HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 531
Bearbeiter: Goya Tyszkiewicz
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 434/11, Urteil v. 01.03.2012, HRRS 2012 Nr. 531
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 19. Mai 2011, soweit es die Angeklagte W. betrifft und sie freigesprochen worden ist, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben mit Ausnahme des Freispruchs zu Fall VII. 6 der Urteilsgründe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat die Angeklagte unter Freisprechung im Übrigen wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die zuungunsten der Angeklagten eingelegte, wirksam auf den Freispruch beschränkte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft rügt die Verletzung materiellen Rechts. Sie ist überwiegend begründet.
1. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage hatte die Staatsanwaltschaft der Angeklagten zur Last gelegt, teilweise unter Beteiligung zweier früherer Mitangeklagter Waren aus Einkaufsmärkten in der Absicht weggenommen zu haben, sie sich oder den Mitangeklagten rechtswidrig zuzueignen.
2. Das Landgericht hat festgestellt, die Angeklagte habe in einem Fall (II. 9 [Tat 1] der Urteilsgründe), in dem sie Tabakwaren im Wert von mehreren hundert Euro in einem Rucksack ohne Bezahlung aus einem Einkaufsmarkt gebracht und im Kofferraum ihres Pkw verstaut hatte, mit Zueignungsabsicht gehandelt und sich des Diebstahls schuldig gemacht. In weiteren neun Fällen (VII. 1 bis 5, 7, 8 und 10 sowie II. 9 [Tat 2] der Urteilsgründe) hat es die Angeklagte vom Vorwurf des Diebstahls freigesprochen, weil es ihre Einlassung, sie habe die Waren allein in dem Bestreben weggenommen, entdeckt zu werden, als unwiderlegt erachtet hat. Es hat sich dabei zum einen auf die Ausführungen des gehörten psychiatrischen Sachverständigen gestützt, wonach aufgrund der bei der Angeklagten diagnostizierten organischen Persönlichkeitsstörung die von ihr behauptete Motivation ihrer Wegnahmehandlungen schlüssig sei, auch wenn andere Beweggründe nicht auszuschließen seien. Zum anderen hat das Landgericht als Indiz für die eventuelle Richtigkeit der Einlassung der Angeklagten Menge und Umfang des Stehlguts sowie ihr Gebaren beim Verlassen einzelner Geschäfte gewertet. In einem Fall (VII. 6 der Urteilsgründe) ist es zu einem Freispruch gelangt, weil es sich von einer Beteiligung der Angeklagten an der Tat nicht zu überzeugen vermocht hat.
1. Der Freispruch der Angeklagten in den Fällen VII. 1 bis 5, 7, 8 und 10 sowie im Fall II. 9 (Tat 2) der Urteilsgründe hat keinen Bestand; denn die der Überzeugungsbildung des Landgerichts insoweit zugrunde liegende Beweiswürdigung erweist sich in mehrfacher Hinsicht als lücken- und damit als rechtsfehlerhaft. Im Einzelnen:
a) Das Landgericht hat sich zunächst mit wesentlichen, die Angeklagte hinsichtlich der subjektiven Tatseite belastenden Umständen nicht auseinandergesetzt.
aa) Es hat Äußerungen der Angeklagten direkt nach ihrer Entdeckung nur dann Gewicht beigemessen, sofern sie die eine Zueignungsabsicht leugnende Einlassung in der Hauptverhandlung stützten (Vorhalte an sie aufgreifende Ladendetektive, wo sie denn blieben, sie habe schon auf sie gewartet), ohne hinreichend auf in die gegenteilige Richtung weisende Bemerkungen einzugehen.
So hat es im Fall VII. 8 der Urteilsgründe, in dem die Angeklagte nach Verlassen des Geschäfts und Ansprache durch einen Ladendetektiv die Wegnahme von zwei in ihrem Rucksack versteckten Duschbrauseelementen und vier offen getragener Lasermessgeräte nicht zugab, sondern mitteilte, sie warte auf einen Bekannten, der über eine EC-Karte verfüge, nicht erörtert, ob dieses die Tat verschleiernde Verhalten ihre Behauptung widerlegen könne, sie habe die Waren allein deshalb an sich genommen, um entdeckt zu werden. Dazu hätte das Landgericht umso mehr Anlass gehabt, als es in den Fällen VII. 2 und II. 9 (Tat 2) der Urteilsgründe die Zueignungsabsicht unter anderem deshalb verneint hat, weil die Angeklagte gegenüber dem sie zur Rede stellenden Ladenpersonal sogleich ihren Unwillen darüber geäußert habe, erst so spät auf die Mitnahme von Waren ohne Bezahlung angesprochen worden zu sein, und damit ein in einem wesentlichen Punkt abweichendes Nachtatverhalten als bedeutsames Indiz für das Fehlen dieses subjektiven Tatbestandsmerkmals herangezogen hat.
