HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 329
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, StB 21/10, Beschluss v. 07.12.2010, HRRS 2011 Nr. 329
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 17. Juni 2010 wird zurückgewiesen.
Der Betroffene wurde am 17. Oktober 2009 in Leipzig in Gewahrsam genommen. Mit Beschluss vom selben Tage ordnete das Amtsgericht Leipzig nach § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 7, 8 SächsPolG Polizeigewahrsam bis längstens 18. Oktober 2009, 8.00 Uhr, an. Der Betroffene wurde noch am 17. Oktober 2009 entlassen. Seine Beschwerde gegen die amtsgerichtliche Entscheidung hat das Landgericht Leipzig mit Beschluss vom 17. Juni 2010 zurückgewiesen. Der Betroffene will hiergegen Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof erheben und beantragt, ihm hierfür Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen.
Der Antrag dringt nicht durch. Eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nach den allein in Betracht kommenden §§ 70 ff. des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) hat keine Aussicht auf Erfolg; denn diese Vorschriften finden hier keine Anwendung. Das beabsichtigte Rechtsmittel ist deshalb nicht statthaft. Im Einzelnen:
1. Die §§ 70 ff. FamFG gelten als im Allgemeinen Teil dieses Gesetzes enthaltene Vorschriften zunächst für die in den weiteren Büchern des FamFG näher geregelten Verfahren und für alle weiteren Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, soweit diese durch Bundesgesetz den Gerichten zugewiesen sind (§ 1 FamFG). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Es handelt sich insbesondere nicht um eine Freiheitsentziehungssache nach den §§ 415 ff. FamFG. Freiheitsentziehungssachen in diesem Sinne sind Verfahren, die eine aufgrund von Bundesrecht angeordnete Freiheitsentziehung betreffen, soweit das Verfahren bundesrechtlich nicht abweichend geregelt ist (§ 415 Abs. 1 FamFG). Rechtsgrundlage der Maßnahme gegen den Betroffenen ist jedoch § 22 SächsPolG und damit eine landesgesetzliche Bestimmung.
2. Die §§ 70 ff. FamFG finden auch nicht aufgrund einer entsprechenden Regelung in den maßgebenden landesgesetzlichen Vorschriften Anwendung. Will der Landesgesetzgeber bestimmen, dass auf das gerichtliche Verfahren der öffentlichrechtlichen Streitigkeit über eine polizeirechtliche Freiheitsentziehung, das er in Anwendung des § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO den Amtsgerichten erstinstanzlich übertragen hat, die Verfahrensvorschriften des FamFG Anwendung finden sollen, so bedarf es einer entsprechenden Verweisung auf dieses Gesetz (BTDrucks. 16/6308 S. 291; Heinze in: Bork/Jacoby/Schwab, FamFG, § 415 Rn. 2). Eine derartige Regelung ist § 22 SächsPolG nicht zu entnehmen.
§ 22 Abs. 8 Satz 2 SächsPolG in der bis zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung gültigen Fassung ordnet vielmehr an, dass sich das Verfahren nach den Vorschriften des zum 1. September 2009 außer Kraft getretenen Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 29. Juni 1956 (FEVG) richtet. Dieses trifft in den §§ 4 ff. FEVG Bestimmungen über das Verfahren und ordnet nach § 3 FEVG die ergänzende Geltung des ebenfalls seit dem 1. September 2009 nicht mehr gültigen Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) an. Der dort geregelte Instanzenzug unterscheidet sich wesentlich von den diesbezüglichen neuen Regelungen des FamFG; er sieht insbesondere eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nicht vor. Nach § 27 FGG ist gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts vielmehr das Rechtsmittel der weiteren Beschwerde zulässig, über das nach § 28 Abs. 1 FGG allerdings nicht der Bundesgerichtshof, sondern das Oberlandesgericht zu entscheiden hat. Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs kann sich nicht aufgrund eines weiteren Rechtsmittels durch den Betroffenen, sondern allenfalls nach einer Vorlage durch das Oberlandesgericht gemäß § 28 Abs. 2 FGG ergeben, wenn dieses von der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs oder derjenigen eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will (sog. Divergenzvorlage).
Die Untätigkeit des Landesgesetzgebers nach Inkrafttreten des FamFG am 1. September 2009 ist zwar nicht dahin zu interpretieren, dass nunmehr die Grundregel des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO gelten und die Verwaltungsgerichte zur Entscheidung über die Rechtsmittel gegen eine Ingewahrsamnahme nach § 22 SächsPolG zuständig sein sollen. Hiergegen spricht schon § 22 Abs. 8 Satz 1 SächsPolG, der für die Anordnung der Maßnahme ausdrücklich die Zuständigkeit des Amtsgerichts vorsieht.
Die in § 22 Abs. 8 Satz 2 SächsPolG enthaltene Verweisung auf das FEVG kann aber - obwohl der jeweilige Regelungsgehalt des FEVG sowie des FGG nunmehr Gegenstand des FamFG ist - nicht als "dynamische" Verweisung auf das FamFG einschließlich der Regelungen über die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof verstanden bzw. in diesem Sinne "korrigierend" ausgelegt werden (aA Keidel/Budde, FamFG, 16. Aufl., § 415 Rn. 1; Bohnert in Beck OK FamFG § 415 Rn. 4). Einer derartigen Interpretation steht zum einen der eindeutige Wortlaut des § 22 Abs. 8 Satz 2 SächsPolG entgegen. Zum anderen ist der Vorschrift trotz des Zusatzes, wonach das FEVG "in der jeweils geltenden Fassung" Anwendung finden soll, ein Wille des Landesgesetzgebers dahin, dass die Verfahrensvorschriften des nunmehr gültigen FamFG einschließlich der Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof anwendbar sein sollen, jedenfalls nicht in der gebotenen Klarheit zu entnehmen. Dagegen spricht schon, dass der Landesgesetzgeber u.a. auch die Möglichkeit hat, für das Verfahren zwar auf das FamFG zu verweisen, die Vorschriften über die Rechtsbeschwerde aber von der Verweisung auszunehmen mit der Folge, dass der Bundesgerichtshof mit den landesrechtlichen Freiheitsentziehungsverfahren nicht befasst werden kann. Von dieser Gestaltungsmöglichkeit hat etwa der Freistaat Bayern in § 18 Abs. 3 PAG Gebrauch gemacht. Vor diesem Hintergrund verbietet sich ohne ausdrückliche diesbezügliche Änderung des § 22 Abs. 8 SächsPolG die Annahme, der Wille des sächsischen Landesgesetzgebers gehe dahin, im Gegensatz zur früheren Rechtslage den Instanzenzug wesentlich umzugestalten und das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof zuzulassen. Eine derartig grundlegende Änderung im Vergleich zur früheren Rechtslage bedarf vielmehr einer ausdrücklichen, an die neue bundesrechtliche Gesetzeslage angepassten Bestimmung.
Nach alldem muss es hier bei der in § 22 Abs. 8 Satz 2 SächsPolG vorgesehenen, gesetzestechnisch möglichen Fortgeltung der Verfahrensvorschriften des FEVG bzw. FGG verbleiben.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 329
Externe Fundstellen: NJW 2011, 690; NStZ-RR 2011, 154
Bearbeiter: Ulf Buermeyer