HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 769
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 277/10, Beschluss v. 03.05.2011, HRRS 2011 Nr. 769
1. Der Antrag des Angeklagten R., ihn wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Kammergerichts in Berlin vom 16. Oktober 2009 in den vorigen Stand wiedereinzusetzen, ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts gegenstandslos.
2. Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen.
3. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Kammergericht in Berlin hat die Angeklagten der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in Tateinheit mit versuchter Brandstiftung und versuchter Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel schuldig gesprochen. Den Angeklagten L. hat es deswegen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt; gegen die Angeklagten R. und H. hat es jeweils eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt. Weiter hat es einen Pkw des Angeklagten H. eingezogen. Mit ihren hiergegen gerichteten Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung materiellen Rechts und beanstanden das Verfahren.
Die Rechtsmittel sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Näherer Erörterung bedarf lediglich die Rüge der Angeklagten, das Kammergericht habe seine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) dadurch verletzt, dass es einen "Hilfsbeweisantrag" auf Vernehmung der sachbearbeitenden Staatsanwältin zu Unrecht abgelehnt habe.
1. Die Rüge beruht auf folgendem Verfahrensgeschehen:
a) Den Angeklagten liegt zur Last, als Mitglieder der "militanten gruppe (mg)" in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli 2007 Brandsätze an drei auf einem Betriebsgelände in Brandenburg/Havel abgestellten Lastkraftwagen der Bundeswehr angebracht und entzündet zu haben, um die Fahrzeuge zu zerstören. Da die Angeklagten bei der Tatausführung bereits unter Observation standen, gelang es den polizeilichen Einsatzkräften, die brennenden Zünder von den Brandsätzen zu entfernen. Die Angeklagten wurden auf der Rückfahrt vom Tatort gegen 2.00 Uhr festgenommen. Die nachfolgende Durchsuchung der Wohnungen der Angeklagten, in erster Linie der des Angeklagten L., führte zur Sicherstellung von Beweismitteln, die, wie das Kammergericht im Urteil darlegt, "ein entscheidendes Gewicht bei dem Nachweis ihrer Mitgliedschaft in der militanten gruppe (mg) hatten".
b) Die Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten L. gestaltete sich wie folgt:
Die beim Generalbundesanwalt mit dem Ermittlungsverfahren befasste Staatsanwältin V. wurde am 31. Juli 2007 gegen 2.30 Uhr durch das Bundeskriminalamt von der Festnahme der Angeklagten in Kenntnis gesetzt. Nach fernmündlicher Rücksprache mit ihrem Referatsleiter, Bundesanwalt B., und ihrem Abteilungsleiter, Bundesanwalt G., ordnete sie um 3.18 Uhr gegenüber der ermittlungsführenden Beamtin des Bundeskriminalamts wegen Gefahr im Verzug die Durchsuchung der Wohnungen der Angeklagten an. Sie stellte ihre Anordnung unter den Vorbehalt, dass die Maßnahmen zeitnah erfolgen können; sollten sie sich wesentlich verzögern, werde eine mündliche Durchsuchungsanordnung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs eingeholt. Gegen 6.40 Uhr teilte das Bundeskriminalamt Staatsanwältin V. mit, sämtliche Polizeikräfte seien nun auf dem Weg zu den Durchsuchungsobjekten. Sie versuchte darauf um 6.55 Uhr, 7.25 Uhr und 8.15 Uhr, fernmündlich den (regulären) Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zu erreichen, was ihr aber nicht gelang. Gegen 7.00 Uhr entschied das Bundeskriminalamt, das Landeskriminalamt Berlin im Wege der Amtshilfe mit der Durchsuchung zu beauftragen, worauf dessen Beamte um 8.05 Uhr die Wohnungstür des Angeklagten L. öffneten und gegen 8.20 Uhr in Vorbereitung der Maßnahme zwei Zeugen hinzuzogen. Zum selben Zeitpunkt erteilte das Bundeskriminalamt indes die Weisung, mit der Durchsuchung bis zum Eintreffen seiner Kräfte zuzuwarten. Die Wohnung wurde deshalb wieder verschlossen. Die Beamten des Bundeskriminalamts trafen schließlich um 10.05 Uhr ein und begannen gegen 10.15 Uhr unter Beteiligung von Beamten des Landeskriminalamts Berlin mit der Durchsuchung. Weitere Versuche, eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu erlangen, wurden nicht unternommen.
