HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 800
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 246/09, Urteil v. 27.08.2009, HRRS 2010 Nr. 800
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 5. Dezember 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten sowie dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zum Nachteil des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, dass das Landgericht den Angeklagten nicht wegen versuchten Totschlags verurteilt hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts geriet der erheblich alkoholisierte (BAK von maximal 2,5 ‰) Angeklagte in einer Diskothek mit einem anderen Gast in Streit. Als der Nebenkläger mit Blick zum Angeklagten zwischen die Kontrahenten trat, um die Auseinandersetzung zu beenden, drang der Angeklagte auf ihn ein, zog ein Messer und stach damit in Richtung von dessen Kopf. Er traf ihn am Kinn und verursachte dort eine Stichverletzung. Ein Eindringen des Messers in den Hals wurde dadurch verhindert, dass das Messer auf den Kieferknochen traf. Dem Nebenkläger gelang es, dem Angeklagten, der weiterhin auf ihn einstach und ihm noch zwei kleinere Stichwunden an der Hand zufügte, das Messer zu entwinden.
Das Landgericht hat direkten Verletzungsvorsatz angenommen, sich hingegen von einem (auch nur bedingten) Tötungsvorsatz nicht zu überzeugen vermocht. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die generelle Gefährlichkeit von Stichverletzungen im Kopfbereich zwar für einen solchen Vorsatz sprechen könnte; wegen der erheblichen Alkoholisierung des Angeklagten im Tatzeitpunkt, des Fehlens eines (nachvollziehbaren) Tötungsmotivs und der bei der Begehung von Tötungsdelikten generell hohen Hemmschwelle könne die Kammer jedoch nicht ausschließen, dass der Angeklagte auf das Ausbleiben tödlicher Verletzungen vertraut habe.
1. Die Ablehnung des bedingten Tötungsvorsatzes hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls sorgfältig zu prüfen, ob der Täter, der sein gefährliches Handeln durchführt, obwohl er mit der Möglichkeit tödlicher Verletzungen rechnet, den Tod des Opfers billigend in Kauf nimmt, wobei dies bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe liegt. Ferner sind vor allem die konkrete Angriffsweise, die psychische Verfassung des Täters bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in die Beweiswürdigung mit einzubeziehen (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51 m. w. N.).
Diese sorgfältige Prüfung lässt das Landgericht vermissen. Es wird schon nicht erkennbar, ob die Kammer bereits Zweifel daran hatte, dass der Angeklagte den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern liegend erkannte, oder nur daran, dass er ihn billigte oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfand (zur Bedeutung des Wissens- und des Willenselements bei der Prüfung des bedingten Vorsatzes vgl. BGH NStZ-RR 2006, 9 m. w. N.). Soweit die Alkoholisierung des Angeklagten angesprochen wird, könnte dies für Zweifel der Strafkammer auch am Wissenselement sprechen; die Erörterung der Motivlage und der Hemmschwelle könnte sich auf das Willenselement beziehen. Erkannte der Angeklagte jedoch, wozu sich das Urteil nicht verhält, trotz seiner Alkoholisierung die äußerste Gefährlichkeit eines mit einem Messer geführten Stiches in Richtung der für tödliche Verletzungen in hohem Maße anfälligen Kinn- und Halspartie, dann liegt bei der hier gegebenen Tatgestaltung auch die Billigung des Todes durchaus nahe. Denn der Angeklagte "fuchtelte" nicht etwa ziellos mit dem Messer herum und traf dabei (zufällig) mit dessen Spitze das Kinn des Nebenklägers, sondern stach nach den Feststellungen zielgerichtet in Richtung des Kopfes des Nebenklägers.
Soweit das Landgericht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten abstellt, darf diese nicht dahin missverstanden werden, dass durch sie die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als einem gewichtigen, auf einen Tötungsvorsatz hinweisenden Beweisanzeichen in der praktischen Rechtsanwendung in Frage gestellt werden soll und dieser Beweisgrund den Schluss auf einen Tötungsvorsatz in aller Regel nicht tragen kann (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51 m. w. N.).
Hinzu kommt, dass die Erwägung des Landgerichts, für den Angeklagten habe es "keinen Grund" gegeben, den die Auseinandersetzung schlichtenden Nebenkläger zu töten, nicht gegen eine Billigung des Todes spricht und deshalb für die Überzeugungsbildung hinsichtlich eines (lediglich) bedingten Tötungsvorsatzes an Bedeutung verliert. Der für möglich erkannte Erfolg muss den Wünschen des Täters nicht entsprechen (vgl. BGHSt 7, 363, 369). Allenfalls hochgradig interessenwidrige Tatfolgen widerstreiten der Annahme einer Billigung des Erfolges durch einen in der Steuerungsfähigkeit beeinträchtigten, ohnehin überaus unüberlegt handelnden Täter (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51, 61 jew. m. w. N.). Zuletzt lässt das Landgericht außer Betracht, dass der Angeklagte nicht nur einmal, sondern mit dem Messer noch weiter in Richtung des Nebenklägers stach; dies hätte als ein Indiz dafür, dass er nicht auf einen glimpflichen Ausgang vertraute, erörtert werden müssen.
2. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass sich sowohl eine nähere Beschreibung des Tatwerkzeugs als auch eine Darstellung der Taten empfehlen wird, die zu den erheblichen Vorstrafen des Angeklagten wegen zahlreicher Gewaltdelikte geführt haben; letzteres auch mit Blick darauf, dass das Landgericht wegen der nicht ausschließbaren erheblich verminderten Schuldfähigkeit aufgrund des Alkoholkonsums eine Strafrahmenverschiebung vorgenommen und sich dabei nicht damit auseinandergesetzt hat, dass nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei selbstverschuldeter Trunkenheit eine Strafrahmenverschiebung in der Regel nicht mehr in Betracht kommt (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31, 33, 37; einschränkend BGHR aaO 35; BGH NStZ 2008, 619). Für einen Ausnahmefall (vgl. hierzu NStZ-RR 2009, 230) bestehen bislang keine Anhaltspunkte.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 800
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2009, 372
Bearbeiter: Ulf Buermeyer