HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1092
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, StB 14/08, Beschluss v. 08.10.2008, HRRS 2008 Nr. 1092
Die Sache wird an den 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin abgegeben.
Der Generalbundesanwalt führt bzw. führte ein Ermittlungsverfahren gegen sieben Beschuldigte wegen des Verdachts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung ("militante gruppe"). Auf seinen Antrag erließ der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs im Zuge dieses Ermittlungsverfahrens am 18. Mai 2007 einen Postbeschlagnahmebeschluss nach §§ 99, 100 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 StPO, mit dem er für den Zeitraum vom 18. bis 22. Mai 2007 die Beschlagnahme durch bestimmte äußere Merkmale gekennzeichneter Briefe an vier Berliner Zeitungsverlage im Briefzentrum 10 in Berlin-Mitte anordnete. Auf diese Weise sollten etwaige Bekennerschreiben zu einem am 18. Mai 2007 begangenen Brandanschlag vor deren Auslieferung durch die Deutsche Post AG sichergestellt und untersucht werden. Zwei Bekennerschreiben, gerichtet an zwei Zeitungen, auf die die im Beschlagnahmebeschluss genannten äußeren Merkmale zutrafen, wurden auf diese Weise als Beweismittel gesichert. Mit Beschluss vom 31. Mai 2007 bestätigte der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs deren Beschlagnahme. Eine Benachrichtigung der betroffenen Adressaten von der Anordnung und dem Vollzug der Maßnahme wurde aus Ermittlungsgründen zurückgestellt. Die Betroffenen haben hiervon Anfang November 2007 von dritter Seite Kenntnis erlangt.
Ohne dass zwischenzeitlich eine Benachrichtigung nach § 101 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StPO vorgenommen worden war, haben die im Beschluss vom 18. Mai 2007 als mögliche Adressaten der Briefe benannten vier Berliner Zeitungsverlage mit Schriftsatz vom 28. Januar 2008 gegen die Beschlagnahmeanordnung sowie hilfsweise gegen die Art und Weise des Vollzugs der Maßnahme "Beschwerde" eingelegt; den Beschluss vom 31. Mai 2007 haben sie nicht angefochten. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat das Rechtsmittel in einen Antrag nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung der Postbeschlagnahme sowie der Art und Weise ihres Vollzuges umgedeutet. Hinsichtlich der Anordnung der Maßnahme hat er den Antrag mit Beschluss vom 5. Mai 2008 als unbegründet zurückgewiesen. Dem hilfsweise gestellten Antrag hat er entsprochen.
Gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der richterlichen Anordnung der Postbeschlagnahme haben die Betroffenen am 8. Mai 2008 sofortige Beschwerde eingelegt und diese am 3. Juni 2008 begründet. Sie sind der Auffassung, bereits die ermittlungsrichterliche Anordnung der Postbeschlagnahme sei im Hinblick auf die Pressefreiheit einschließlich des Informantenschutzes und des Redaktionsgeheimnisses unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig gewesen.
Unter dem 21. Juni 2008 hat der Generalbundesanwalt gegen drei der sieben Beschuldigten Anklage zum 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin erhoben. Im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklageschrift sind die beschlagnahmten zwei Selbstbezichtigungsschreiben der "militanten gruppe" vom 18. Mai 2007 als Beweismittel benannt. Die Ermittlungsverfahren hinsichtlich der übrigen vier Beschuldigten sind abgetrennt worden und dauern an.
Die Sache ist an den 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin abzugeben. Aufgrund der Anklageerhebung ist die Entscheidungszuständigkeit gemäß § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO auf das Kammergericht übergegangen.
1. Das Verfahren zur Gewährung von nachträglichem Rechtsschutz gegen die Postbeschlagnahme richtet sich nach § 101 Abs. 7 StPO. Diese Vorschrift beinhaltet insoweit eine spezielle Regelung für alle dort benannten heimlichen Ermittlungsmaßnahmen, die die allgemeinen Rechtsbehelfe verdrängt. Der Ermittlungsrichter hat daher die "Beschwerde" zu Recht in den allein statthaften Antrag nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO umgedeutet (§ 300 StPO).