c) In der Hauptverhandlung am 26. Februar 2009 widersprachen die Verteidiger der Angeklagten der Verwertung aller Funde aus der Wohnung des Angeklagten L. mit der Begründung, es habe weder ein gerichtlicher Durchsuchungsbeschluss vorgelegen noch Gefahr im Verzug bestanden. Weiter stellte der Verteidiger des Angeklagten R. im Fortsetzungstermin am 14. Oktober 2009 den "Hilfsbeweisantrag", Staatsanwältin V. zu der Beweisbehauptung zu vernehmen, ihr sei bei ihrer Durchsuchungsanordnung gegenüber dem Bundeskriminalamt bekannt gewesen, dass im Geschäftsbereich der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs für die Zeit von 18.00 Uhr bis 7.30 Uhr ein Bereitschaftsdienst eingerichtet ist und die Erreichbarkeit des jeweils zuständigen Bereitschaftsrichters durch einen Anruf bei der Pforte des Bundesgerichtshofs in Erfahrung gebracht werden kann.
Diesen Antrag lehnte das Kammergericht im Urteil mit der Begründung ab, die Durchsuchung der Wohnungen der Angeklagten sei rechtmäßig gewesen. Bei deren Anordnung um 3.18 Uhr habe Gefahr im Verzug bestanden, denn es sei zu erwarten gewesen, dass Dritte von der Festnahme der Angeklagten erfahren und belastendes Material aus den Wohnungen entfernen. Im Übrigen sei ein Beweisverwertungsverbot auch dann nicht anzunehmen, wenn man den Standpunkt vertreten wollte, dass die staatsanwaltschaftliche Durchsuchungsanordnung im Falle des Angeklagten L. beim Eintreffen der Kräfte des Bundeskriminalamts nicht mehr ausgereicht und es statt dessen einer richterlichen Anordnung bedurft hätte.
d) In ihren Revisionsbegründungen rügen die Beschwerdeführer, das Kammergericht habe bei dieser Sachlage die ihm nach § 244 Abs. 2 StPO obliegende Aufklärungspflicht verletzt. Es wäre gehalten gewesen, Staatsanwältin V. zu laden und zu der im "Hilfsbeweisantrag" bezeichneten Beweisbehauptung zu hören. Staatsanwältin V. hätte ausgesagt, dass ihr zum Zeitpunkt der Durchsuchungsanordnung um 3.18 Uhr die Einrichtung eines Nachtbereitschaftsdienstes im Geschäftsbereich der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs und die Erreichbarkeit des Bereitschaftsrichters über die Pforte des Bundesgerichtshofs bekannt gewesen sei. Da weder aus dem Urteil noch aus dem Akteninhalt erkennbar werde, dass die vorherige Einholung einer (mündlichen) Anordnung des Bereitschaftsrichters den Untersuchungszweck gefährdet hätte, hätte das Kammergericht danach eine objektiv willkürliche Umgehung des Richtervorbehalts und somit ein Verwertungsverbot hinsichtlich der bei der Durchsuchung sichergestellten Beweismittel annehmen müssen. Zu der Vernehmung hätte sich das Kammergericht schon aufgrund des "Hilfsbeweisantrags" gedrängt sehen müssen, aber auch aufgrund des in der Hauptverhandlung verlesenen Vermerks von Staatsanwältin V. über den Hergang der Durchsuchung, der zur Frage ihrer Kenntnis von der Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes schweige.
