HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 713
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 154/08, Urteil v. 12.06.2008, HRRS 2008 Nr. 713
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 16. Januar 2008
a) im Schuldspruch dahin berichtigt, dass der Angeklagte der besonders schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig ist;
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung" zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die zum Nachteil des Angeklagten eingelegte, wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet die Verletzung materiellen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I. Das Landgericht ist von der Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB ausgegangen. Es hat die Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB bejaht und die Tat als minder schweren Fall gemäß § 177 Abs. 5 2. Halbs. StGB gewertet. Den sich aus dieser Vorschrift unmittelbar ergebenden Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe hat es gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert und die konkrete Strafe einem Strafrahmen von drei Monaten bis zu sieben Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe entnommen.
Dies begegnet mehreren durchgreifenden sachlichrechtlichen Bedenken:
1. Bereits die Bestimmung der Untergrenze des Strafrahmens an sich ist rechtsfehlerhaft.
Da der Angeklagte das Regelbeispiel des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB verwirklicht hat, wäre die Strafe, wenn die Tat nicht nach § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB qualifiziert wäre, grundsätzlich dem Strafrahmen dieser Vorschrift zu entnehmen gewesen. Dessen Untergrenze von zwei Jahren hat der Tatrichter bei der Annahme eines minder schweren Falles nach § 177 Abs. 5 2. Halbs. StGB zu beachten, wenn die Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB nicht ausnahmsweise aufgrund ganz außergewöhnlich mildernder - im vorliegenden Fall indes vom Landgericht nicht erörterter und in der Sache fern liegender - Umstände entfällt (vgl. BGH NStZ 2004, 32, 33). Andernfalls entstünde ein Wertungswiderspruch, weil derjenige Täter, der neben einem Regelbeispiel einen Qualifikationstatbestand erfüllt, günstiger gestellt wäre als derjenige, der kein Qualifikationsmerkmal verwirklicht (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 5 Strafrahmenwahl 2, 3). Bei einer Milderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB liegt die Untergrenze des Strafrahmens danach nicht wie vom Landgericht angenommen bei drei sondern bei sechs Monaten.
2. Die Ausführungen des Landgerichts zur erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten belegen die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht; sie lassen insbesondere besorgen, die Strafkammer habe die Aufgabenverteilung zwischen Gericht und Sachverständigem verkannt.
Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist, erfolgt in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (vgl. im Einzelnen BGH NStZ-RR 2007, 74; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß NStZ 2005, 57). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen; es ist festzustellen, ob, in welcher Weise und in welchem Umfang sie sich auf dessen Tatverhalten ausgewirkt hat. Hierzu wird der Richter häufig auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen sein und von diesem Ausführungen zur Diagnose einer psychischen Störung, zu deren Schweregrad und deren innerer Beziehung zur Tat erwarten. Gleichwohl handelt es sich bei der Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme eingeschränkter Schuldfähigkeit - insbesondere der auch normativ geprägten Beurteilung der Erheblichkeit der Einschränkung von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit - um Rechtsfragen. Der Tatrichter hat die Darlegungen des Sachverständigen daher zu überprüfen und rechtlich zu bewerten. Außerdem ist er verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen.
Daran mangelt es hier. Das angefochtene Urteil beschränkt sich im Wesentlichen darauf, das Ergebnis des Sachverständigengutachtens zu referieren und sich diesem pauschal anzuschließen. Die Urteilsgründe enthalten schon keine Ausführungen dazu, welches Eingangsmerkmal des § 20 StGB die Strafkammer als gegeben ansieht. Die psychiatrische Diagnose eines Störungsbildes ist jedoch nicht mit einem solchen Merkmal gleichzusetzen. Dies gilt insbesondere, wenn der Befund wie im vorliegenden Fall auf eine "emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus" lautet; denn dieses Krankheitsbild lässt für sich genommen eine Aussage über die Schuldfähigkeit des Täters nicht zu (vgl. etwa BGHSt 42, 385, 388; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 36; Fischer, StGB 55. Aufl. § 20 Rdn. 41 m. w. N.). Für die sich an die Subsumtion unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB anschließende Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB erheblich eingeschränkt ist, lassen sich den Urteilsgründen ebenfalls keine eigenen Erwägungen der Strafkammer entnehmen; auch solche wären erforderlich gewesen (vgl. BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 40).
Die Strafe muss daher neu zugemessen werden.
II. Der Senat hat den Tenor des landgerichtlichen Urteils den Urteilsgründen entsprechend dahin neu gefasst, dass der Angeklagte der besonders schweren Vergewaltigung schuldig ist (vgl. BGHR StPO § 260 Abs. 4 Satz 1 Urteilsformel 4). Dieser bloßen Berichtigung eines offensichtlichen Fassungsversehens steht die aufgrund der Beschränkung der Revision auf den Strafausspruch eingetretene Rechtskraft des Schuldspruchs nicht entgegen (vgl. Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 354 Rdn. 47; Schoreit in KK 5. Aufl. § 260 Rdn. 14).
III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Zwar ist ein minder schwerer Fall nach § 177 Abs. 5 StGB auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Täter den Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 4 StGB und ein Regelbeispiel nach § 177 Abs. 2 Satz 2 StGB verwirklicht (vgl. BGH NStZ 2004, 32, 33). Jedoch ist bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung, ob das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der gewöhnlich vorhandenen Fälle so sehr abweicht, dass die Anwendung des milderen Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint, im vorliegenden Fall über die vom Landgericht herangezogenen Umstände hinaus auch zu würdigen, dass der Angeklagte mit der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB einen weiteren Straftatbestand verwirklicht hat. Hierauf ist bei der Zumessung der konkreten Strafe ebenfalls Bedacht zu nehmen.
Stellt der Tatrichter zur Begründung eines minder schweren Falles und bei der konkreten Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten auf den "Beziehungshintergrund" der Tat und darauf ab, dass die bei dieser durchgeführten Sexualpraktiken in der Beziehung zu der Geschädigten üblich gewesen seien, ist dies jedenfalls dann bedenklich, wenn die Tat im Wesentlichen Ausdruck des Unwillens des Angeklagten war, nach der Beendigung der Beziehung durch die Geschädigte "alte Rechte" aufzugeben, oder einen bestrafenden Charakter hatte (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 19; BGH NStZ 2000, 254; Fischer aaO § 177 Rdn. 91 m. w. N.). Beide Alternativen liegen nach den Feststellungen nicht fern.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 713
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2008, 338
Bearbeiter: Ulf Buermeyer