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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 191

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 398/11, Beschluss v. 06.12.2011, HRRS 2012 Nr. 191


BGH 3 StR 398/11 - Beschluss vom 6. Dezember 2011 (LG Mönchengladbach)

Tötungsvorsatz (Beweiswürdigung; Kenntnis der Gefährlichkeit; Schluss auf das voluntative Element; Würdigung einer emotionalen Erregung; Spontantaten).

§ 212 StGB; § 15 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die für die Annahme des Tötungsvorsatzes notwendige Kenntnis des Angeklagten von der Lebensgefährlichkeit seines Angriffs kann nicht damit begründet werden, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten im Sinne der §§ 20, 21 StGB zur Tatzeit unbeeinträchtigt war.

2. Insbesondere bei spontanen, unüberlegten und in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus dem Wissen um den möglichen Tod des Opfers nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten auf das voluntative Vorsatzelement geschlossen werden. Eine durch Provokationen des Geschädigten bewirkte "emotionale Erregung" des Angeklagten darf deshalb nicht lediglich beiläufig bei der Erörterung erheblich verminderter Schuldfähigkeit erwähnt werden.

3. Das Erschrecken des Angeklagten über seine Tat zwingt keinesfalls zu dem Schluss, es handele sich lediglich um Reue nach der Tat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 22. Juni 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte wegen Totschlags verurteilt worden ist;

b) im Strafausspruch sowie hinsichtlich der Einziehungsanordnung.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags sowie wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt und das sichergestellte Tatmesser eingezogen. Die auf sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.

Während der Schuldspruch wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung rechtlicher Nachprüfung standhält (§ 349 Abs. 2 StPO), müssen die Verurteilung wegen Totschlags und damit auch die einheitlich verhängte Jugendstrafe aufgehoben werden, weil das Landgericht den Tötungsvorsatz nicht rechtsfehlerfrei belegt hat.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der Angeklagte und der später getötete G. im Kreis von Gleichaltrigen nachts vor einer Diskothek aufeinander. Beide standen unter dem Einfluss zuvor genossenen Alkohols. G. begann aus nicht aufklärbarem Grund damit, den Angeklagten zu beschimpfen, schubste ihn und forderte ihn zu einer körperlichen Auseinandersetzung heraus. Der Angeklagte hatte indes daran kein Interesse und schickte sich an, mit seinen Begleitern den Ort zu verlassen. G. ging gleichwohl erneut auf ihn zu und schlug ihm mit der Hand oder der Faust hart ins Gesicht. Der Angeklagte, der glaubte, diese Provokation nicht mehr untätig hinnehmen zu können, ohne vor seinen Bekannten das Gesicht zu verlieren, zog ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von acht Zentimetern aus der Jackentasche und ging auf G. zu. Um den Streit zu schlichten, stellte sich nunmehr der Zeuge R. zwischen die Kontrahenten. Er breitete, mit dem Rücken zu G. und mit der Brust zum Angeklagten gewandt, seine beiden Arme aus und sprach beruhigend auf letzteren ein, wobei ihn G. hin und wieder von hinten schubste. Während der Zeuge "seine Schlichtungsversuche noch fortsetzte, stach der Angeklagte mit seinem Klappmesser unter der linken Achselhöhle des Zeugen hindurch in einem Bogen in Richtung des Oberkörpers des Geschädigten. Dabei erkannte er die Möglichkeit, dass er dem Geschädigten durch diesen Stich tödliche Verletzungen zufügen könnte. Diese Möglichkeit nahm er billigend in Kauf". Der Stich führte beim Geschädigten zu einer Verletzung des Herzens, an der dieser, nachdem er zunächst noch hatte fliehen können und dabei aber alsbald zusammengebrochen war, am nächsten Morgen im Krankenhaus verstarb. Der Angeklagte berichtete sichtlich geschockt und teilweise unter Tränen in der Nacht seiner Freundin und einem Bekannten davon, dass er glaube, jemanden umgebracht zu haben. Als er am Morgen erfuhr, dass G. gestorben war, stellte er sich der Polizei.