2. Die Rüge bleibt im Ergebnis ohne Erfolg.
a) Die Beschwerdeführer beanstanden nicht, wie ihr Widerspruch vom 26. Februar 2009 erwarten ließ, die Verwertung der bei der Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten L. gewonnenen Erkenntnisse entgegen einem bestehenden Beweisverwertungsverbot. Sie rügen vielmehr ausschließlich eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) dadurch, dass das Kammergericht dem "Hilfsbeweisantrag" auf Vernehmung von Staatsanwältin V. nicht nachgekommen ist und damit rechtsfehlerhaft Ermittlungen zu einem - aus deren Kenntnis von der Einrichtung eines Bereitschaftsdiensts folgenden - Beweisverwertungsverbot unterlassen habe. An diese in den Revisionsschriften deutlich gemachte Umgrenzung des geltend gemachten Verfahrensmangels ist der Senat nach § 344 Abs. 2 StPO gebunden; die in späteren Stellungnahmen der Verteidiger nach Ablauf der Begründungsfrist aufscheinenden Rügeerweiterungen bleiben für das Revisionsverfahren ohne Belang.
Darüber, ob die Ermittlungsbehörden jedenfalls angesichts der ab 8.20 Uhr aufgrund der Weisung des Bundeskriminalamts voraussehbar eingetretenen weiteren erheblichen Zeitverzögerung gehalten gewesen wären, sich nochmals um die Herbeiführung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung zu bemühen, hat der Senat deshalb nicht zu befinden.
Ebenso kommt es für seine Entscheidung nicht darauf an, dass die Vorgesetzten von Staatsanwältin V., denen die Einrichtung eines Nachtbereitschaftsdienstes der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof ausweislich ihrer Stellungnahmen bekannt war, nicht die (fernmündliche) Einholung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung veranlasst, sondern ohne weiteres Gefahr im Verzug angenommen haben, obwohl Umstände, die dafür sprachen, dass bereits hierdurch der Zweck der Durchsuchungen gefährdet gewesen wäre, weder aktenkundig sind noch sonst ersichtlich werden.
Gleichermaßen entziehen sich danach etwaige Organisationsmängel, die im Tätigwerden mit den Verhältnissen nicht vertrauter Behördenvertreter liegen könnten, der weiteren Beurteilung durch den Senat.
b) Zu Recht rügen die Beschwerdeführer allerdings, dass das Kammergericht dadurch, dass es Staatsanwältin V. nicht zu dem bezeichneten Beweisthema gehört hat, seine ihm nach § 244 Abs. 2 StPO obliegende Aufklärungspflicht verletzt hat.
aa) Wie dargelegt sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass allein schon die telefonische Erkundigung nach dem diensthabenden Richter und die anschließende fernmündliche Kontaktaufnahme mit diesem eine solche Verzögerung bedeutet hätte, dass der Durchsuchungserfolg gefährdet gewesen wäre. Die Erwägung des Kammergerichts, es sei zu erwarten gewesen, dass Dritte von der Festnahme der Angeklagten erfahren und belastendes Material aus den Wohnungen entfernen, ist angesichts der hierfür - nach Ablauf von ohnehin schon mehr als einer Stunde - noch benötigten kurzen Zeitspanne nicht plausibel. Dem entspricht es, dass die Ermittlungsbehörden offensichtlich keine Anstrengungen unternommen haben, um die Durchsuchungsanordnung unverzüglich zu vollziehen. Hätte, was nicht fern lag, Staatsanwältin V. von der Einrichtung eines Nachtbereitschaftsdienstes der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof Kenntnis gehabt, so läge in ihrer Entscheidung jedenfalls eine objektiv willkürliche Annahme staatsanwaltschaftlicher Eilkompetenz, die ein Verbot der Verwertung der bei den Durchsuchungen erhobenen Beweise nach sich zöge (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 2009 - 2 BvR 2225/08, NJW 2009, 3225; BGH, Urteil vom 18. April 2007 - 5 StR 546/06, BGHSt 51, 285).