Dass es sich bei § 101 StPO um eine abschließende Sonderregelung handelt, deren Absatz 7 - jedenfalls für bereits beendete Maßnahmen - den Rechtsbehelf der Beschwerde sowie den von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsschutz entsprechend § 98 Abs. 2 StPO verdrängt, ergibt sich neben dem Grundsatz des lex specialis insbesondere aus der Systematik des § 101 StPO. Stünde den Betroffenen neben dem Verfahren des nachträglichen Rechtsschutzes nach § 101 Abs. 7 StPO das bisherige Rechtsbehelfssystem parallel zur Verfügung, so liefe die gesetzliche Bestimmung einer Antragsfrist von zwei Wochen nach Benachrichtigung von der Maßnahme (§ 101 Abs. 7 Satz 2 StPO) sowie die Ausgestaltung des Anschlussrechtsmittels als sofortige Beschwerde (§ 101 Abs. 7 Satz 3 StPO) leer (kritisch aber Glaser/Gedeon GA 2007, 415, 434). Die Befristung des Rechtsbehelfs war vom Gesetzgeber im Hinblick auf die Löschungsregelung in § 101 Abs. 8 StPO jedoch ausdrücklich für notwendig erachtet worden, da ein unbefristeter Rechtsbehelf einer Löschung dauerhaft entgegenstünde (BTDrucks. 16/5846 S. 62 letzter Absatz; kritisch hierzu Puschke/Singelnstein NJW 2008, 113, 116; Klaws StRR 2008, 7, 10; vgl. auch Nöding StraFo 2007, 456, 463).
Insbesondere handelt es sich bei dem Rechtsmittel nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO nicht um einen Auffangtatbestand, der nur dann Anwendung findet, wenn das Rechtsschutzbedürfnis - auch nach den Maßstäben der Rechtssprechung zu dessen Fortbestehen bei schwer wiegenden Grundrechtseingriffen (BVerfG NJW 1997, 2163; BGHSt 44, 265) - mit Erledigung der Maßnahme entfallen ist (aA MeyerGoßner, StPO 51. Aufl. § 101 Rdn. 26; Eisenberg, Beweisrecht der StPO 6. Aufl. Rdn. 2499, 2535; Löffelmann ZIS 2006, 87, 97; ders. in: AnwKStPO § 100d Rdn. 10; unklar ders. ZStW 118 (2006) 358, 368). Denn die Funktion und praktische Bedeutung des § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO erschöpfen sich nicht allein darin, dem Betroffenen den Nachweis eines fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses im Einzelfall zu ersparen (dahingehend Puschke/Singelnstein NJW 2008, 113, 116; Zöller StraFo 2008, 15, 23; Löffelmann aaO), sondern zielen insgesamt darauf ab, ein "harmonisches Gesamtsystem" der strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen (BTDrucks. 16/5846 S. 91) und des Rechtsschutzes gegen diese zu schaffen. Aufgrund des klaren Wortlauts und Zwecks der gesetzlichen Neuregelung können die teilweise missverständlichen Formulierungen in der Gesetzesbegründung, die auf einen nicht fristgebundenen parallelen Rechtsschutz entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO hindeuten (BTDrucks. 16/5846 S. 62), für die Gesetzesauslegung keine maßgebliche Bedeutung gewinnen. Andernfalls wären wiederum erhebliche Abgrenzungsprobleme zu gewärtigen.
2. Mit Erhebung der Anklage durch den Generalbundesanwalt ist die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag nach § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO auf den 1. Strafsenat des Kammergerichts übergegangen.
Nach der - insoweit eindeutigen - Gesetzesbegründung (BTDrucks. 16/5846 S. 63) soll für Anträge auf nachträglichen Rechtsschutz in Fällen, in denen bereits Anklage erhoben wurde, aus Gründen der Zweckmäßigkeit und Effizienz die ausschließliche Entscheidungszuständigkeit des nunmehr mit der Sache befassten erkennenden Gerichts begründet sein. Auch wenn eine Entscheidung des Anordnungs- bzw. Beschwerdegerichts über die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Maßnahme sowie der Art und Weise ihres Vollzuges keine Entscheidung über die Verwertbarkeit der hierdurch gewonnenen Beweismittel beinhaltet (OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 44, 45; Nack in KK 6. Aufl. § 101 Rdn. 35; Nöding StraFo 2007, 456, 463) und für das im Hauptverfahren erkennende Gericht auch nicht präjudizierend ist (BTDrucks. 16/5846 S. 62; Meyer-Goßner aaO § 101 Rdn. 25; Nack aaO § 101 Rdn. 35; Eisenberg aaO Rdn. 2535), soll der Gefahr divergierender Entscheidungen dadurch begegnet werden, dass dieses über den Antrag nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO in der das Verfahren abschließenden Entscheidung einheitlich befindet.
