen G. unter Ausnutzung des hierarchisch strukturierten Machtapparats der Organisation mit der Planung, Vorbereitung und Durchführung eines Anschlags, ohne dabei die näheren Details vorzugeben. Der angewiesene G. beauftragte daraufhin mit der Umsetzung des Anschlags eine Kommandogruppe aus vier Personen. Diese griff am 1. April 1993 in Istanbul mit Schusswaffen zwei Polizisten an, die sich keines Angriffs versahen und tödlich verletzt wurden.
Das Oberlandesgericht hat die Feststellungen dazu, dass der Angeklagte den Anschlag anordnete, im Wesentlichen den Aussagen des kommissarisch in der Türkei vernommenen Zeugen Ge. entnommen. Dieser hat bekundet, sich nach einer Flucht aus dem Gefängnis am 19. Februar 1993 einige Zeit - ebenso wie G. - in einer Wohnung in Istanbul aufgehalten zu haben. Dort habe G. ihm - Ge. - berichtet, die Anweisung zu dem Anschlag vom 1. April 1993 telefonisch vom Angeklagten erhalten zu haben.
2. Die Beweiswürdigung, aufgrund derer sich das Oberlandesgericht von der Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen Ge. und damit von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt hat, ist aufgrund eines Widerspruchs rechtsfehlerhaft.
a) Die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO), der allein sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden hat. Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist oder mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 2007 - 3 StR 342/07, NStZ-RR 2008, 146, 147 mwN). Nach diesen (eingeschränkten) revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstäben enthält die Beweiswürdigung einen auf die Sachrüge zu beachtenden Rechtsmangel:
Obschon der Zeuge Ge. nach den Urteilsgründen in seinen kommissarischen Vernehmungen vom 17. Februar 2010 und vom 23. September 2010 unterschiedliche Angaben zu dem Gespräch mit dem Zeugen G. gemacht hat, geht das Oberlandesgericht von - im Kerngeschehen - konstanten Aussagen des Zeugen Ge. aus; dies ist widersprüchlich.
b) Der Zeuge hat in den beiden kommissarischen Vernehmungen den Zeitpunkt, zu dem G. ihm mitgeteilt habe, der Angeklagte habe den Anschlag telefonisch angeordnet, in deutlich divergierender Weise beschrieben und dabei das Gespräch insbesondere in einen jeweils völlig anderen Kontext gestellt.
So hat er in seiner ersten Vernehmung erklärt, "er könne sich sehr gut daran erinnern, dass die Anweisung zu dieser Aktion von E. erteilt worden sei. Dies sei bei einem Telefongespräch mit G. geschehen. Er selbst (Ge.) habe anders als G. nicht hinaus auf die Straße gehen können. Über das Gespräch habe G. den in der Wohnung verbliebenen Personen Mitteilung gemacht. Zur Zeit seiner Aktionsanweisung habe sich E. in Deutschland aufgehalten. ... Nach der Durchführung der Aktion vom 1. April 1993 habe G. E. Informationen über die Aktion zukommen lassen." Hieraus ergibt sich, dass der Zeuge Ge. (seiner ersten Aussage zufolge) die Information über das Telefonat kurz nach diesem - und somit vor dem Anschlag - erhalten habe. Zwar wird der Zeitpunkt des Gesprächs mit G. nicht ausdrücklich genannt; doch ist nach dem Gesamtzusammenhang der Schilderung ein anderes Verständnis ausgeschlossen.
Demgegenüber hat der Zeuge Ge. in seiner zweiten kommissarischen Vernehmung rund sieben Monate später ausgesagt, "sein Gespräch mit G., bei dem dieser ihn über die Anordnung des Anschlags durch E. unterrichtet habe, habe nach dem 1. April 1993", also nach dem Anschlag, stattgefunden.
Vor diesem Hintergrund ist die nicht näher begründete Wertung des Oberlandesgerichts, die Aussagen seien - im Kerngeschehen - konstant und der Zeuge habe in den beiden Vernehmungen keine voneinander abweichenden Angaben gemacht, rechtlich nicht tragfähig; denn sie steht ihrerseits in einem nicht aufgelösten Widerspruch zu dem von ihm selbst mitgeteilten Beweisergebnis.
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Überzeugungsbildung des Oberlandesgerichts auf dem dargelegten Rechtsfehler beruht; denn andere Beweismittel oder Indizien, die das konkrete Telefonat und damit die Anschlagsanweisung durch den Angeklagten bestätigen, sind nicht gegeben.
Zudem war die Aussage des Zeugen - was das Oberlandesgericht grundsätzlich nicht verkannt hat - aus weiteren Gründen besonders kritisch zu würdigen: Der Zeuge Ge. hat die dem Angeklagten zur Last gelegte Tathandlung, nämlich die Anordnung des Anschlags, nicht selbst wahrgenommen, sondern lediglich über entsprechende Mitteilungen des G. als "Zeuge vom Hörensagen" berichtet (vgl. BGH, Urteile vom 11. August 1998 - 1 StR 306/98, StV 1999, 7; vom 1. August 1962 - 3 StR 28/62, BGHSt 17, 382, 385; Beschluss vom 2. August 1983 - 5 StR 152/83, StV 1983, 403; BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 - 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 292 f.).
Zudem ist der Zeuge nicht in der Hauptverhandlung, sondern lediglich kommissarisch vernommen worden (vgl. BGH, Urteile vom 9. Dezember 1999 - 5 StR 312/99, BGHSt 45, 354, 360 f.; vom 13. April 1983 - 2 StR 733/82, NStZ 1983, 376, 377). Schließlich leistete er nach seiner Festnahme im Jahr 2002 der türkischen Polizei aktive Unterstützung bei deren Verfolgungsmaßnahmen gegenüber der DHKPC, wurde in der Türkei unter Anwendung des "Reuegesetzes" im Jahr 2003 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren statt zu der eigentlich verwirkten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und im Jahr 2007 aus der Haft entlassen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2003 - 1 StR 464/02, BGHSt 48, 161, 168).
HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 95
Bearbeiter: Christian Becker