bb) Zwar richten sich Beweiserhebungen, welche die Feststellung von (nur) verfahrensrechtlich erheblichen Tatsachen betreffen, nach den Grundsätzen des Freibeweises. Dies gilt auch dann, wenn die festzustellenden Tatsachen unmittelbar die Urteilsgrundlagen beeinflussen, wie dies bei den tatsächlichen Voraussetzungen von Beweiserhebungs- oder Beweisverwertungsverboten der Fall ist (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 244 Rn. 7). Dass sich der "Hilfsbeweisantrag" des Verteidigers des Angeklagten R. vor diesem Hintergrund lediglich als Anregung darstellt, die das Kammergericht nicht entsprechend den für Beweisanträge geltenden Vorschriften zu bescheiden brauchte, führt jedoch zu keiner anderen Beurteilung, denn die Grundsätze des Freibeweises ändern nichts an der Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO (Meyer-Goßner aaO Rn. 9 mwN). Das Kammergericht hätte deshalb zumindest eine dienstliche Äußerung der Staatsanwältin zu dem bezeichneten Beweisthema einholen müssen.
c) Im Ergebnis erweist sich die Rüge indes als unbegründet; denn das Urteil beruht nicht auf dem Verfahrensverstoß.
aa) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer nötigt der dargelegte Verfahrensfehler nicht zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung. Ob der von der Revision zur Begründung eines Verfahrensverstoßes gehaltene Tatsachenvortrag richtig ist, prüft das Revisionsgericht, soweit nicht § 274 StPO eingreift, im Freibeweis (Meyer-Goßner aaO § 352 Rn. 6). Hätten sich die Beschwerdeführer unmittelbar auf einen Sachverhalt berufen, der ein Beweisverwertungsverbot begründet, so wäre deshalb über die Richtigkeit ihres Vortrags ohne Zweifel im Revisionsverfahren zu befinden gewesen. Vor diesem Hintergrund ist das Revisionsgericht aber auch nicht gehindert, im Rahmen der Beruhensprüfung selbst Ermittlungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbots anzustellen, wenn der Rechtsfehler wie hier zunächst lediglich darin besteht, dass der Tatrichter die gebotene Aufklärung unterlassen hat. Eine Zurückverweisung allein zu dem Zweck, Verfahrenstatsachen zu klären, wäre ein überflüssiger, vom Zweck des Revisionsverfahrens nicht geforderter Umweg.
bb) Der Senat hat deshalb die vom Kammergericht rechtsfehlerhaft unterlassene Beweiserhebung nachgeholt und zu der Beweisbehauptung dienstliche Äußerungen der Staatsanwältin sowie der Bundesanwälte G. und B. eingeholt. Deren Inhalt erbringt jedoch nicht den Beweis, dass Staatsanwältin V. bei ihrer nächtlichen Durchsuchungsanordnung von der Existenz eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes beim Bundesgerichtshof tatsächlich Kenntnis hatte; etwa verbleibende Zweifel wirken nicht zugunsten der Beschwerdeführer (vgl. Meyer-Goßner aaO § 337 Rn. 12).
Wie Staatsanwältin V. darlegt, ist ihr dies heute nicht mehr erinnerlich; jedenfalls sei ihr die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes beim Bundesgerichtshof in der besonderen Situation der für sie überraschenden nächtlichen Befassung mit der Sache nicht ins Bewusstsein getreten. Der Senat sieht keinen Grund, am Wahrheitsgehalt dieser dienstlichen Stellungnahme zu zweifeln. Staatsanwältin V. war an die Behörde des Generalbundesanwalts lediglich als wissenschaftliche Mitarbeiterin abgeordnet und wurde als solche nicht zu den dort bestehenden Nachtbereitschaftsdiensten herangezogen. Bundesanwalt B. geht in seiner Stellungnahme zwar davon aus, dass Gegenstand seines nächtlichen Gesprächs mit Staatsanwältin V. auch die Frage der Einholung einer richterlichen Anordnung war, ist sich dessen aber nicht sicher. Ebenso wenig kann den Stellungnahmen der beiden Dienstvorgesetzten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entnommen werden, dass Staatsanwältin V. vor dem 31. Juli 2007 von Bereitschaftsdienstplänen Kenntnis erlangt hat, wie sie der Bundesgerichtshof dem Generalbundesanwalt regelmäßig zur Verfügung stellt, oder dass sie vor diesem Zeitpunkt in Dienstbesprechungen von der Existenz eines richterlichen Bereitschaftsdienstes erfahren hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 769
Externe Fundstellen: StV 2012, 3
Bearbeiter: Ulf Buermeyer