Dies kann, wenn bereits vor Anklageerhebung um nachträglichen Rechtsschutz nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO nachgesucht worden ist, zu einem Übergang der gerichtlichen Entscheidungszuständigkeit auf das erkennende Gericht führen (BTDrucks. 16/5846 S. 63; Meyer-Goßner aaO § 101 Rdn. 25). Der dem § 162 StPO zu entnehmende allgemeine Rechtsgedanke, dass mit Anklageerhebung jedwede Kompetenz des Ermittlungsrichters beendet ist und diese auf das erkennende Gericht übergeht (OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 44, 45; Erb in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 162 Rdn. 52, 52a; Griesbaum in KK 6. Aufl. § 162 Rdn. 20), hat in § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO eine spezialgesetzliche Konkretisierung erfahren.
a) Dem Übergang der Zuständigkeit steht hier nicht entgegen, dass die nachträgliche Überprüfung der Maßnahme nicht von einem Beschuldigten oder Angeklagten, sondern als Drittbetroffenen von den Zeitungsverlagen begehrt wird, an die die Briefe adressiert waren, die der Anordnung nach § 99 StPO unterworfen worden sind. Ausweislich der amtlichen Begründung war im Gesetzgebungsverfahren zunächst erwogen worden, die Zuständigkeitsregelung des § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO auf die Fälle zu beschränken, in denen der Angeklagte um nachträglichen Rechtsschutz ersucht. Aus Gründen einer effizienten Verfahrensweise sowie zur Vermeidung divergierender Entscheidungen zwischen Anordnungs- oder Beschwerdegericht einerseits und erkennendem bzw. Rechtsmittelgericht andererseits soll die durch den Zuständigkeitsübergang bedingte Zuständigkeitskonzentration bei dem erkennenden Gericht jedoch auch für diese Konstellation gelten (BTDrucks. 16/5846 S. 63; ebenso Eisenberg aaO Rdn. 2499; kritisch Nack aaO Rdn. 37).
b) Dass bislang nur gegen drei der ursprünglich sieben Beschuldigten Anklage erhoben worden ist und das Ermittlungsverfahren gegen die weiteren vier Beschuldigten noch andauert, steht dem Übergang der Zuständigkeit auf das erkennende Gericht ebenfalls nicht entgegen. Denn die Gefahr divergierender Entscheidungen stellt sich, sobald das erkennende Gericht - als Vorfrage im Rahmen der eventuellen Prüfung eines Verwertungsverbotes - inzident auch zur Rechtmäßigkeit der Anordnung und Vollziehung der Maßnahme Stellung bezieht. Da die Bekennerschreiben in dem Verfahren vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts als Beweismittel eine Rolle spielen können, hat sich die Gefahr divergierender Entscheidungen hier im Übrigen sogar konkretisiert.
c) Letztlich wird der Zuständigkeitswechsel auch nicht dadurch gehindert, dass der Antrag nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO sowie die sofortige Beschwerde nach § 101 Abs. 7 Satz 3 StPO bereits vor Anklageerhebung angebracht worden waren; denn mit dem Wegfall der Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes ist auch diejenige des Senats als Beschwerdegericht (§ 135 Abs. 2 GVG, § 304 Abs. 5 GVG) entfallen (BGHSt 27, 253). Der dem § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO zugrunde liegende Rechtsgedanke, divergierende Entscheidungen verschiedener Gerichte zu vermeiden, gilt auch in dieser Verfahrenskonstellation (vgl. BGHSt 27, 253, 254). Daher hat nunmehr das erkennende Gericht zu entscheiden (siehe auch OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 44, 45; Meyer-Goßner aaO § 162 Rdn. 19).
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1092
Bearbeiter: Ulf Buermeyer