Auch im Fall VII. 10 der Urteilsgründe, in dem Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Angeklagte das Stehlgut im Geschäft versteckte, nachdem sie bemerkt hatte, dass sie beobachtet worden war, und ihr Verhalten vor Ort mit ihren wechselnden Absichten zum Kauf der Kleidungsstücke und erst in der Hauptverhandlung mit ihrem Wunsch nach Entdeckung erklärte, hat sich das Landgericht mit der Überlegung begnügt, die Angeklagte habe ihre wahre Motivation ursprünglich nicht offengelegt, weil sie habe befürchten müssen, ihre Darstellung werde ohne Kenntnis "ihrer Vorgeschichte und ihres Krankheitsbildes als Schutzbehauptung zurückgewiesen" werden. Mit der nahe liegenden Möglichkeit, die Angeklagte habe unmittelbar nach der Tat spontan und ohne entsprechende Erwägungen einen Vorwand gesucht, um Rückschlüsse auf ihre Zueignungsabsicht zu verhindern, hat es sich nicht befasst, was vor dem Hintergrund von Verschleierungshandlungen am Tatort und dem Widerspruch zu ihren früheren "krankheitsbezogenen" Äußerungen in den Fällen VII. 2 und II. 9 (Tat 2) der Urteilsgründe indessen geboten gewesen wäre.
bb) Auch sonst ist das Landgericht auf die Angeklagte belastende Umstände nicht wie geboten eingegangen. So war der Wert der in den Fällen VII. 1, 4 und 7 der Urteilsgründe in ihrem Rucksack versteckten Tabakwaren zum Teil deutlich geringer als im Fall II. 9 (Tat 1) der Urteilsgründe, in dem das Landgericht zu einer Verurteilung gelangt ist; sein Verweis auf die große Menge des Stehlguts als Indiz gegen die Zueignungsabsicht in diesen Fällen ist daher nicht nachvollziehbar. In den Fällen VII. 1 bis 5, 7 und 8 sowie II. 9 (Tat 2) der Urteilsgründe brachte die Angeklagte alltägliche Ge- und Verbrauchsgegenstände an sich, die zu Geld zu machen keine besonderen Schwierigkeiten verursacht hätte. Im Fall VII. 10 der Urteilsgründe bezog sich die Tat auf mindestens ein Kleidungsstück, das zuvor durch den Ehemann bzw. einen Bekannten der Angeklagten - beides frühere Mitangeklagte - anprobiert worden war. Deshalb hätte sich das Landgericht damit befassen müssen, ob die Angeklagte, was für ihre Zueignungsabsicht spräche, ein sachliches Interesse an den von ihr weggenommenen Sachen hatte.
b) Des Weiteren hat sich das Landgericht nicht mit einer nach den Urteilsgründen in Betracht kommenden alternativen Sachverhaltsgestaltung befasst, bei der sich die Angeklagte selbst dann strafbar gemacht hätte, wenn sie die jeweiligen Waren zunächst ohne Zueignungsabsicht an sich genommen haben sollte. Nach den getroffenen Feststellungen zu den Fällen VII. 1 bis 5, 7 und 8 der Urteilsgründe, deren Darstellung im Urteil sich auf eine Bezugnahme (UA S. 20, 23) auf den vorher mitgeteilten Anklagesatz (UA S. 17 bis 19) beschränkt, hatte die Angeklagte den jeweiligen Einkaufsmarkt mit den unbezahlten Waren bereits verlassen. Zwar geht das Landgericht an anderer Stelle davon aus, die Angeklagte sei in all diesen Fällen "bereits nach dem Verlassen des Kassenbereichs gestellt" worden (UA S. 21). Abgesehen davon, dass die Annahme eines solchen Tatablaufs zumindest nicht in allen Fällen von dem insoweit mitgeteilten Beweisergebnis (UA S. 20/21, 23/24) getragen wird, liegen damit zumindest widersprüchliche Tatfeststellungen vor. Für die revisionsrechtliche Prüfung hat der Senat daher jedenfalls auch die Variante in den Blick zu nehmen, dass die Angeklagte den jeweiligen Einkaufsmarkt mit den unbezahlten Waren bereits verlassen hatte.
Für diese Konstellation musste sich das Landgericht indessen mit der Frage befassen, ob sich nicht jedenfalls mit dem Verlassen des Marktes ein Zueignungswille der Angeklagten realisierte und damit deren Strafbarkeit wegen (versuchten) Diebstahls oder zumindest wegen (versuchter) Unterschlagung (§ 246 Abs. 1 und 3 StGB) begründet wurde. Denn es kam durchaus in Betracht, dass die Angeklagte aufgrund ihrer Erkrankung die Waren zunächst zwar in dem vorrangigen Bestreben an sich genommen haben mochte, sich durch das Entdecktwerden seelische Entspannung zu verschaffen, und damit zu diesem Zeitpunkt ohne die erforderliche Absicht der Zueignung handelte, indessen im Falle der Nichtentdeckung die Waren für sich behalten wollte und auch behielt. Hierfür spricht insbesondere, dass die Angeklagte jedenfalls keine augenfälligen Bemühungen unternahm, ihre Entdeckung durch das Ladenpersonal zu bewirken, und auch keine Umstände festgestellt sind, die darauf hindeuten, die Angeklagte habe nach Verlassen der Märkte die Waren außerhalb zurücklassen wollen, damit sie wieder zurückgeführt werden konnten.
