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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 892

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 76/10, Beschluss v. 20.07.2010, HRRS 2010 Nr. 892


BGH 3 StR 76/10 - Beschluss vom 20. Juli 2010 (LG Wuppertal)

BGHR; Selbstleseverfahren (Inbegriff der Hauptverhandlung; Bedeutung des Protokollvermerks; Beweiskraft allein hinsichtlich der Feststellung des Vorsitzenden).

§ 261 StPO; § 249 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zum Umfang der Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO. (BGHR)

2. Der exakte Wortlaut eines Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang, denn der Vermerk beweist nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat. (Bearbeiter)

3. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. (Bearbeiter)

4. Der Senat lässt ausdrücklich offen, wie angesichts der fehlenden Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO für seine inhaltliche Richtigkeit eine Rüge zu behandeln wäre, entgegen der protokollierten Feststellung des Vorsitzenden hätten die Richter oder Schöffen vom Wortlaut der fraglichen Schriftstücke nicht Kenntnis genommen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 5. November 2009 werden verworfen.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten M. K. wegen Betruges in drei Fällen unter Einbeziehung weiterer Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen; den Angeklagten J. K. hat es wegen Betruges in vier Fällen und wegen versuchten Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg, da die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

Näherer Erörterung bedarf nur die von beiden Angeklagten erhobene Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Im Verlauf der Hauptverhandlung hat der Strafkammervorsitzende bezüglich mehrerer Urkunden das Selbstleseverfahren angeordnet. Betreffend ein Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth hat er am darauf folgenden Hauptverhandlungstermin zu Protokoll die Feststellung getroffen, dass das Selbstleseverfahren beendet ist, die Mitglieder der Kammer "von dem Urteil" Kenntnis genommen haben und die übrigen Prozessbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Betreffend eine Reihe von Urkunden zu Geldbewegungen sowie zu Haftabwesenheitszeiten des Angeklagten M. K. hat der Vorsitzende zu Protokoll festgestellt, dass die Kammer "von den Urkunden", für die in der letzten Hauptverhandlung das Selbstleseverfahren angeordnet worden ist, Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hierzu hatten. Hinsichtlich mehrerer amtsgerichtlicher Urteile hat er zu Protokoll festgestellt, dass das Selbstleseverfahren beendet ist und die Kammer "von den Urteilen" Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hatten, hiervon Kenntnis zu nehmen.

Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei.

Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzelnen:

Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich von Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus, dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.

Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und die Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und der Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.

Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundenbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.

Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Richter und Schöffen im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KK-Diemer, 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden.

Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbes. gerichtskundiger, außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 273 Rn. 7 mwN).

Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch Richter und Schöffen auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.

Keiner Entscheidung bedarf, wie wegen der fehlenden Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO für seine inhaltliche Richtigkeit eine Rüge zu behandeln wäre, entgegen der protokollierten Feststellung hätten die Richter oder Schöffen tatsächlich gar nicht vom Wortlaut der fraglichen Schriftstücke Kenntnis genommen; denn eine solche Rüge ist hier nicht erhoben.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 892

Externe Fundstellen: NJW 2010, 3382; NStZ 2010, 712

Bearbeiter: Ulf Buermeyer