2. Der Angeklagte hat einen Tötungsvorsatz bestritten und sich dahin eingelassen, er habe sein Messer nur vor dem Körper geschwenkt, um den Geschädigten und die anderen Anwesenden von sich fern zu halten. Diese Einlassung hat das Landgericht widerlegt aufgrund der für glaubhaft erachteten Angaben mehrerer Zeugen, der Angeklagte habe gezielt nach seinem Opfer gestochen. Seine Überzeugung vom bedingten Tötungsvorsatz hat das Landgericht wie folgt begründet: Der Angeklagte habe gezielt gestochen und so heftig, dass die Messerklinge das Herz erreicht habe. Dafür, dass dem Angeklagten die mit einem solchen Stich verbundene Gefahr nicht bewusst gewesen sein könnte, gebe es keine Anhaltspunkte. Der Angeklagte sei durchschnittlich intelligent und bei der Tat in seiner Einsichtsfähigkeit nicht erheblich beschränkt gewesen. Das Nachtatverhalten spreche nicht gegen einen bedingten Tötungsvorsatz; es rechtfertige "nur" die Annahme, dass der Angeklagte seine Tat im Nachhinein bereue.

3. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie beruht zum Wissenselement auf einem fehlerhaften Maßstab sowie im Übrigen auf einer unzureichenden Würdigung der festgestellten Tatumstände.

Soweit das Landgericht die für die Annahme des Tötungsvorsatzes notwendige Kenntnis des Angeklagten von der Lebensgefährlichkeit seines Angriffs damit begründet hat, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten im Sinne der §§ 20, 21 StGB zur Tatzeit unbeeinträchtigt war, hat es einen fehlerhaften Maßstab angelegt. Die Fähigkeit zu erkennen, dass ein Mensch nicht getötet oder verletzt werden darf, ist etwas anderes, weiter verbreitet und von situativen Umständen in geringerem Maße beeinträchtigt als die Fähigkeit zu erkennen, dass eine bestimmte Handlung für das Opfer lebensgefährlich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2011 - 3 StR 312/11 und vom 15. November 2011 - 3 StR 348/11).

Darüber hinaus hat das Landgericht bei seiner Entscheidung den sowohl für das Wissens- als auch das Willenselement des bedingten Vorsatzes erheblichen Umstand nicht gewürdigt, dass die Sicht des Angeklagten auf seinen Kontrahenten durch den mit ausgebreiteten Armen vor ihm stehenden Zeugen eingeschränkt war. Aufgrund der beschränkten Sicht, des Körpers des vor ihm stehenden Zeugen R. sowie der durch das Schubsen des Zeugen durch den Geschädigten bewirkten Dynamik des Geschehens war die Möglichkeit eines gezielten Stiches in die Herzregion indes deutlich verringert. Entsprechend musste der Angeklagte das Messer bogenförmig um den Zeugen R. herumführen. Dem Umstand, dass der Stich des Angeklagten das Opfer am Herzen verletzt hat, kann deshalb nicht dieselbe Bedeutung beigemessen werden, die einem Stich ins Herzen eines unmittelbar vor dem Täter stehenden Opfers zukommt.

Des Weiteren hat das Landgericht zwar dargelegt, dass insbesondere bei spontanen, unüberlegten und in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen aus dem Wissen um den möglichen Tod des Opfers nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten auf das voluntative Vorsatzelement geschlossen werden kann. Gleichwohl hat es die durch die Provokationen des Geschädigten bewirkte "emotionale Erregung" des Angeklagten lediglich beiläufig bei der Erörterung erheblich verminderter Schuldfähigkeit erwähnt, bei der Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes dagegen nicht in seine Überlegungen miteinbezogen.

Zuletzt gibt die Würdigung des Nachtatverhaltens des Angeklagten Anlass zu rechtlichem Bedenken. Das Erschrecken des Angeklagten über seine Tat zwingt keinesfalls zu dem Schluss, es handele sich lediglich um Reue nach der Tat. Sollte es sich dabei nicht nur um eine fehlerhafte Formulierung handeln, wäre das Landgericht hiervon aber ausgegangen, soweit es dargelegt hat, dieses Verhalten rechtfertige "nur" diese Annahme.

4. Über den Vorwurf des Totschlags muss deshalb erneut verhandelt und entschieden werden. Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht die Aufhebung der einheitlichen Jugendstrafe sowie der Einziehungsanordnung nach sich.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 191

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 384

Bearbeiter: Ulf Buermeyer