Die im Ausgangspunkt zutreffende Erwägung des Landgerichts, der Täter, der fremde bewegliche Sachen wegnehme, um sodann gestellt zu werden und sie sogleich wieder an den Eigentümer zurückgelangen zu lassen, handele ohne die für einen vollendeten oder versuchten Diebstahl erforderliche Zueignungsabsicht (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1968 - 4 StR 398/68, GA 1969, 306, 307; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 242 Rn. 41 a.E.), greift daher zu kurz. Es hätte sich vielmehr auch mit der Möglichkeit einer späteren Realisierung der Zueignungsabsicht der Angeklagten auseinandersetzen müssen. Diese konnte im Falle noch nicht vollendeter Wegnahme der Waren im Zeitpunkt des Verlassens des jeweiligen Marktes (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Juni 2008 - 3 StR 182/08, BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 12) zur Strafbarkeit der Angeklagten wegen (versuchten) Diebstahls führen. War die Wegnahme bereits vollendet, so konnte sich durch das Verlassen des Marktes mit den unbezahlten Waren der Zueignungswille der Angeklagten manifestieren, womit eine Strafbarkeit wegen (versuchter) Unterschlagung in Betracht kam.
c) Die dargelegten Rechtsfehler in der Beweiswürdigung führen zu einer Aufhebung des Freispruchs mit den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) in sämtlichen unter 1. bezeichneten Fällen, weil nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht aufgrund einer Gesamtschau der von ihm unzureichend berücksichtigten Umstände zu einer Verurteilung der Angeklagten gelangt wäre.
2. Soweit sich die Revision gegen den Freispruch im Fall VII. 6 der Urteilsgründe wendet, liegt dagegen weder ein durchgreifender Darstellungsmangel noch ein aus den Urteilsgründen ersichtlicher Fehler in der Beweiswürdigung vor, die allein Grundlage der rechtlichen Überprüfung durch das Revisionsgericht aufgrund der erhobenen Sachrüge sind (BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 - 3 StR 317/10, NStZ-RR 2011, 88, 89).
a) Das Landgericht hat im Anschluss an die Schilderung des Anklagevorwurfs im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, es habe sich zwar davon überzeugen können, die von der Anklage als gestohlen bezeichneten Sachen hätten sich in dem Pkw der Angeklagten befunden. Es sei aber mangels weiterer Beweismittel nicht "mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit" zu der Feststellung gelangt, die die Tat bestreitende Angeklagte sei "an einer Entwendung dieser Waren beteiligt" gewesen oder habe "Kenntnis von der Begehung einer solchen Tat durch Dritte" gehabt, zumal Zeugen, die die Angeklagte bei der Tat beobachtet hätten, nicht zur Verfügung gestanden hätten und weitere Umstände, die für sich genommen oder in einer Gesamtschau eine Täterschaft der Angeklagten mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit belegten, nicht vorlägen.
b) Diese Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Überprüfung stand. Nach den Urteilsgründen ist davon auszugehen, dass sämtliche Beweiserhebungen, die das Landgericht zum Tatvorwurf versucht hat, keine Erkenntnisse erbracht haben. Dies trägt den Freispruch in materiell-rechtlicher Hinsicht. Insbesondere kann bei dieser Beweislage nicht beanstandet werden, das Landgericht habe fehlerhaft den für erwiesen erachteten Sachverhalt nicht dargestellt, um erst daran anschließend darzutun, weswegen der Angeklagten die für eine Verurteilung erforderlichen weiteren Tatsachen nicht nachgewiesen werden konnten; denn hierfür ist von vorneherein kein Raum, wenn sich nach den Urteilsgründen keinerlei Beweisertrag ergeben hat. Eine Überprüfung des Urteils daraufhin, ob das Landgericht weitere mögliche Beweise zur Erforschung des Sachverhalts unter Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO nicht erhoben oder erhobene Beweise nicht in seine Würdigung einbezogen und daher zu seiner Überzeugungsbildung den Inbegriff der Hauptverhandlung nicht ausgeschöpft hat (§ 261 StPO), käme nur auf eine entsprechende Verfahrensrüge in Betracht, die die Staatsanwaltschaft indessen nicht erhoben hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 531
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2012, 207
Bearbeiter: Goya Tyszkiewicz